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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

„Ein Glück, daß wir den behalten!“ sagte Fräulein Mallner, für die Lothar Sonneck immer noch der „einzige Mensch“ auf der Welt war und blieb. „Diesen Ehrwald gönne ich den Wilden von ganzem Herzen. Der gehört mit seinen halsbrecherischen Gewohnheiten überhaupt nach Afrika, wo er überall den Herrn und Meister spielen und Menschen und Tiere malträtieren kann. Zu einem Wüstenhäuptling hat er das Zeug, aber nicht zu einem vernünftigen Menschen wie Herr Sonneck, der sich gescheiterweise hier in Deutschland zur Ruhe gesetzt hat. Er kommt doch heut’ abend?“

„Gewiß, er hat es versprochen, aber Elsa werden wir leider nicht sehen; sie ließ mir durch meinen Mann sagen, daß sie heute bei Lady Marwood sein werde.“

Ein lautes Hallo verkündete, daß man drinnen mit den Vorbereitungen fertig war. Die drei Jungen kamen schleunigst herbeigestürzt, um das zu verkünden und die Mama und die Tante aufzufordern, sich die Herrlichkeit anzuschauen. Die beiden Damen ließen sich denn auch dazu bereit finden und die ganze Gesellschaft verfügte sich in das Haus.

Ehrwald befand sich unterdessen in seinem Zimmer, wo schon alles für die Abreise gepackt stand. Man sah es ihm an, daß er sich mit der Ermüdung nicht die Ruhe erjagt hatte, und doch galt es, heute abend bei dem letzten Zusammensein mit Lothar eine ruhige Stirn zu zeigen. Aber das Schwerste war ja überstanden, nun mußte auch dies Letzte noch ertragen werden!

Da ließ sich draußen ein eiliger Schritt hören, die Thür wurde aufgerissen und Hofrat Bertram erschien, mit einem ganz verstörten Gesicht.

„Da sind Sie ja, Ehrwald!“ rief er hastig. „Wir müssen sofort nach Burgheim, eben kam ein Bote von dort. Es ist ein Unglück geschehen – mit Sonneck.“

Reinhart, der eben im Begriff war, noch einige Papiere in die Reisemappe zu legen, ließ diese fallen und fuhr auf.

„Lothar? Was ist mit ihm? Was ist geschehen?“

„Er hat die Pistole probieren oder reinigen wollen, Sie wissen ja, das Geschenk für Sie. Das unselige Ding war vermutlich doch nicht entladen, oder es ist sonst etwas damit passiert. Genug, Sonneck hat einen Schuß in die Brust erhalten, wahrscheinlich schwer, denn er liegt besinnungslos, der Bote meint gar – er läge im Sterben.“

Ehrwald stand wie erstarrt.

Der Mann, der doch mit Schrecknissen aller Art vertraut war, schien wie gelähmt durch die Nachricht. Aber was sich in seinen Zügen ausprägte, war mehr als Schreck, die Ahnung von etwas Entsetzlichem, Ungeheurem.

„Ich lasse eben anspannen,“ fuhr Bertram fort. „In zehn Minuten wird der Wagen da sein, wir fahren bei Lady Marwood vorüber und nehmen Elsa gleich mit. – Mein Gott, Ehrwald, Sie sind ja wie vernichtet! Vielleicht ist die Nachricht übertrieben, man muß nicht gleich das Schlimmste fürchten! Jedenfalls müssen wir auf der Stelle hinaus!“

Die letzten Worte brachten Ehrwald zur Besinnung, er stürzte an das Fenster, riß es auf und rief dem Neger zu, der eben das Pferd aus dem Thore führte: „Zurück mit dem Pferde, Achmet – ich brauche es! Kommen Sie nach, Bertram, jagen Sie, was die Tiere laufen können! Ich muß voran!“

Damit eilte er auch schon die Treppe hinunter in den Garten, riß Achmet die Zügel aus der Hand und warf sich auf das Roß. Das Tier, erschöpft von dem vorhergehenden scharfen Ritte, wollte den Gehorsam versagen, aber der Reiter trieb es wie wahnsinnig an. Im rasenden Galopp ging es durch den Kurort, über die Brücke, an der Stadt vorüber und den Weg nach Burgheim hinauf. Vor dem Gitterthor sprang Ehrwald aus dem Sattel, überließ das Tier sich selber und stürmte in das Haus.

In seinem Zimmer lag Sonneck auf dem Sofa, das Haupt mit Kissen gestützt, regungslos mit geschlossenen Augen und ohne Lebenszeichen, während sich der alte Bastian und eins der Mädchen mit allerlei Hilfeleistungen um ihn bemühten. Unter dem geöffneten Rock war das blutgetränkte Hemd sichtbar; es war offenbar noch nicht gelungen, das Blut zu stillen. Reinhart war an das Lager geeilt; ohne sich mit einer einzigen Frage aufzuhalten, entfernte er die Tücher und begann die Wunde zu untersuchen, während Bastian unaufgefordert berichtete, was er wußte.

