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unbewußt an diese Last und tummelt sich vor den Häusern herum, spielt mit den Nachbarkindern oder arbeitet, als wäre ihr das Kindchen angewachsen wie ein Höcker. Stundenlang trägt sie dasselbe umher, und wird dieses schläfrig, so schläft es ein, ohne sich durch das Schütteln beim Laufen und Herumspringen hindern zu lassen; die Händchen fallen schlaff herunter, das Köpfchen baumelt hin und her, fällt zurück oder auf die Seite, daß ich oft fürchtete, jetzt müßte das Genick brechen. Aber es schlief ruhig weiter.

Daß ein Kindchen der Trägerin entfallen würde, kommt äußerst selten vor; wie ein gewandter Naturreiter auf seinem Pferde, so klammert es sich mit den gespreizten Beinchen an die Seiten der Trägerin, die thun und lassen kann, was sie will, es bleibt fest im Sattel. Wird es hungrig, so setzt sich die Trägerin neben Mama, oder vielleicht auf ihren Schoß, das Kleine dreht sich herum und nährt sich an Mamas Brust, ohne daß die letztere es zu halten braucht. Und wie fröhlich, wie still und wohlerzogen sind diese Kinder! Selten habe ich ein japanisches Kind weinen gesehen, niemals schreien gehört; niemals nahm ich schlechtes, ausgelassenes Benehmen wahr; niemals Prügeleien unter Jungen, niemals eine Bestrafung durch die Eltern. Werden sie irgendwie ungebührlich, so droht Mama oder Papa mit dem Oni, dem roten Teufel, der die Kinder holen wird. Der rote Teufel ist ihr größter Schrecken, und man kann sich vorstellen, welches Entsetzen das Kommen eines rothaarigen, rotbärtigen Deutschen etwa unter den Kindern eines Dorfes hervorruft! Sie zerstieben, laufen und verstecken sich in alle Schlupfwinkel.

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Kinderspiele bei einem Volksfeste.

Himmelbetten und Wiegen nach europäischem Muster giebt es in Japan nicht. Das Kleine wird fleißig gebadet, noch dazu in fast brühend heißem Wasser, was ihm aber nicht zu schaden scheint. Arme Leute, die keine eigenen Bäder besitzen, nehmen das Kindchen in die öffentlichen Bäder, wo sie in Gemeinschaft mit anderen Eltern und Kindern ohne irgend welche Scheu in dasselbe Bassin steigen. Unsere Begriffe von Scham sind den Japanern eben unverständlich.

Diese Bäder, der beständige Aufenthalt in der freien Luft, die unfreiwillige Bewegung, welche die Kinder auf dem Rücken ihrer Geschwister machen, scheinen ihrer Gesundheit sehr zuträglich zu sein. Die Sterblichkeit unter den japanischen Kindern ist geringer als bei uns, und die einzige ziemlich allgemeine Krankheit ist ein Hautausschlag auf den Köpfen und Nacken, der aber bald schwindet. Ist er überstanden, dann sehen die Kinder so gesund und kräftig und pausbackig aus wie Posaunenengel, eine wahre Freude für Eltern und Freunde, die das Kind bewundern, die feisten, harten Glieder befühlen und ihm eine glänzende Zukunft prophezeien. Welches Kind ist denn überhaupt in den Augen seiner Eltern nicht das schönste und klügste, das es jemals gegeben hat!

