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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

funkelte maßloser Haß, als er kaum verständlich hervorstieß: „Sie – Sie sind es? Fort, hinaus! Was wollen Sie hier?“

„Frau von Sonneck schützen, bis ihr Gatte zur Stelle ist. Kommen Sie, gnädige Frau! Sie sehen es ja, Ihr Großvater ist unzurechnungsfähig.“ Er wollte sie fortführen, aber Elsa machte sich los und eilte mit einem Schreckensrufe zu dem Professor, der plötzlich zurückgesunken war. Sein ganzer Körper wurde von einem Krampfanfall geschüttelt, aber er stieß die Hand seiner Enkelin zurück, als sie ihm Hilfe leisten wollte.

„Fort von mir! Lothar soll kommen. Lothar!“

In diesem Augenblick erschien Sonneck wirklich, die immer lauter werdenden Stimmen hatten ihn herbeigezogen. Er eilte gleichfalls zu Helmreich. „Was ist geschehen? Kam der Anfall so plötzlich? Gieb ihm die Tropfen, Elsa, vielleicht geht es wieder vorüber.“

Aber es ging diesmal nicht vorüber. Der Kranke wurde zwar schon nach wenigen Minuten ruhiger und lag fast regungslos, allein seine Brust hob sich schwer und röchelnd und seine Lippen bewegten sich, als ob er sprechen wollte. Sonneck beugte sich tief zu ihm nieder.

„Wir sind bei Ihnen,“ sagte er beruhigend. „Ich bin’s, Lothar, ich und meine Elsa.“

Da flammte es noch einmal auf wie Hohn und Haß in den Augen des Sterbenden. Seine Stimme hatte keinen Klang mehr, ein hohles, geisterhaftes Geflüster streifte, nur Sonneck vernehmbar, an dessen Ohr hin: „Deine Elsa? Du armer Thor! Hüte Dich vor dem da – vor dem da! Und hüte sie vor ihm – wenn es nicht schon zu spät ist!“

Seine zuckende Hand hob sich und wollte auf Ehrwald weisen, aber sie fiel kraftlos nieder, es war das letzte Aufflackern des Bewußtseins, das jetzt zu erlöschen schien.

„Was sagte er Dir? Hast Du ihn verstanden?“ fragte Elsa angstvoll.

„Nichts, Phantasien eines Sterbenden,“ entgegnete Sonneck halblaut, aber er war bleich geworden bis in die Lippen.

Helmreich sah und fühlte offenbar nicht mehr, daß man sich mit allen möglichen Hilfeleistungen um ihn bemühte. Noch ein kurzer schwerer Kampf, dann erstarrte alles in der eisigen Ruhe des Todes, es war zu Ende.

„Er hat ausgelitten. Wir wollen ihm den Frieden gönnen,“ sagte Lothar, indem er sich emporrichtete; seine Stimme war klanglos und ein eigentümlich schwerer und fragender Blick streifte den Freund und die junge Frau, die stumm und thränenlos vor der Leiche des Großvaters kniete. Es folgte eine lange Pause. Niemand sprach, die unheimliche Stille des Todes herrschte in dem Gemach, endlich trat Reinhart zu seinem Freunde und bot ihm die Haud. „Es ist wohl besser, ich lasse Dich jetzt allein mit Deiner Frau. Auf morgen, Lothar!“

Er neigte sich schweigend vor Elsa und ging. Lothar sah ihm nach, wieder mit jenem seltsam fragenden Blick, dann wandte er sich zu seiner Gattin und hob sie empor.

„Komm, mein armes Kind, weine Dich hier aus!“ sagte er tiefernst und schloß sie in die Arme, während die junge Frau in ein lautes, leidenschaftliches Schluchzen ausbrach.




Jenseit der Bergeskette, die das Kronsberger Thal von allen Seiten einschloß, lag der mächtige Alpensee, dessen Ufer zum Teil die Grenze des Landes bildeten. Man hatte nur vier bis fünf Stunden bis dahin, aber die Landschaft trug einen durchaus anderen Charakter. Weithin dehnte sich die schimmernde Fläche des Sees, dessen jenseitige Ufer kaum sichtbar waren, die Berge traten überall zurück und die freundlichen Ortschaften zu ihren Füßen lagen inmitten von blühenden Wiesen und prächtigen Baumgruppen wie in einem großen Garten da.

Die heitere Schönheit der Landschaft hatte auch viel Freunde gefunden, das zeigten die zahlreichen Ansiedlungen, die sich überall an den Ufern erhoben, bescheidene Landhäuser, von dichtem Grün umrankt, und schloßartige Villen, von Parkanlagen umgeben, und dazwischen all die großen Hotels, die zur Sommerszeit dem auf- und abflutenden Strome der Reisenden Aufnahme gewährten.

Auf der Terrasse eines dieser Hotels saß Lothar Sonneck und blickte hinaus in die Landschaft, die heute im hellen Sonnenglanz ein ungemein reizvolles Bild zeigte; aber er sah offenbar nichts davon, sondern schien ganz in düstere Träumerei verloren. Sein Antlitz war wohl immer ernst gewesen, doch jetzt stand ein grübelnder Zug darin und die Augen hatten jenes Aufleuchten verlernt, das noch vor wenigen Wochen von so viel heimlichem Glücke sprach. Der alte verbitterte Mann, der nun schon seit drei Wochen im Grabe ruhte, hatte noch mit dem letzten Atemzüge Unheil über drei Menschen gebracht.

