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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)


„Glauben Sie wirklich, daß dieses Fräulein Sinders meine Worte verstanden hat?“

„Ja, wie soll denn das anders möglich sein?“

„Nun, die Entfernung zur Bühne ist doch ziemlich groß.“

„Aber es war eine Sekunde lang völlig still. Man hörte Ihr ‚Scheußlich!‘ scharf genug zwischen die Reden der beiden hinein!“

„Dumme Geschichte!“ brummte Schindler vor sich hin.

„Thut es Ihnen jetzt leid?“ fragte Frau von Schmidtlein voll Siegeshoffnung.

„Na, eine schlaflose Nacht werde ich darum nicht haben,“ versetzte er bockbeinig, „so ’was fährt wohl jedem einmal heraus! Aber ...“

„Na – aber ..?“ half sie seinem Zögern nach.

„Aber es ist nicht einmal wahr, und das ärgert mich hinterher, sie ist gar nicht garstig. Das untergräbt mein kritisches Ansehen! Na, einerlei, zu ändern ist jetzt nichts mehr an der Sache.“

„Sehen Sie, Herr von Schindler,“ sagte die Frau Hauptmann stehen bleibend. „Sie sind innerlich viel besser, als Sie es andere glauben machen wollen. Das Gewissen drückt Sie jetzt, das ist recht heilsam, und weil Sie eines haben, deswegen sind Sie überhaupt gar nicht der Roué und Spötter, den man aus Ihnen macht. Ich habe noch andere Anzeichen dafür,“ fuhr sie eifrig fort, als jener Miene machte, sich gegen dieses unerwünschte Lob zu wehren, „Sie sind wohlthätig und kümmern sich auch menschlich um die Leute, die Sie unterstützen, das weiß ich aus sicherer Quelle …“

„Nur, um die Langweile zu vertreiben, gnädige Frau, aus keinem andern Grund!“

„Und warum haben Sie denn überhaupt Langweile?“ fuhr die kleine Frau hitzig fort. „Ich muß Ihnen sagen – laß nur, Otto, ich thue ihm nichts! – daß es schade um Sie ist. Das Lotterleben mit den andern Müßiggängern brauchten Sie nicht zu führen, Sie könnten auf Ihrem Gut ein tüchtiger und ein glücklicher Mann sein, nähmen sich eine nette Frau ..“

Die beiden Herren brachen gleichzeitig in ein Lachen aus. „Nun ist sie beim Ehestiften angelangt,“ sagte der Hauptmann, „nun gnade Ihnen Gott, Schindler!“

„Glücklicherweise sind wir da an meiner Straßenecke,“ sagte dieser, „und ich kann mich eben noch retten. Gute Nacht, gestrenge Richterin, und von nun an offene Feindschaft zwischen uns!“

„Sind Sie mir böse?“ fragte sie gutmütig, zweifelhaft in sein grimmiges Gesicht blickend.

„Ja, Sie haben heute meinen blonden Schopf rot genannt, das kann ich Ihnen in Ewigkeit nicht vergeben.“

„Ach, Sie unverbesserlicher Spottvogel, mit Ihnen ist wirklich kein ernsthaftes Wort zu reden!“ rief sie halb ärgerlich, halb belustigt. „Ich ziehe meine Hand noch gänzlich von Ihnen ab! Komm, Otto, Du darfst mir nicht länger in der Gesellschaft bleiben!“

Und mit einem lachenden Gutenachtgruß entfernte sich das alte Pärchen. Herr von Schindler blieb stehen, schlug seinen Kragen hoch und sah ihnen nach, wie sie Arm in Arm dahinschritten, eng aneinandergeschmiegt. Es war feucht auf dem Boden, denn während der Theaterstunden waren die ersten Schneeflocken gefallen und hatten sich sofort wieder in schmutziges Wasser verwandelt. Er sah, wie sich Frau Fanny bückte, um ihr Kleid aufzunehmen, und hörte noch den Hauptmann mit seiner lauten Stimme lachend sagen: „So ist’s recht, Fanny, schone Dein neues Herbstkleid vom vorvorigen Jahr!“

Wieder fiel ihm auf, mit welcher Heiterkeit diese Leutchen ihre Armut trugen. Sie lebten von der Pension des Hauptmanns, der seinen Abschied wegen einer chronischen, übrigens ungefährlichen Krankheit hatte nehmen müssen, und besaßen außerdem nur noch die ‚Kaution‘, in welcher das ganze Vermögen der Frau bestanden hatte. Sie mußten sich sehr einschränken, waren aber immer zufrieden und vergnügt. Weil sie sich gern haben! fuhr es dem Lebemann durch den Sinn. „Gern haben sie sich, die beiden, und fühlen sich glücklich in ihrer Liebe!“ Während er ihnen unwillkürlich nachblickte, verfolgte er diesen Gedankengang weiter.

