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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

sie sich nun überzeugt haben, daß dieser Kniff nichts mehr nützt, entschließen sie sich zur Auswanderung; ihre Anzahl betrug 65 im Jahre 1885, fiel 1886 auf 52, dann nacheinander auf 34, 19 und im Jahre 1890 auf 14. Wenn man bedenkt, wie viel der Bevölkerung einer Stadt die Erhaltung dieser Leute kostet, welche rein nur vom Diebstahl leben, so kommt man zum Schluß, daß die auf diesen Titel allein erzielte Ersparnis die Kosten der anthropometrischen Einrichtung deckt.“

Wie nun schon der Name andeutet, beruht die Methode Bertillons in der Hauptsache auf der Messung verschiedener Teile des menschlichen Körpers. Die Person, deren Signalement aufgenommen werden soll, wird einer Reihe von Messungen unterworfen, und zwar in der Art und Weise, wie dies auf unseren Abbildungen dargestellt ist. Der Beamte stellt zunächst in der bekannten Weise die Körperlänge fest, alsdann bestimmt er vermittelst eines an der Wand angebrachten Apparates die Spannweite der ausgestreckten Arme. Hierauf wird an einem dritten Apparat die Sitzhöhe des Betreffenden ermittelt. Mit Hilfe eines Zirkels mißt dann der Beamte die Kopflänge und die Kopfbreite. Ein anderer Maßstab wird rasch in die Hand genommen und mit ihm die Länge und Breite des rechten Ohres festgestellt. Den Schluß bilden Messungen an Gliedern. Man bestimmt die Länge des linken Fußes, des Mittelfingers, des kleinen Fingers und des Vorderarmes. Selbstverständlich werden diese Messungen stets in gleicher Weise, mit gleich gearbeiteten Apparaten, nach genau gegebenen Vorschriften vollzogen und nehmen bei einiger Uebung nur wenige Minuten Zeit in Anspruch.

Der hohe Wert dieser Messungen für das Signalement ist leicht zu erklären. Es giebt wohl viele Menschen, die dieselbe Körperlänge besitzen, aber nur bei einem Bruchteil derselben wird auch die Spannweite dieselben Maße aufweisen und ein noch geringerer Bruchteil wird zugleich dieselbe Sitzhöhe haben. Es giebt aber schwerlich auf der Erde zwei Menschen, bei denen die elf ermittelten Maße: 1. Körpergröße, 2. Spannweite, 3. Sitzhöhe, 4. Länge des Kopfes, 5. Breite des Kopfes, 6. Länge des rechten Ohres, 7. Breite des rechten Ohres, 8. Länge des linken Fußes, 9. Länge des linken Mittelfingers, 10. Länge des kleinen Fingers, 11. Länge des linken Vorderarmes, genau dieselben sein würden. Man hat Hunderttausende von Menschen in dieser Art gemessen, aber zwei gleiche noch nicht gefunden, und man wird sie schwerlich jemals finden, ebensowenig wie in der Natur zwei völlig einander gleiche Blätter vorhanden sind.

Auf Grund solcher Messungen wird die Behörde die Identität einer Person, die einmal festgenommen und gemessen wurde und deren Signalement aufbewahrt wird, jederzeit feststellen können. Umständlich erscheint nur das Auffinden eines Signalements unter den Tausenden, die im Laufe der Zeit auf einem Fahndungsbureau sich ansammeln; aber die sinnreiche Registratur beseitigt die Schwierigkeit. Bertillon giebt darüber in seinem Buche folgende Auskunft: Im Laufe der ersten zehn Jahre sind die anthropometrischen Messungen bei 120 000 Personen erhoben worden, die in jener Zeit die Pariser Gefängnisse bevölkert haben, und wurden auf Blättern von 146 mm Höhe und 142 mm Breite notiert, welche in kleinen offenen Schachteln aufgehoben werden. Die Grundzüge für die Registratur dieser enormen Anzahl Signalementskarten sind folgende:

Die Männer und Weiber sind voneinander getrennt; die letzteren, hier viel weniger zahlreich als die Männer, erreichen die Zahl 20 000. Von den 100 000 männlichen Signalements fallen noch etwa 10 000 jugendliche unter einundzwanzig Jahren weg, weil sie eine besondere Registratur notwendig machen.

Die noch verbleibenden 90 000 Signalements sind vorerst nach ihrer Kopflänge in drei Abteilungen geschieden:

1. Abteilung der kleinen Kopflängen, enthaltend etwa 30 000 Signalements,

2. Abteilung der mittleren Kopflängen, enthaltend gleichfalls etwa 30 000 Signalements,

3. Abteilung der großen Kopflängen, enthaltend dieselbe Zahl Signalementskarten.

Jede dieser drei großen Abteilungen wird nun auf Grund der Kopfbreite in drei Klassen geschieden und nun kommen auf die Unterabteilungen der kleinen, mittleren und großen Kopfbreiten je 10 000 Signalements. Diese Klassen werden auf Grund der Mittelfingerlängen wieder in drei Gruppen gesondert, von denen jede nur noch 3300 Signalements enthält. Auf Grund der weiteren Maße erfolgen neue Scheidungen, bis zuletzt Päckchen von je 60 Signalements erzielt werden. Diese werden zuletzt nach der Augenfarbe in Päckchen von je 12 Signalements zerlegt und diese Zettel sind unter sich nach der Länge des Ohres geordnet.

