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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)


Im Ulmen-Laubgang.


Niemals hab’ den Ulmen-Laubgang
Ich so schön geseh’n wie heute,
Wo die zarten grünen Blüten
Auf den Weg der Nachtwind streute.

Auf den breiten Wipfelkronen
Flimmerte die Morgensonne,
Und der Waldpastor, die Amsel,
Predigte von Frühlingswonne.

Und da war es mir, ich sähe
Heut’ den Mai den Einzug halten –
Und ich sah vor mir im Geiste
Wandeln süße Huldgestalten.

Aus den schmucken Blumenkörbchen
Streuten zarter Kinder Hände
Leise auf des Lenzes Pfade
Reiche grüne Blätterspende.

Kranzgeschmückt die Einen waren,
Andre weiße Schleier trugen,
Aus den seidnen goldnen Löcklein
Sah ich Rosenknospen lugen.

Frohsinn kam, umtanzt, umgaukelt
Von den bunten Schmetterlingen;
Hoffnung hatte sich geliehen
Von der Lerche Lied und Schwingen.

Vor der Tulpen Flammenbechern
Klang der Chorgesang der Bienen;
Maikraut um die Stirn gewunden,
War der Rebengott erschienen.

An dem Goldstern der Narzisse
Funkelten die Taujuwele –
Und die Liebe sang das Credo
Aus der Nachtigallenkehle! –

Alles, alles durft’ im Geiste
Heut’ ich wonnetrunken schauen,
Als ich ging durch die Alleen
Bei dem ersten Morgengrauen –

Duftend um die Stirne wehte
Frischer Hauch aus Blatt und Blüten –
Und ich fühlte: aus dem Herzen
Schwand das dumpfe Winterbrüten.

Meine Pulse fühlt’ ich schlagen
Jugendfrisch in hellen Sprüngen –
Und ich glaubte an den Frühling,
An des Lenzes Weltverjüngen!
 Emil Rittershaus.



Vor der Berufswahl.

Warnungen und Ratschläge für unsere Großen.
Das Kunstgewerbe.

Es klingt wie ein Gemeinplatz und kann doch nicht oft genug wiederholt werden: nicht was man treibt, giebt den Ausschlag und schafft das Glück im Leben, sondern wie man es treibt. Im Sinne dieser Wahrheit giebt es überhaupt keinen schlechten Beruf; und besonders die handwerklichen Beschäftigungen, die man mit einem etwas unbestimmten Worte als „Kunstgewerbe“ bezeichnet, müssen hiernach sämtlich als gute und lohnende Berufsarten bezeichnet werden. Denn der Schreiner, der sich Kunstschreiner, der Töpfer, der sich Kunsttöpfer nennt, stellt damit schon gewissermaßen ein Programm auf, in welcher Weise er sein Geschäft betreiben will: er will nicht in der Masse der hunderttausend Flickschreiner, Ofensetzer etc. mitschwimmen; seine Leistungen, denen er ein künstlerisches Gepräge geben will, sollen ihn aus der Masse herausheben. Der Besteller, der ein künstlerisch durchgeführtes Stück Arbeit verlangt und dafür entsprechend höhere Preise zu zahlen bereit ist, soll wissen, daß er sich nur an den Kunsthandwerker zu wenden hat. So kann dieser von vornherein auf eine „feinere“ Kundschaft und auf bessere Preise rechnen: wozu noch kommt, daß die Konkurrenz geringer ist, da doch nur einer sehr beschränkten Anzahl von Handwerkern die Mittel zu einer höheren Ausbildung und jene höhere Veranlagung zu Gebote stehen, die sie dem Ziel, sich „Kunsthandwerker“ nennen zu dürfen, entgegenführt.

Wie wird man Kunsthandwerker? – Es giebt einen ganz geraden, normalen Weg, der nach unserer langjährigen Erfahrung fast immer zum Ziele führt; versuchen wir ihn mit einigen kurzen Strichen zu zeichnen. Ein gesunder, kräftiger Junge von Durchschnittsbegabung, aus bescheidener Bürgerfamilie, dem von Haus aus keine Marotten von „höherem Beruf“ in den Kopf gesetzt sind, der aber vom Vater den Respekt vor der Arbeit gelernt hat, tritt nach Erledigung seiner Schulpflicht bei dem Meister eines Handwerks in die Lehre, welches seiner Natur nach zu einem Betriebe im „kunstgewerblichen“ Sinne geeignet ist. Welches diese Handwerke sind, werden wir später sehen. Den Lehrmeister wird der Vater nicht bloß nach einer Zeitungsannonce auswählen, sondern er wird sich persönlich umthun, um einen solchen zu finden, der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 333. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0333.jpg&oldid=- (Version vom 13.7.2023)