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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Marie, die, mitten zwischen Körben und Koffern stehend, eifrig packte, erwiderte nichts. Sie war es seit einiger Zeit gewohnt, von ihrer Mutter nur Vorwürfe zu hören, und ließ sie stillschweigend über sich ergehen. Es mußte ja alles besser werden, wenn sie nur erst fort wären! Vorläufig wollte sie in Berlin einige Tage bei ihrem dort lebenden Bruder bleiben und dann in irgend ein Engagement gehen. Wenn nur der heutige Tag erst überstanden wäre und die Abreise morgen früh! Das war das Aergste! Sie wollte fort, ja, aber daß sie wollen mußte, that weh!

Es ging schon gegen den Abend, als sie endlich mit der unangenehmen Arbeit fertig war; die Gepäckstücke standen sauber geschnürt im Flur. Nachdem sie sich ein wenig ausgeruht, machte sie Toilette, denn sie fühlte sich Frau von Schmidtlein gegenüber doch verpflichtet, nicht ohne einen Abschiedsbesuch bei ihr die Stadt zu verlassen. Es bangte ihr ein wenig vor diesem Besuch und den forschenden Augen der Dame; aber es mußte sein!

Fanny war allein. Sie empfing das junge Mädchen mit warmer Herzlichkeit. Es sei lieb von ihr, daß sie doch noch einmal sich bei ihr sehen lasse, und sie dürfe nicht eher fort, als bis der Hauptmann zurück sei, der ihr unbedingt Adieu sagen wolle. Marie war gerührt und versuchte, sich wegen ihres sonderbaren Benehmens in den letzten Wochen zu entschuldigen. Fanny unterbrach sie sofort. Sie werde schon ihre guten Gründe gehabt haben, die niemand etwas angingen. Jeder müsse wissen, was er zu thun hätte, und Marie sei ein viel zu gescheites, taktvolles Mädchen, um nicht stets das Richtige zu treffen.

Hätte sie anders gesprochen und vielleicht zudringliche Fragen gestellt, Marie hätte sich gewiß scheu in ihr Inneres zurückgezogen, während sie jetzt der diskreten Freundin gern alles anvertraut hätte. Aber sie fand nicht den Mut dazu.

Fanny ahnte wohl, was in der jungen Freundin vorging, sie brannte vor Verlangen, des Mädchens Geheimnis zu erfahren, aber sie hütete sich, direkt zu fragen. Ganz allmählich lenkte sie das Gespräch dahin, wo nach ihrer Meinung der Angelpunkt lag.

„A propos, daß ich’s nicht vergesse – Herr von Schindler sendet Ihnen noch seine achtungsvollsten Abschiedsgrüße. Er bedauert lebhaft, sie Ihnen nicht persönlich aussprechen zu können.“

„Danke sehr!“ klang es gepreßt aus dem Munde Mariens zurück.

„Er ist sehr indigniert über Sie! Ich sollte es zwar nicht sagen, aber jetzt, da Sie abreisen –“

„Ich auch über ihn!“

„Wie?“ Fanny saß da wie ein lebendiges Fragezeichen.

„Und ich habe sicherlich mehr Ursache,“ fuhr Marie in gereiztem Tone fort.

„Hat er Sie beleidigt, Kind? Ich dachte mir beinahe so etwas. Wohl auf der Schlittenfahrt?“

In Mariens Gesicht stieg eine flammende Röte, welche dank der hereinbrechenden Dunkelheit von Fanny nicht bemerkt werden konnte.

„Nein! Damals nicht!“

„Ah, also später?! So, so! – Denken Sie, Mariechen, ich bildete mir wahrhaftig ein, Schindler hätte sich in Sie verliebt!“

„In mich – er?“

„Ja, wirklich, und ich glaube es fast noch heute!“

„O nein! Ihm wäre ich viel zu – ‚scheußlich!‘“

Fanny zuckte zusammen. Sie hätte nicht das unterdrückte Schluchzen zu hören brauchen, um jetzt den Zusammenhang zu begreifen. Also das war es!

„Wer hat Ihnen das erzählt?“ fragte sie hastig.

„Frau Berlau! Als wir zusammen zurückfuhren bei jener Partie.“

„Und deshalb haben Sie uns, die wir doch an der Sache unschuldig sind, so grausam vernachlässigt?“

„Ich wollte dem Herrn nicht mehr begegnen.“

„Dem Herrn? Ist das der arme Wolf von Schindler? Aber Kindchen, er kannte Sie ja damals noch nicht und war zudem etwas angeheitert; Sie waren an jenem Abend auch wirklich ungünstig gekleidet ... Jedenfalls aber hat er das unbedachte Wort schon damals gar nicht so ernst gemeint und seitdem aufs tiefste bereut.“

„Nimmt Herr von Schindler denn überhaupt etwas ernst?“

Die Frage wurde in so bitterem, schmerzlichem Tone gesprochen und erschien der Frau Hauptmann leider so berechtigt, daß sie vergeblich nach einer Antwort suchte.