Nehmen wir nun an, wir hätten zu erforschen, ob eine festgenommene Person, die sich als gerichtlich unbeanstandet erklärt, schon vorher unter einem anderen Namen registriert worden ist! Hierzu werden wir uns an der Hand der sofort aufgenommenen anthropometrischen Signalements zuerst an die Abteilung wenden müssen, welche die Signalements ihrer Kopflänge enthält, dann die Unterabteilung ihrer Kopfbreite suchen und in gleicher Weise nacheinander zu den weiteren Unterabteilungen ihres Mittelfingermaßes, Fußmaßes und Vorderarmmaßes übergehen. So gelangen wir schrittweise zum letzten Paket, welches das von uns gesuchte Signalement enthalten muß, wenn, wohlverstanden, die verhaftete Person schon vorher bestraft und gemessen worden ist.

Selbstverständlich ist dieses System nur für erwachsene Personen, bei welchen sich die Größen der Körperteile nicht mehr oder nicht wesentlich verändern, anwendbar; als Grenze wird dabei das zwanzigste Lebensjahr angenommen. Vervollständigt wird noch das anthropometrische Signalement durch eine „Personenbeschreibung“, die gleichfalls nach bestimmten Regeln vorgenommen wird. Sehr wichtig sind in dieser Hinsicht die Feststellungen der Augenfarbe und der Ohrformen, auf die wir in einem besonderen Artikel zurückkommen werden. Auch etwaige besondere Kennzeichen, wie Narben, Leberflecken u. dergl., die jeder Mensch an sich hat, werden sorgfältig berücksichtigt, und alle diese Merkmale liefern in ihrer Gesamtheit ein so getreues Signalement der betreffenden Person, daß eine Verwechslung völlig ausgeschlossen und die Wiedererkennung gänzlich gesichert ist.

Das anthropometrische Signalement ist auch geeignet, nicht nur bei Bekämpfung der Gewohnheitsverbrecher, sondern auch in anderen Fällen Nutzen zu bringen. Von großem Wert würde eine weitere Verbreitung desselben für die Lebensversicherungsgesellschaften sein. Hofmann erzählt in seinem Lehrbuch der Gerichtlichen Medizin folgenden Vorfall. Im April 1880 wurde im Walde bei Neusohl in Ungarn die verstümmelte Leiche eines Mannes gefunden, der dort ermordet worden war. Bei dem Ermordeten wurden Kleider und Notizen des Viehhändlers G. aus Z. gefunden und in der Leiche wurde die Person des abgängigen G. wiedererkannt. Auch G.s Frau hatte sofort die Leiche für die ihres Mannes erklärt. G. hatte bei zwei Pester Assekuranzgesellschaften sein Leben versichert, und zwar bei der einen mit 10 000 Gulden, bei der anderen mit 5000 Gulden, welche Summen nach seinem Ableben seiner Frau ausbezahlt werden sollten. Eine der Versicherungsgesellschaften leitete jedoch genauere Nachforschungen ein, und nun stellte es sich heraus, daß G. selbst noch am Leben war; er hatte im Walde bei Neusohl einen unbekannten Mann ermordet, demselben einen Teil seiner eigenen Kleider angezogen und auf den Namen G. lautende Notizen in dessen Tasche gesteckt, um die Behörden irrezuführen, augenscheinlich zu dem Zwecke, daß seiner Frau die erwähnten Lebensversicherungsprämien anstandslos ausbezahlt würden. Solche Verbrechen sind wiederholt vorgekommen, auch hat man Leichen fremder Personen untergeschoben, um Lebensversicherungsgesellschaften zu betrügen.

Würden nun die letzteren bei Aufnahme der Police stets ein anthropometrisches Signalement des Versicherten erheben lassen, so würde die Feststellung der Identität der Leichen ungemein erleichtert werden und kein Mensch würde mehr versuchen, Verbrechen wie die obengeschilderten zu begehen, da er im voraus wissen würde, daß er sein Ziel nicht erreichen könnte.

Sehr empfehlenswert würde auch die Einführung des anthropometrischen Signalements bei Pässen und anderen Legitimationspapieren sein. Ein Mißbrauch von seiten unberechtigter Personen, die solche Papiere zufällig auffinden oder stehlen, könnte nicht so leicht vorkommen, und der Unbescholtene könnte mühelos seine Person feststellen lassen, wenn er auf Grund äußerer Aehnlichkeit von einem fahndenden Kriminalbeamten mit einem Gauner verwechselt werden sollte.


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0270.jpg&oldid=- (Version vom 13.7.2023)