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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

beiden Seehunde in Menschengestalt, bis sie triefend und seelenvergnügt wieder auftauchten und ihn tröstend in ihre Arme schlossen.

Vermöge seiner zahllosen guten Eigenschaften und geselligen Vorzüge war es Männe nach und nach gelungen, sich in der Pension Paula vom schief angesehenen Eindringling zu einer sehr angesehenen Persönlichkeit aufzuschwingen.

Die Gesellschaft war im Augenblick aus lauter Hundefreunden – die meisten anständigen Menschen sind ja Hundefreunde! – oder aus Hundeduldern zusammengesetzt, und wer sich etwa nicht dazu rechnete, der nahm aus Freude an den beiden netten, frischen Bengeln Karl und Ludwig teil an Männe und amüsierte sich über ihn.

Der Landgerichtsrat und seine Frau söhnten sich angesichts dieser Verhältnisse mit dem dummen Streich ihrer Jungen aus und hatten sogar für den Fall, daß der Teckel sich bis zuletzt gesittet betragen würde, in verlockende Aussicht gestellt, daß sie, wie sich der Vater ausdrückte, „ins saure Portemonnaie beißen“ und die Hundereisekosten erstatten würden.

Männe war allmählich immer öfter in der Pension. Die dicke Köchin fütterte ihn mit Abfällen von der Table d’hote, bis er die Bezeichnung „wandelnde Schlummerrolle“ durch seine Korpulenz gebieterisch herausforderte. Ueberdies hatte Männe das unverdiente Glück – er hatte überhaupt Glück bei Damen! – daß sich ein altes Fräulein sterblich in ihn verliebte und sich den kalten Aufschnitt und den Zwieback für ihn vom Munde absparte.

Als diese Dame sich stark erkältete und einige Tage das Zimmer hüten mußte, lud sie sogar Männe zu sich ein, um ihr die einsamen Stunden zu kürzen.

Es muß leider hier zugestanden werden, daß Männe sich bei dieser Gelegenheit sehr undankbar, ja fast gemein benahm. Erstens wollte er nie freiwillig zu seiner Verehrerin gehen, sondern mußte, so oft sie seine anregende Gesellschaft wünschte, strampelnd und unwillig auf dem Arm zu ihr getragen werden. Dann war er so lange liebenswürdig und verbindlich, als sie ihn mit Albert–Cakes fütterte – gähnte aber sofort nach dem Versiegen dieser Genußquelle bis zum lauten Quietschen und entschlüpfte bei erster Gelegenheit wieder an den Strand, was sehr egoistisch genannt werden muß!

Abends – denn soweit hatte Männe es noch nicht gebracht, daß er in der Pension schlafen durfte – abends wurde er von einer zahlreichen Gesellschaft, die diese Gelegenheit zum Spaziergang benutzte, nach seinem Schuppen gebracht. Sogar „Pastors“ – natürlich eingehakt! – wohnten öfter dem schmerzlichen Augenblicke des Anbindens bei. Diese Schlafverhältnisse waren ja nicht sehr behaglich, aber da in Sommerwohnungen sogar der Mensch auf manchen Komfort verzichten muß, so fand sich Männe auch mit Seelengröße in diesen Zustand, um so mehr, als er bei dem Fuhrmann einen Standesgenossen, einen kleinen Spitz Namens Max, gefunden hatte, mit dem er viel verkehrte.

Kurz, Männes Himmel im Seebad war im ganzen wolkenlos, was den Liebhaber poetischer Gerechtigkeit, in Anbetracht der gesetzwidrigen Art, wie Männe an die See gelangt war, stutzig machen sollte.

Und bald zeigte es sich, daß das Verhängnis nur geschlummert hatte und der Friede für Männe sowie der Friede in der Pension nur ein Waffenstillstand gewesen war!

Die Gesellschaft saß eines Abends fröhlich vor dem Hause auf der Freitreppe zusammen, die zu malerischer Gruppierung sehr geeignet war.

Man wartete auf das Eintreffen des Dampfers, was täglich ein aufregender Augenblick war. Die Pensionsmutter, die Hand über die Augen gelegt, spähte nach dem Gesellschaftswagen aus. „Wir bekommen heute noch neue Gäste, meine Herrschaften!“ verkündete sie mit gastfreiem Lächeln, „Frau Schulze, eine Mama mit Töchterchen, und dann ein einzelner Herr, Direktor Langentrott – ich habe ein Tischchen ansetzen müssen!“ Erwartungsvoll spähte alles nach dem Wagen, der schon näher rückte und aus dem von weitem ein Geschrei ertönte, wie man es sonst nur hört, wenn Hühner geschlachtet werden, und welches Männes Leistungen in dieser Hinsicht in den tiefsten Schatten stellte.

