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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Im Flur des oberen Stockes herrschte schon tiefe Dämmerung. Die Blätter des Epheus, der die Wände übersponnen hatte, hingen wie kleine, schwarze Schatten an der weißen Mauer und an den Stangen der schwachen Hirschgeweihe, welche hier im Flur ihren Platz gefunden hatten, weil Purtscheller sie nicht der Ehre würdig hielt, in seiner „guten Stube“ zu prangen.

Frau Karlin’ durchschritt das große Wohnzimmer, und ohne in der Schlafstube Licht zu machen, entkleidete sie unter zärtlichem Geplauder das Kind und wusch ihm das von Thränen nasse Gesichtchen. Und das Büblein lag noch kaum in den Kissen, da mahnte es die Mutter schon an ihr Versprechen: „Liederl singen, Mammi!“

„Ja, Tonerl …. laß Dich nur erst schön zudecken!“

Die junge Frau zog sich einen Stuhl an das Bettlein, und während sie ihre Hand den spielenden Fingern des Kindes überließ, sang sie, was ihr gerade einfiel:

„Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so hell!
Zwitschert Wald aus und ein,
Wo mag mein Schatzerl sein?
Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so hell!“

Da mußte sie lächeln. Wie merkwürdig, daß ihr gerade dieses Liedchen, an das sie zehn Jahre und länger nicht mehr gedacht hatte, auf die Lippen kam! Das war wohl nur geschehen, weil sie heute den Mathes wieder gesehen hatte. Denn dieses Liedlein hatten sie immer miteinander gesungen, unter den blühenden Hecken und im dunklen Purtschellerwald da droben, damals, als sie noch Kinder waren – sie, der Mathes und die Vroni!

Es war in der Stube doch so dunkel um sie her, und dennoch sah sie vor ihrem Blick den sonnigen Berghang liegen, über ihm die leuchtenden Felswände und über allem den blauen Himmel. Und im Rauschen der silbernen Gießbäche …. damals waren sie noch nicht in die Tiefe des Berges versunken gewesen …. hörte sie ihr eigenes Stimmchen, hell und lustig wie das Gezwitscher eines Vogels. Und neben ihr saß der Mathes, der zwei Jahre älter war als sie, und schnitzte aus einem Holunderzweig eine Pfeife, um ihr die Weise des Liedchens vorzublasen. Und auf der anderen Seite saß das Vronerl und flocht ihr aus goldenen Butterblumen einen schönen Kranz, den sie aufsetzen mußte – und da hatte der Mathes sie angestaunt und hatte ganz ernst gesagt: „Linerl! Jetzt bist so schön wie’s Muttergotterl in der Kirchen drunt’!“

Langsam strich sich Karlin’ die Härchen hinters Ohr und seufzte. „Kinderzeit! O du schöne Zeit! Wo bist denn hin?“

Nur der Winter war immer hart gewesen! Durch den hohen Schnee der weite Weg in die Schule! Da wäre sie gar oft mit ihren kleinen Füßchen stecken geblieben, wenn ihr der Mathes nicht geholfen und ihr das schwere Ränzlein getragen hätte!

„So ein guter Kerl!“

Aber wenn der Föhn den Berghang vom Schnee gesäubert hatte und unter den Hecken das erste Veilchen blühte, war alle Not des Winters vergessen. Und dann der Sommer und die Ferienzeit! Da waren sie unzertrennlich den ganzen Tag und lachten und tollten, bis am sinkenden Abend der Vater über die Wiesen herüberschrie: „Linerl! Komm!“ …. oder bis vom Häuschen des Simmerauer die Zenz’ gelaufen kam, um ihre beiden kleinen Geschwister heimzuholen.

„Die arme Zenz’!“

Wie elend die zu Grund gegangen war! Hatte ihr Herz an einen leichtsinnigen Menschen gehängt und war gegen den Willen der Eltern mit ihm in die Stadt gezogen. Dort hatte der Lump sie sitzen lassen mit ihren zwei Kindern und gealtert in jungen Jahren, eine Sterbende, war sie ins Dorf zurückgekehrt. Aber das hatte sich später zugetragen damals, in jener schönen Kinderzeit, war die Zenz’ ein sechzehnjähriges, blühendes Mädchen gewesen ….

Tonerl streckte sich in den Kissen und lallte im Halbschlaf: „Bitt’ schön, Mammi, Liederl singen!“

„Ja, mein Schnaberl!“

Karlin’ atmete tief und sang mit leiser Stimme:

„Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!
Zwitschert Bach auf und ab,
Bis ich mein Schatzerl hab’!
Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!“

Sie fühlte, daß der Druck der kleinen Fingerchen, die ihre Hand umschlossen hielten, sich löste. Ruhig ging der Atem des schlummernden Kindes. Eine Weile blieb Karlin’ noch am Bettlein sitzen, dann verließ sie auf den Fußspitzen die Schlafstube und zog lautlos hinter sich die Thüre zu.