Da nahte ein leichter Schritt, Sonneck blickte auf und lächelte; seine junge Frau, die jetzt herantrat, bekam nichts von der Düsterheit zu sehen, die eben noch sein Antlitz so schwer beschattete. Elsa trug Trauer um den Großvater und das tiefe Schwarz hob die rosige Frische ihrer Erscheinung nur um so mehr. Sie nahm ihrem Gatten gegenüber Platz und sagte mit einem halbunterdrückten Seufzen: „Ich komme allein – Zenaide ist soeben nach Malsburg gefahren.“

„Also doch! Du hast sie nicht zurückhalten können?“

„Nein, sie hört weder auf Bitten noch auf Vorstellungen und will ein Wiedersehen mit ihrem Kinde erzwingen.“

„Das wird eine schlimme Scene geben!“ sagte Lothar sorgenvoll. „Zenaide ist maßlos leidenschaftlich und unbesonnen. Was für unsinnige Pläne habe ich schon verhindern müssen, seit sie weiß, daß das Kind in ihrer Nähe ist, und sie gab doch immer mir für den Augenblick nach, wenn ich ihr die Unmöglichkeit der Ausführung klar machte.“

„Konntest Du sie nicht wenigstens begleiten?“ warf Elsa ein.

„Das wäre nutzlos gewesen. Marwood hätte es zweifellos als ein unberechtigtes Eindrängen zurückgewiesen, und Zenaide wünschte es ja nicht einmal.“

„Der Lord hat sie aber auch aufs äußerste getrieben,“ sagte die junge Frau erregt. „Zweimal hat sie ihm geschrieben und verlangt, daß er ihr ihren Sohn nur auf einen Tag nach Kronsberg sende – er verweigerte es. Mein Gott, eine Mutter wird doch das Recht haben, ihr Kind zu sehen!“

„Gewiß, aber wenn es einmal so weit gekommen ist wie zwischen den beiden, wer fragt da noch nach dem Rechte! Uebrigens begreife ich Marwoods Weigerung. Er fürchtet, daß, wenn seine Frau das Kind erst einmal in Händen hat, sie es freiwillig nicht wieder zurückgiebt und es auf gewaltsame Maßregeln ankommen läßt. Das fürchte ich auch und deshalb allein entschloß ich mich zu der Reise mit Dir. Ich versuchte durch Hartley das Zugeständnis zu erlangen, daß der Kleine für einige Stunden hierher in das Hotel zu seiner Mutter gesandt würde, wenn ich die Bürgschaft für seine Rückkehr übernähme. Ich ließ Marwood melden, daß Zenaide in unserer Begleitung ist; vergebens, er beharrt auf seiner Weigerung, Hartley selbst brachte mir heute morgen die Nachricht. Da können wir nichts thun als der Sache ihren Lauf lassen – Gott allein weiß, wie sie endigt!“

Es trat eine Pause ein, sie schwiegen beide und blickten auf den sonnenbeglänzten See hinaus. Soeben legte der Dampfer, der vom jenseitigen Ufer kam, in der Nähe des Hotels an und ein Teil der Reisenden stieg ans Land. Die junge Frau war an die Brüstung getreten und schaute gleichgültig auf das Gewühl; auf einmal aber erbleichte sie und ihre Augen richteten sich groß und starr auf einen Punkt. In der nächsten Minute jedoch wandte sie sich zu ihrem Mann und sagte anscheinend ruhig: „Ich habe vergessen zu sagen, daß wir heute allein speisen wollen. Ich werde es wohl bestellen müssen.“

Es war noch eine volle Stunde bis zur Mittagszeit, aber Sonneck machte keinen Versuch, seine Frau zurückzuhalten, wie sonst in Burgheim, wo er jede Minute zählte, die sie fern von ihm war. Er sah ihr nur mit einem langen düsteren Blicke nach, bis sie verschwunden war. Dann stand er rasch auf, als wollte er sich seinen Gedanken entreißen, und musterte zerstreut die Fremden, die der Dampfer gelandet hatte und die eben durch den Garten kamen. Auf einmal aber stutzte er und ließ einen Ausruf der Ueberraschung hören. Was war das? Wie kam Reinhart hierher? Er war ja in der Residenz, um dort persönlich die letzte Rücksprache wegen seiner Expedition zu nehmen, und wollte erst in acht Tagen nach Kronsberg zurückkehren, um Lebewohl zu sagen. Und doch war es seine hohe Gestalt, die all die anderen überragte. Er kam gerade auf das Hotel zu, jetzt bemerkte er auch den Freund auf der Terrasse und eilte mit allen Zeichen der Ueberraschung die Stufen hinauf. „Du bist es Lothar! Ich glaubte Dich in Burgheim. Wie kommst Du hierher?“

„Die Frage gebe ich Dir zurück,“ entgegnete Sonneck ebenso erstaunt. „Was thust Du hier? Ich denke, Du bist in der Residenz.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0327.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2022)