„Na“, meinte der Landgerichtsrat, „nun bin ich bloß neugierig, ob das Töchterchen so schreit oder der Direktor – das scheint ja ein belebender Zuwachs zur Geselligkeit zu werden!“

Der Wagen hielt und ihm entstieg eine Mama, die ein sehr kleines, sehr dickes und entsetzlich schreiendes Kind auf dem Arme hielt und es mit dem beständigen Zuruf: „Sei gutchen, Brunhilde!“ zu freundlicherer Auffassung der Situation zu ermutigen suchte. Brunhilde war aber nicht „gutchen“, sondern namenlos „böschen“ und kreischte sich braun, so daß eine Verständigung mit der Pensionsmutter vorläufig nur durch leidenschaftliche Pantomimen möglich war. Wurde unsere Gesellschaft schon durch diesen Vorgang peinlich berührt, so stieg der Schrecken wenigstens einiger Anwesenden bis zu schwindelnder Höhe. Das waren unsere Landgerichtrats, die „eingehakten Pastors“ und Männe! Denn als zweiter Gast entstieg der angekündigte Direktor dem Wagen, ebenso kirschbraun vor Wut wie Brunhilde, wenn auch nicht schreiend, und das war kein anderer als der brummige Reisegefährte von vor vierzehn Tagen!

„Der Unausstehlius!“ brachte der Landgerichtsrat, gegen seine Frau gewandt, tonlos hervor, „Luise, wollen wir nicht abreisen?“

Luise winkte beschwichtigend, während Männe, von düsteren Erinnerungen beim Anblick des alten Herrn bewältigt, sich hinter den Luftkegelpfahl verkroch und nicht mehr zu sehen war.

Der Direktor begrüßte kurz und mürrisch die Anwesenden und führte sich mit der reizenden Wendung ein: „Hier scheint’s ja stopfvoll zu sein! Ich bin von N. abgereist, weil man da keinen Schritt gehen konnte, ohne auf Menschen zu treten, und hier ist’s noch schlimmer! Das ist echt! Das kann auch nur mir passieren!“ Dann nickte er dem Landgerichtsrat wütend zu.

„Wir kennen uns! Ich will mich übrigens beschweren! Kleine Kinder brauche ich hier nicht zu dulden – wo kann ich mich beschweren?“

Damit ging er ins Haus.

Die Eigentümerin der schreienden Brunhilde hatte inzwischen diesem Götterweibe ein Papagenoschloß in Gestalt eines Fläschchens mit Gummipfropfen vor den Mund gelegt und vertrat wortreich ihr gutes Recht.

Kindern unter einem Jahr war der Zutritt verboten und Brunhilde war vor acht Tagen ein Jahr alt geworden! Es hätte demnach ein neuer Gesetzesparagraph für die Pension Paula gemacht werden müssen, und bis ein solcher in Wirksamkeit trat, konnte Brunhilde nach juristischen Erfahrungen schon sechzehn Jahre alt geworden sein und einen Siegfried gefunden haben.

Brunhilde wurde also als notwendiges Uebel von den Einwohnern der Pension angesehen und, da sie, von ihrer Brüllerei abgesehen, ein niedliches Kind war, auch freundlich behandelt. Nur der Direktor hatte ihr Rache geschworen, was zum Glück seine Aufmerksamkeit zunächst von Männe ablenkte.

Der Direktor – man mochte über ihn denken, wie man wollte – war in einem Punkt anzuerkennen, insofern jemand für achtungswert und interessant gelten muß, der eine Spezialität bis zur Vollendung ausgebildet hat. Der Direktor hatte dies gethan – er war Virtuose in der Unliebenswürdigkeit und wußte ihr immer neue Seiten abzugewinnen.

Gleich am ersten Abend nach seiner Ankunft, als alles friedlich beim Thee saß und sein Nachbar, ein schüchterner Student, ihm mehrfach von den Speisen der Abendtafel anbot und schließlich die Butter hinreichte, schnob der alte Herr ihn an: „Ich bin hier ja nicht bei Ihnen zu Gast; ich werde mir schon nehmen, wenn ich Hunger habe! Außerdem darf ich keine Butter essen und da halten Sie mir sie gerade vor die Nase – das ist echt!“ setzte der liebe Mann knirschend hinzu. Und er warf zwischen jedem Bissen, den er in den Mund steckte, seinem armen Nachbar solche Wutblicke zu, daß dieser unmittelbar nach dem Thee zur Pensionsmutter ging und, an allen Gliedern schlotternd, um einen andern Tischplatz bat.

Der Direktor, dessen Beiname „Unausstehlius“ sich bald in der ganzen Pension eingebürgert hatte, bekam auf diese Weise ein recht abwechslungsreiches Leben. Einen Tag beschwerte er sich über einen Tischnachbar und wurde weggesetzt – den nächsten Tag beschwerte sich ein Tischnachbar über ihn und er bekam einen neuen. So hatte er bald neben jedem gesessen und, wie das Mädchen aus der Fremde, jedem eine Gabe, aber an Grobheit, ausgeteilt; nur die Mutter mit Brunhilden war bisher ausgenommen. Sie saß in dem tief beschämenden Gefühl, daß sie ein Kind unter zwei Jahren besaß, bescheiden und gedrückt mit der Kleinen an einem Nebentisch und beschwor Brunhilden zwischen jedem Löffel Suppe, „gutchen“ zu sein – leider oft vergeblich.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 303. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0303.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)