Im Wohnzimmer zündete sie über dem Tisch die Hängelampe an.

Wie schön und freundlich dieses Zimmer war – eine richtige Herrenstube! Die Wände bis zu halber Höhe getäfelt, hübsche Möbel aus rötlichem Zirbenholz, ein altdeutsches Sopha und große, mit Leder gepolsterte Lehnstühle: überall Geweihe, ausgestopfte Vögel und Jagdbilder dazwischen, und hinter dem Ofen der mit Jagdgerät und Waffen reich behangene Gewehrrechen.

Karlin’ deckte den Tisch, und als sie damit fertig war, ging sie hinunter, stellte sich unter die Hausthür und spähte über die dämm’rige Straße hinaus, ob ihr Mann nicht käme. Aber die Straße war leer.

Ein weicher Glockenton schwoll durch die dunstige Luft; man läutete den Abendsegen und drüben im Wirtshaus verstummten die verschwommenen Klänge der Geigen und Klarinetten. Karlin’ bekreuzte sich und bewegte die Lippen in stillem Gebet. Dabei ging ihr Blick über den von ziehenden Dünsten schon umschleierten Berghang empor.

So seltsam weich und zerflossen, wie jetzt im Nebel, hatte sie die Glocke immer gehört, wenn sie am Abend dort oben unter der Hausthür saß, als Kind, die Aermchen fröstelnd unter die Schürze eingehuschelt. Und genau so hatte es geklungen, als man ihrem Vater den Weg in den Himmel eingeläutet hatte. Im Steinbruch, beim Sprengen der Felsen, war ihm ein Splitter an die Stirn geflogen. Vier Jahre früher hatte sie schon die Mutter verloren – und damals war sie noch so klein gewesen, daß sie nur staunte, ohne Schmerz zu fühlen, daß sie nicht verstand, was sterben heißt. Doch als man den Vater getragen brachte, als sie ihn liegen sah, stumm und starr, mit der blutigen Stirnwunde, da begriff sie, was der Tod bedeutet. Vom Abend bis zum Morgen waren der Simmerauer, Mutter Katherl und die Zenz’ bei ihr und beteten, während sie weinend in einem Winkel kauerte, und mit ihr der Mathes, der den Arm um ihren Hals geschlungen hielt und ihr mit seinem blauen Tüchlein immer die Thränen von den Wangen wischte.

„Ach, Du lieber Gott!“

Und dann wurde das Häuschen an den Gaßner verkauft. Schulden waren zu bezahlen – denn seit die Mutter gestorben, war dem Vater das Wirtschaften übel geraten und für das neunjährige Kind blieben als ganzes Erbe kaum hundert Mark zurück. Der alte Pfarrer erbarmte sich der mittellosen Waise und gönnte ihr im Stübchen seiner Haushälterin ein Plätzchen. Hier hatte sie zu essen, wurde gekleidet und freundlich gehalten – aber in dem großen, schwermütigen Haus, das so dicke Mauern hatte, wurde aus dem fröhlichen Linerl die stille, ernste Karlin’. Oft stand sie lange Stunden an einem der vergitterten Fenster oder in dem kleinen, von einer hohen Mauer umzogenen Garten und blickte über den sonnigen Berghang empor – und da vermeinte sie manchmal, auf einem hell beleuchteten Wiesengrat den Mathes zu sehen, wie er grüßend in das Thal hinunterjauchzte und gegen den Pfarrhof sein Hütlein schwenkte …

Schritte hallten auf der Straße und Karlin’ hörte die Stimme ihres Mannes.

„Gott sei Dank! Endlich kommt er!“ Sie rief in den Flur zurück: „Nannei! ’s Essen für’n Herrn!“ Dann ging sie durch den Garten hinunter.

Purtschellers Stimme hatte einen Klang, der vermuten ließ, daß der „Herr“ nicht in guter Laune nach Hause kam. Er hielt dem Jagdgehilfen, der ihn begleitete, eine mit Scheltworten gespickte Predigt über irgend einen, der ihn ganz besonders geärgert haben mußte. Wäre Karlin’ nicht mitten auf der Treppe gestanden, er hätte sie in seinem grollenden Eifer übersehen.

„Grüß Dich Gott!“ sagte er und reichte ihr so unwillig die Hand, als wäre sie mitschuldig an seinem Aerger.

„Guten Abend, Toni! Aber so lang’ bist ausblieben! Schau, ich bin schon in Sorg’ g’wesen!“ Das sagte sie ruhig und herzlich, ohne jeden Ton von Vorwurf.

Aber scheltend fuhr er auf: „Natürlich! Beim ersten Schritt ins Haus ’rein geht die Nörglerei schon wieder an! Ich hab’ Dir’s

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 430. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0430.jpg&oldid=- (Version vom 15.7.2023)