„Aber ich glaubte wirklich, er hätte Sie gern!“ sagte sie stockend.

Leise, wie ein Hauch kam es von Mariens Lippen, während zwei schwere Thränen langsam über ihre Wangen rollten: „Mich, über die er so urteilt? – O mein Gott, ich bin recht unglücklich!“

Die gutherzige Frau nahm die heftig Schluchzende in ihre Arme. „Beruhigen Sie sich, liebes Kind! Wenn Schindler glauben dürfte, daß Sie ihm gut sind –“

„Es wäre sehr amüsant für ihn – ja! Aber, gottlob, jetzt kann er es nicht mehr glauben – nicht wahr, jetzt nicht mehr?“

„Konnte er es denn einmal glauben?“

Marie senkte das Haupt.

Die schneeglänzende, weißschimmernde Landstraße, der dahinsausende Schlitten, der pelzumhüllte, blondbärtige Mann an ihrer Seite: sie sieht das alles so lebendig vor sich, als durchlebe sie es in diesem Augenblick aufs neue. Aufs neue fühlt sie seinen Kuß auf ihren Lippen brennen, sieht seine triumphierenden, übermütigen Augen tief in die ihrigen tauchen.

„Seien Sie offen gegen mich, Kindchen!“ drängt die Freundin. „Berechtigte ihn irgend etwas, an Ihre Zuneigung zu glauben?“

„Nein … nichts … das heißt … o quälen Sie mich nicht so!“

Fanny fragte nicht weiter. Sie löste ihre Hände sanft aus denen Mariens und lehnte sich schweigend in ihren Stuhl zurück.

Das junge Mädchen atmete schwer. Dann glitt sie plötzlich mit einer schnellen Bewegung an der Freundin nieder und verbarg wie in tiefer Scham das hocherrötende Antlitz in deren Schoß.

„Damals … im Schlitten … da glaubte ich seinen Worten. Er war so gut, so achtungsvoll – wie konnte ich denken, daß er mich nur verhöhnen wollte?! Ich hatte ihm doch nichts zuleide gethan! – Und dann erfuhr ich erst, wie er in Wahrheit über mich dachte, und daß er es gewesen, der mir für lange Zeit das Vertrauen zu mir selbst und die rechte Künstlerfreude geraubt! – Warum er sich das Vergnügen bereitet, die kleine häßliche Schauspielerin in sich verliebt zu machen, ich weiß es nicht. Vielleicht eine Klubwette – eine Laune, die Lust, zu zeigen, daß er imstande sei, ein Mädchen, das er so schwer beleidigt, doch für sich zu gewinnen! Und nun begreifen Sie, warum ich mich nicht mehr aus meiner Wohnung heraustraute, daß ich davor zitterte, ihm hier wieder zu begegnen? Er wußte ja, er hatte es ja gesehen, daß ich ihn lieb habe, und ich – ich wollte mich doch nicht auslachen lassen!“

Mariens Stimme erstarb in einem erstickten Schluchzen.

„Aber, Kind, Kind – was phantasieren Sie da alles zusammen!“ rief Fanny erschrocken. „Wie kann man sich so fürchterliches Zeug einbilden! Das traue ich dem Schindler denn doch nicht zu! Er war ja ganz unglücklich, daß er Sie nirgends mehr traf. Im Gegenteil, ich glaube jetzt erst recht, daß er Sie gern hatte – was allerdings noch nicht genug ist –“ fügte sie vorsichtig einlenkend hinzu.

„O nein – nein!“ rief das junge Mädchen schnell, während sie sich erhob. „Er hat mit mir nur gespielt. Vielleicht war ich ihm gerade gut genug, eine Liebschaft anzuknüpfen – für die Dauer der Saison! Sie sind es ja beim Theater nicht anders gewöhnt, diese Herren! Ich bin ja nur eine – Schauspielerin!“

„Und wenn er Sie nun hat heiraten wollen?“ warf Fanny plötzlich ein.

„Er – mich? Das glauben Sie ja selbst nicht! Nein, nein – nur fort aus dieser Stadt! Bin ich erst fort, so werde ich ihn vergessen! – Leben Sie wohl, Sie Liebe, Gute und tausend Dank für Ihre Liebe und Freundlichkeit!“

Fanny fühlte sich leidenschaftlich umschlungen, ein thränenüberströmtes Gesicht drückte sich an das ihre, zwei weiche Lippen preßten sich auf ihren Mund, und plötzlich war sie allein.

Als sie nach diesem jähen Abschied wieder zu sich selbst gekommen war, klingelte sie um Licht und setzte sich an ihren Schreibtisch. „Bist du so energisch, meine Kleine, bin ich es erst recht!“ – murmelte sie lächelnd, während ihre Feder schnell über das Papier flog.




Im Wartesaal zweiter Klasse saßen früh am andern Morgen Frau von Sindsberg und ihre Tochter. Die Gasflammen brannten noch und verbreiteten im Verein mit dem großen Füllofen eine glühende Hitze. Die Kellner sahen verschlafen aus und gähnten heimlich hinter ihren Servietten.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 386. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0386.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)