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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Komplimente über sich ergehen. Sie war froh, als es auf dem halben Wege plötzlich zu schneien begann und er seinen Pelzkragen bis über die Ohren aufschlagen mußte. So konnte er wenigstens nicht mehr viel sprechen und sie brauchte nicht zu antworten. Es war so hübsch, ganz still dazusitzen und an die andere Schlittenfahrt von heute vormittag zu denken, sich alles zurückzurufen, jedes einzelne Wort, und alles in Gedanken noch einmal zu durchleben.

Die Dunkelheit brach plötzlich herein, und Mama Berlau drückte sich eng an ihre Nachbarin, sie schob sogar ihren Arm in den Mariens, trotzdem sie die „Schauspielerin“ eigentlich nicht mehr recht leiden mochte, seit sie Kurts „Verrücktheit“ ahnte.

In dem langsamen, gleichmäßigen Ton, der ihr eigen war, erzählte sie kleine Klatschgeschichten, ließ die heutige Gesellschaft Revue passieren und wußte jedem ein bißchen etwas anzuhängen.

Marie hörte ohne Interesse zu, traumbefangen, halb schlafend.

Plötzlich aber horchte sie auf. Ein Name schlug an ihr Ohr, der alle Müdigkeit verscheuchte. Jetzt stimmte auch Berlau in Mamas Kritik mit ein: die Gelegenheit, dem heimlich verwünschten Nebenbuhler etwas am Zeuge zu flicken, war doch zu verlockend. Marie richtete sich auf und übernahm die Verteidigung des „Abwesenden“.

„Aber liebes Fräulein,“ erwiderte Frau Berlau, „das sind doch alles stadtbekannte Sachen. Er ist ein ganz rücksichtsloser Mensch und daneben auch ganz unzuverlässig, immer nur nach seinen Launen handelnd. Ich weiß nicht, warum man sich gerade von dem so viel gefallen läßt. Aber alle thun es. Sie selbst – nehmen Sie mir’s nicht übel – hätten doch alle Ursache, ihm böse zu sein, nach dem, was er Ihnen an dem ersten Abend damals auf die Bühne gerufen hat!“

„Na, das sind aber alte Geschichten, Mama,“ fiel ihr Sohn rasch ein. „Daß er seine Ansicht über Fräulein Sinders seither gründlich geändert hat, das sehen wir ja alle!“

Marie saß regungslos mit weitgeöffneten Augen. Sie war dem gutmütigen Menschen dankbar, der das Gespräch sofort beflissen auf anderes wandte, und allmählich erholte sie sich auch soweit, um hier und da eine Antwort zu geben.

Der Schnee fiel heftiger, einzelne Lichter tauchten auf – die Stadt! Endlich hielt der Schlitten vor dem Haus, in dem Marie wohnte.

Als sie ausstieg, fiel Wolfs Bouquet zu Boden, achtlos hingeworfen. Leise sagte sie „Gute Nacht“ und „Besten Dank“ und stieg langsam die Treppe hinauf. Die Füße waren ihr so schwer, daß sie sich kaum hinaufschleppen konnte. Im Zimmer war es dunkel. Frau von Sindsberg war ausgegangen, vermutlich in die Leihbibliothek, wo sie fast täglich einen Roman einzutauschen pflegte. Marie freute sich über die Stille und Einsamkeit. Müde ließ sie den Pelzmantel von den Schultern gleiten. Im Finstern setzte sie sich auf den breiten, harten Diwan, in dem die Federn bei jeder Bewegung auf und nieder schnellten. Sie wollte nicht weinen – nein! Sie preßte die Hände gegen das Antlitz, um den Thränen zu wehren. Umsonst! Unaufhaltsam drangen sie hervor in dieser bittersten, schmerzlichsten Stunde ihres Lebens. Den Kopf in das Polster gedrückt, schluchzte sie mit zusammengepreßten Lippen. Gewaltsam rang sie dagegen an, aber immer wieder brach der Quell ihrer Thränen hervor. Endlich erhob sie sich mit einer energischen Bewegung.

„Genug – das ist vorbei!“ sagte sie zu sich selbst. „Jetzt gilt’s, vergessen und ein anderes Leben beginnen! Die Kunst wird nur helfen, die Arbeit!“

Als Frau von Sindsberg von ihrem Ausgang zurückkehrte, fand sie Marie mit ihrem gewöhnlichen ernsten Gesicht in ein Rollenheft vertieft und erhielt von ihr über den Ausflug in gelassenem Ton kurze Auskunft.

Marie liebte ihre Mutter innig, aber von ihrem Herzeleid mit ihr zu sprechen, das vermochte sie nicht. Was sollte sie auch sagen? Die Mama würde über diesen verspäteten Kummer nur lachen und ihn nicht begreifen. Sie ahnte glücklicherweise nichts. Und nun war ohnedies alles zu Ende. – Zu Ende! Marie wiederholte sich dies Wort während der schlaflosen Stunden der Nacht unbarmherzig immer wieder und weinte sich endlich mit heißen Thränen in den Schlaf.