Allmählich lernt das Kleine auch ein wenig sprechen, lange bevor ihm das freie Gehen gelingt. Die japanische Sprache ist ja so klangvoll, einfach und leicht zu erlernen, wenigstens was die notwendigsten Ausdrücke betrifft. Auch bei dem japanischen Kindchen sind die ersten Ausdrücke mama, tata, bebe, nur bedeuten sie ganz andere Dinge als bei uns. Mama heißt Nahrung, Essen, Trinken; bebe heißt Kleid, tata Socken (die Japanerin, selbst die erwachsene, kennt keine Strümpfe, sondern nur Leinwandsocken); mit dem Worte ija wird nein, ich mag es nicht, es ist mir unangenehm etc. bezeichnet. Das Kind lernt nun auch das Gehen, zuerst im Hause, dann außerhalb, in dem Gärtchen, das die meisten japanischen Familien hinter ihren Holzhäusern besitzen, oder auf der Straße, die ja selten von bespannten Fuhrwerken befahren wird und so besonders in Dörfern den gewöhnlichen Tummelplatz der Kinder bildet. Ist das Gehen im Hause gelungen, so wird dem Kinde der Gebrauch der geta oder stelzenartigen Holzpantoffel gelehrt, und es ist staunenswert, mit welcher Leichtigkeit es sich an diese plumpe, schwere Fußbekleidung gewöhnt, in ihnen läuft, springt und den tollsten Schabernack treibt.

Die Eltern verfolgen die Entwicklung ihrer Kinder mit der liebevollsten Zärtlichkeit, ja die Liebe zwischen Eltern und Kindern ist vielleicht die einzige, wahre Liebe, welche die Japaner kennen. Sie bewachen und lehren die Kleinen und strafen sie kaum jemals. Aberglaube hat damit sehr viel zu thun. Wenn Blattern oder epidemische Kinderkrankheiten im Orte wüten, dann schreibt der sorgsame Papa über seine Hausthüre, die Kinder wären nicht zu Hause, damit die bösen Geister sich gar nicht bemühen, die Schwelle zu überschreiten. Vor Lügen werden die Kinder dadurch gewarnt, daß man ihnen sagt, der böse Oni würde ihnen die Zunge ausreißen.

Den Knaben wird gewöhnlich viel größere Freiheit gestattet als den Mädchen. Der Knabe wird ja von selbst seinen Weg machen; er ist der Erbe und Nachfolger des Vaters, dessen Handwerk er erlernt und dem so viele andere Berufszweige offen stehen. Anders das Mädchen. Es muß so erzogen werden, daß es einen Mann findet, dem es nicht nur Gattin, sondern auch Dienerin sein muß. Die Stellung der Frau in Japan ist eben noch eine sehr tiefe und deshalb muß ein Mädchen von Jugend auf freundliche, höfliche Manieren und Unterwerfung lernen. Eine andere Stellung als die einer Gattin und Mutter steht ihm ja nicht offen, und findet es keinen Mann, dann bleibt es fürs ganze Leben von der eigenen Familie abhängig. Selbst wenn es sich verheiratet hat, kann der Gatte, falls ihm seine Frau nicht behagt, sie ohne viele Umstände wieder den Eltern zurücksenden. Dementsprechend wird auch die Erziehung des Mädchens angelegt. Sie muß lernen, einen Mann zu gewinnen und nach der Verheiratung auch für immer zu fesseln. Sie darf keinen eigenen Willen haben, darf weder Unzufriedenheit noch Zorn, Heftigkeit oder Schmerz äußern; alle diese Gefühle muß sie lernen, unter freundlichem Lächeln, unter höflichen, unterwürfigen Manieren und mit einer gewissen Koketterie zu verbergen; sie muß lernen, sich selbst anziehend und den anderen das Leben angenehm und behaglich zu machen.

Glücklicherweise wird ihr dies alles in zartester Weise und vielleicht ganz unbewußt beigebracht. Sie ist ja der Liebling im Hause. Die Eltern und Brüder behandeln sie mit Liebe und Zärtlichkeit, die Diener mit Achtung. Ist sie die älteste Tochter, dann wird sie von den letzteren mit O Jo Sana – etwa „ehrenwerte junge Dame“, von ihren Geschwistern Ané San – „ältere Schwester“ genannt. Ist sie eine jüngere Tochter, dann wird sie von ihren Geschwistern und der Dienerschaft „O San“ – etwa „ehrenwertes Fräulein“ angesprochen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0237.jpg&oldid=- (Version vom 14.11.2020)