„Da gehen sie nun nach Hause, die Frau bereitet einen gemütlichen Theetisch und zieht ihrem alten Schatz die warmen Pantoffeln an. Macht mein Diener übrigens alles genau so! Dann setzen sie sich nebeneinander aufs Sofa und plaudern. Hand in Hand – Philemon und Baucis! Einer kennt des andern Herz, keine Falschheit, keine Lüge! Wenn sie sagt, ich hab’ Dich lieb, so ist’s Wahrheit. – Uebrigens verdammt kalt heute! Da stehe ich nun, philosophiere und bekomme nasse Füße. Diese Frau Fanny hat entschieden einen schlechten Einfluß auf mich. Ob sie wohl recht hat, daß die Sinders jetzt weinen wird? Na, wird schon wieder aufhören! Nun aber schleunigst!“

Den Hut tiefer ins Gesicht ziehend, wendete er sich hastig um und eilte mit raschen Schritten die Straße hinunter dem Klub zu, dessen hellerleuchtete Front ihm einladend entgegenstrahlte. – Marie Sinders hatte sich nach Schluß des Stückes, in welchem sie besonders im letzten Akte noch sehr gefallen hatte, langsam in ihre Garderobe begeben. Sie war müde geworden und ließ sich ganz erschöpft auf dem harten Stuhl nieder, der vor ihrem Toilettenspiegel stand. Die Probe am Vormittag hatte sich bis gegen 3 Uhr hingezogen, und um 5 Uhr war sie bereits wieder zum Ankleiden im Theater gewesen. Endlich war es nun zu Ende! Aber sie empfand heute nicht das zufriedene Behagen wie sonst nach Schluß einer Vorstellung. Sie fühlte sich gedrückt und unglücklich. Sie kam sich so einsam, so verlassen vor. Freilich war das immer so beim Antritt einer neuen Stellung. Aber heute doch mehr als sonst.

Forschend glitten ihre Augen über die anwesenden Kolleginnen, die mit ihr zusammen an dem langen Tisch saßen, von dem jede nur geradeso viel Raum beanspruchen konnte, daß ein großer Toilettenspiegel, die Schminkschatulle und allerlei Kleinkram darauf Platz fanden. Die Damen saßen ziemlich schweigsam da und wischten sich in höchster Eile die Schminke vom Gesicht. Alle sahen müde und abgespannt aus; nur die muntere Liebhaberin plauderte fieberhaft erregt mit ihrer Nachbarin. Schließlich begann sie auch von den Herren in der linken Prosceniumsloge zu sprechen und meinte: „Das sind aber freche Bengels!“ Dabei sah sie mit einem bedauernden Lächeln zu Marie hinüber. Auch die andern blickten auf und sahen die Sinders an.

Diese wurde dunkelrot und beugte sich weit vor, bis ihr geöffneter Flügelspiegel sie den Blicken entzog. O, diese Demütigung! Und wenn es nur dabei bliebe! Aber wenn sie vorhin recht gesehen hatte, wenn das finstere, unzufriedene Gesicht des Direktors ihr gegolten hatte, dann blieb sie nicht lange in dieser Stadt!

Sie erschrak plötzlich vor ihren eigenen Augen, die ihr aus dem Spiegel ganz verzweifelt und entsetzt entgegen starrten. Schreckliches Los des Schauspielers in der Provinz! Wenn der Direktor sie entließ, dann mußte sie in vier Wochen wieder fortziehen, in eine andere Stadt, zu einem anderen Direktor, um dort wieder einen Monat in Langen und Bangen zu verleben. Wieder eine neue Wohnung, neue Kollegen, ein neues Publikum! Und dabei neben sich die Mutter, die arme, so leicht erregbare Mutter, die Ruhe brauchte und von früher her so sehr an Behaglichkeit gewöhnt war! Nein, nein, es durfte nicht sein! Warum denn auch? Sie war doch eine gute Schauspielerin! Ja, das durfte sie sich selbst zugestehen, so bescheiden sie sonst von sich dachte! Freilich, sie war nicht schön, auch das wußte sie. „Scheußlich“ aber war sie denn doch nicht! Gewiß nicht! Ganz erregt musterte sie sich im Spiegel, vor dem sie mechanisch die Arbeit des Abschminkens beendet hatte. Das Gesicht war angenehm, nur zu fahl – die Wangen eingefallen. Aber, guter Gott, das kam eben von der Unruhe, von den Sorgen, dem schrecklichen Kampfe ums Dasein, den sie für Zwei führen mußte und an den sie so gar nicht gewöhnt gewesen war. Sie kämpfte mutig die Thränen hinunter, die ihr bei dieser Erinnerung heiß aufstiegen. Es that so weh, für all das Elend und die Not noch beschimpft zu werden!

So sehr war sie in ihre Gedanken versunken, daß sie ganz vergaß, sich umzukleiden. Und erst auf die zarte Anspielung der Garderobiere, ob Fräulein gleich bis zur morgigen Vorstellung sitzen bleiben wolle, blickte sie erstaunt um sich. Die anderen hatten sich bereits entfernt, eine nach der anderen war mit einem kurzen „Gute Nacht!“ verschwunden. Erschreckt sprang sie auf, warf ihr Kostüm ab und vollendete ihre Straßentoilette. Sie dachte an ihre Mama, mit der sie verabredet hatte, sie solle sich gleich nach der Aufführung in ihre Wohnung begeben. Wie hatte sie die Aermste warten lassen, die ohnehin sich in der fremden Stadt noch so einsam und unheimisch fühlte! Wenn nur nicht auch sie das beleidigende Wort gehört hatte! Sie besann sich. Nein, das konnte nicht sein! Beruhigt ermaß sie im Geiste die beträchtliche Entfernung zwischen der Bühne und dem Sitz, den ihre Mutter gehabt hatte. Nur ihr nichts sagen! Mit diesem Entschluß nahm sie ihren Mantel um, band ein großes Tuch um den Kopf und eilte die enge Treppe hinunter, wo ihr Mädchen auf sie wartete. Der Regen schlug ihr auf der Straße entgegen, ein heftiger Wind trieb ihr die Tropfen unbarmherzig ins erhitzte Gesicht. „O welch ein Leben!“

(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 339. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0339.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)