Es hatte nicht gerade Sensation gemacht, war aber doch in dem kleinen Kreise ihrer neuen Bekannten bemerkt worden, daß sich Fräulein von Sindsberg plötzlich zurückzog. Man fragte ihre Mutter nach der Veranlassung, die etwas vom „Studium neuer Rollen“ murmelte, lud sie ein paarmal vergebens ein und begnügte sich endlich damit, sie nur auf der Bühne zu sehen. Nach einiger Zeit schwirrte – man wußte nicht, wer der Urheber war – ein Gerücht umher, das viel Heiterkeit und ein gewisses Erstaunen weckte. Berlau, der schöne reiche Berlau, sollte sich einen Korb geholt haben; als die Spenderin desselben wurde Marie genannt. Fräulein von Sindsberg, die Tochter eines Hauptmanns, spielt nur „zu ihrem Vergnügen“ Theater, fügte man erklärend hinzu. Das Gerücht erhielt seine Bestätigung, als Berlau plötzlich zu seiner Erholung auf einige Wochen nach Italien reiste. Man lachte darüber, wunderte sich, lud das junge Mädchen wieder ein, erhielt aber wieder nur Absagen. – – –

Im Kasino hatte man schon vor Wochen zu Ehren des heimgekehrten verlorenen Sohnes wenn auch nicht ein Kalb geschlachtet, so doch ein lustiges Fest gefeiert. Schindler saß wieder die halben Nächte am Spieltisch, trank unsinnig viel Champagner und hieß jede Zerstreuung willkommen. Nur das Theater besuchte er nie mehr. Erst als die Geschichte von Berlau umlief, besuchte er wieder eine Vorstellung, in der Marie beschäftigt war, verließ aber schon vor dem Ende das Haus. Es war ihm unerträglich, sie spielen zu sehen.

Er haßte sie beinahe. Er nannte sie, wenn er allein war und der Zorn ihn erfaßte, eine Kokette, eine Heuchlerin, eine Närrin. Vielleicht hätte er seine Ruhe wiedergefunden, wenn er ihr alles dies hätte ins Gesicht schleudern dürfen. Aber mit welchem Recht? Und außerdem bot sich ihm keine Gelegenheit. Sie zog sich gänzlich zurück und wich ängstlich jeder Begegnung aus. Er hatte sie aufgesucht, gleich am Tage nach der Schlittenfahrt; sie war für ihn nicht zu Hause. Sie war nie mehr zu Hause, wann er auch kam. Er wartete nach dem Theater auf sie, sie war niemals allein. Vergeblich suchte er sie bei Frau von Schmidtlein; Marie kam nicht mehr dorthin. Er wartete vormittags, wenn sie zur Probe ging; sie schritt mit einem kalten Gruße schnell an ihm vorüber, und er fand nicht den Mut, sie anzureden. Was war geschehen?

Eines Abends kam er nach längerer Zeit wieder einmal zu Frau Fanny. Sie war allein und plauderte in ihrer alten, herzlichen und vertraulichen Weise. Schon nach fünf Minuten fing er von Marie an und beschwor sie, ihm zu sagen, was das junge Mädchen veranlaßt haben könnte, sich so gänzlich von aller Welt zurückzuziehen. Fanny wußte so wenig wie er einen Grund. Sie verhehlte ihm nicht, daß sie nach der Schlittenfahrt um Marie besorgt gewesen sei. Zum Glück scheine sie sich damals getäuscht zu haben. Schindler schlich mit gesenktem Haupte von ihr fort. Also auch hier hatte er das Licht nicht gefunden, das er suchte.




Weiße Ostern! So früh wie in diesem Jahr war der Palmsonntag lange nicht gewesen, mitten in den März hinein fiel er.

Der Schnee wirbelte schadenfroh um die mißmutigen Gesichter der jungen Mädchen, die ihre neuen Osterkleider und die Frühjahrshüte im Schrank lassen mußten. Die Geschäftsleute verwünschten ihn, und nur der Theaterdirektor schmunzelte vergnügt bei seinem Anblick. Aber auch seine Freude war mit Wehmut gemischt. Die Saison der Provinztheater ist mit dem Palmsonntag zu Ende. Die Kontrakte laufen nur bis dahin, und die Schauspieler sind mit diesem Tage wieder frei. Sein Anerbieten, bei der frühen Jahreszeit und der schlechten Witterung noch vierzehn Tage weiter zu spielen, hatten sie alle mit größter Freude angenommen, bis auf Marie. Und gerade diese brauchte er, da sie außerordentlich beliebt war und alle ersten Rollen ihres Faches innehatte. Aber sie blieb unerbittlich. Mit einer ganz unnötigen Leidenschaftlichkeit wies sie seinen Vorschlag zurück. Um keinen Preis bliebe sie einen Tag länger, als sie müsse! Fort, nur fort! Direktor Hoffmann nahm an, daß sie einen sehr vorteilhaften Gastspiel- oder Engagementsantrag erhalten habe, da sie auch sein Anerbieten, ihren Kontrakt für nächstes Jahr zu erneuern, ablehnte. Sie danke ihm sehr, aber für keine Gage der Welt möchte sie in C. bleiben.

Frau von Sindsberg hatte Abschiedsbesuche gemacht, zuletzt bei Fanny, und kam mit rotgeweinten Augen nach Hause.

„Solch feinen, liebenswürdigen Verkehr finden wir nie mehr wieder,“ sagte sie gereizt. „Ich begreife Dich einfach nicht, weshalb Du es hier, in dieser angenehmen Stadt, nicht noch eine Saison aushalten willst! Schon aus Rücksicht auf mich! Aber Du hast nirgends Ruhe und bist entsetzlich eigensinnig!“ –

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0384.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)