Er hatte im Garten den Schuß gehört und war sofort hinaufgeeilt, da fand er den Herrn in seinem Blute. Herr Sonneck hatte noch die Kraft gehabt, ein paar Worte zu sprechen und das Unglück zu erklären, ehe er das Bewußtsein verlor. Demnach hatte er die Pistole reinigen wollen, sie hatte sich entladen, und die Kugel, die noch im Lauf steckte, traf ihn gerade in die Brust.

Ehrwald hörte das an, ohne ein Wort zu sprechen. Seit er die Wunde gesehen hatte, war sein Gesicht fast so farblos wie das des Schwerverletzten, aber er that mit gewohnter Geistesgegenwart, was der Augenblick forderte. Er schickte das Mädchen fort, um Wasser zu holen, befahl Bastian, die Hausapotheke herbeizuschaffen, und inzwischen legte er mit dem, was gerade zur Hand war, einen Notverband an.

Der Schmerz bei Berührung der Wunde erweckte Sonneck aus seiner Bewußtlosigkeit, er schlug langsam die Augen auf.

„Reinhart – Du?“ fragte er leise.

„Sprich nicht, rege Dich nicht, sonst fließt das Blut wieder,“ sagte Reinhart mit fliegendem Atem, während er den Verband vollendete, aber der Verwundete machte eine matte, abwehrende Bewegung.

„Laß – es ist umsonst! Eine Unvorsichtigkeit – die Waffe entlud sich – ich wußte nicht –“

Er verstummte, denn Ehrwald hatte sich über ihn gebeugt und seine Augen bohrten sich förmlich ein in das Antlitz des Freundes. Es stand eine furchtbare Frage in diesem Blick voll stummer Todesangst, wenn sie auch die Lippen nicht aussprachen, und Sonneck schien das zu fühlen.

„Fasse Dich,“ murmelte er. „Sei ein Mann!“

„Lothar!“ schrie Reinhart plötzlich auf, es war ein Ruf der wildesten Verzweiflung. „Lothar!“

Sonneck zuckte leise zusammen bei dem Tone und wandte den Kopf seitwärts.

„Laß mich – Du thust mir wehe!“

Da sank Ehrwald in die Knie und brach in ein lautes Weinen aus. Er hatte die Thränen nicht gekannt seit seinen Knabenjahren, und es lag etwas Erschütterndes in diesem Weinen des sonst so eisernen Mannes.

„Mein armer Junge!“ sagte Lothar weich. „Du hast mich sehr geliebt, ich weiß es, Dir übergebe ich mein Liebstes, Elsa – nimm sie in Deinen Schutz.“

„Nein, nein!“ fuhr Reinhart mit einem Ausdruck des Entsetzens auf. „Nimmermehr! Das darfst Du nicht fordern.“

Da legte sich die Hand des Sterbenden schwer und kalt auf die seinige und seine Stimme klang fast gebietend, in dem Aufflammen der letzten Kraft: „Ich will es! Ehre meinen letzten Willen!“

Ehrwald warf sich über ihn und umfaßte ihn mit beiden Armen, er sah ja, daß es hier nichts mehr zu schonen gab, aber er hörte auch die jetzt schon erlöschende Stimme, die jene Forderung wiederholte: „Elsa – laß sie nicht allein im Leben! Dein Versprechen, Reinhart – Dein Wort!“

Die tiefen grauen Augen Lothars waren unverwandt auf ihn gerichtet und der nahende Tod gab ihnen etwas Geisterhaftes. Es stand kein Vorwurf darin, nur die verzeihende Liebe des Mannes, dem der Freund doch vielleicht teurer gewesen war als sein junges Weib. Reinhart wollte sich noch einmal aufbäumen, sich weigern, aber er stand unter dem Zwange jenes geisterhaften Blickes, der von ihm forderte, daß das Opfer nicht vergebens, daß das Blut, das der Todeswunde entquoll, nicht umsonst geflossen sei – da neigte er das Haupt auf die erkaltende Hand und preßte seine Lippen darauf. „Ich – verspreche es!“

Das waren die letzten Worte, die gesprochen wurden. Tiefes Schweigen herrschte in dem Gemach, das ganz erfüllt war von dem goldigen Glanze der Abendsonne, wie einst ein anderes Sterbezimmer im fernen Afrika. Aber hier blickten schneegekrönte Berggipfel durch das Fenster, und das Leben, das sich hier verblutete, war nur Segen gewesen für andere – selbst der Tod war es!

Reinhart hielt den Sterbenden in den Armen, aber er zwang den Sturm der Verzweiflung nieder, er wollte dem Freunde nicht wieder „wehe thun“. Ohne Laut, ohne Regung sah er Lothars Augen sich verschleiern und nahm den letzten Hauch von seinen Lippen, dann aber brach er wie vernichtet zusammen.

Draußen fuhr in stürmischer Eile ein Wagen vor und hielt vor dem Eingange. Er brachte den Arzt, der hier nicht mehr nötig war – und eine junge Witwe!


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