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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

neuere Untersuchungen – besonders des ausgezeichneten Turiner Physiologen Mosso – auch mit Sicherheit als solchen erwiesen haben. Körperliche Anstrengungen sind in keiner Weise als zweckmäßige Vorbereitung für geistige Arbeit, noch weniger als zweckentsprechende Erholung im Verlaufe der letzteren zu betrachten. Sie steigern und vergrößern vielmehr bei vorausgegangener Gehirnarbeit nur noch die Ermüdung, indem sie dem Ergebnisse der Gehirnanstrengung noch das der Muskelanstrengung hinzufügen; anderseits sind auch die Muskeln nach vorausgegangener Geistesarbeit weniger leistungsfähig, so daß die Turnübungen selbst unter solchen Umständen mangelhafter ausfallen. Ganz verkehrt ist es daher (wie ich es in einem Lehrplan gefunden habe), eine Turnstunde an den Schluß eines sechsstündigen Vormittagsunterrichts zu setzen; kaum minder verkehrt aber, den Unterricht mit einer Turnstunde zu beginnen, oder die Zwischenpausen (wie ich es auch gesehen habe) durch anstrengende Uebungen, Springen, Stabwerfen und dergleichen auszufüllen. „Erholend“ wirken – dies ist eine beherzigenswerte, durch Kraepelin neuerdings wieder eingeschärfte physiologische Thatsache – bei geistiger Ermüdung nicht körperliche Anstrengung, sondern Ruhe und Nahrungsaufnahme; es gehört daher zu den ersten und wesentlichen Anforderungen der Schulhygieine (wodurch sie aber freilich wieder mit unseren üblichen Lehrplänen in unvermeidliche Kollisionen gerät), behufs dauernder Erhaltung der Arbeitskraft und Gesundheit die dem jugendlichen Alter entsprechende Befriedigung des Schlaf- wie des Nahrungsbedürfnisses in ausreichendem Maße zu sichern.

Noch ein langes, überlanges Wunschverzeichnis ließe sich hier anknüpfen; doch was frommt uns der schönste weihnachtliche Wunschzettel, wenn kein Weihnachtsengel herabsteigen will, ihn zu verwirklichen! Zudem: will man der „Schulnervosität“ gründlich zu Leibe gehen, will man ihre Quellen und Zuflüsse ernstlich abschneiden, so muß man weit über den Rahmen derartiger, so dringender wie sachlich berechtigter Einzelfordernngen hinausgehen und zu einer durchgreifenden Veränderung des Systems und der Methodik unseres gesamten Schulunterrichts schreiten, wie es ja einsichtsvolle Pädagogen und Aerzte schon seit langer, langer Zeit, leider immer und immer wieder vergeblich, angestrebt haben! Man muß, wie erst neuerdings wieder besonders Kraepelin in vortrefflicher Weise dargelegt hat, vor allem mit der vielfach noch rein mechanischen Aneignung des Lehrstoffs brechen, die zu dessen geistiger Erfassung und Verarbeitung so garnichts beiträgt, vielmehr ein schwer zu bewältigendes Hindernis bildet – und die sich, wie vielfache Erfahrungen bestätigen, heutzutage wieder auf den verschiedensten Unterrichtsgebieten, nicht nur bei den Sprachen, sondern auch in Religion und Naturwissenschaften, in Geographie und Geschichte, ja sogar in der Mathematik höchst bedenklich ausbreitet. Was – um nur ein vor kurzem selbsterlebtes Beispiel anzuführen – was soll es frommen, von Schülern der Unterstufe die ganze Bergpredigt auswendig lernen und aufsagen zu lassen, ohne ihnen für das Verständnis dieser schönsten und tiefsinnigsten christlichen Offenbarung den Schlüssel zu bieten? Auf sachliches Beherrschen des Stoffes, auf Reife des Urteils, nicht auf toten Gedächtniskram sollte überall das Ziel gehen – womit dann die so wünschenswerte Abkürzung der Unterrichtszeit schon von selbst und notwendig gegeben sein würde! Noch mehr würde die Erreichung dieses Zieles gefördert werden durch die von Kraepelin dringend befürwortete Trennung der Schüler nach ihrer Arbeitsfähigkeit, nach dem Grade ihrer individuellen Ermüdbarkeit, womit wir wieder an die oben andeutungsweise geschilderten Untersuchungen anknüpfen.

Es sind das ja scheinbar weitgehende Forderungen, deren innere Berechtigung aber doch auch von einsichtsvollen Schulmännern, wie G. Richter, mehr und mehr gewürdigt und anerkannt wird; nur daß sie eben zu ihrer Erfüllung einstweilen noch keinen gangbaren Weg wissen. Es muß aber ein solcher Weg endlich doch gefunden und, wenn gefunden, mit der Energie, die unsern Reformern auf andern Gebieten in den glücklichsten Stunden unserer Geschichte noch niemals versagte, ergriffen und durchgeführt werden! Anläufe sind ja hier und da gemacht – freilich nach der Art unserer Zeit, teils schwächliche teils verfehlte; zumal die Schulkonferenz von 1891 mit dem von ihr eingeführten Zwischenexamen war, nach jetzt wohl ziemlich allgemein feststehendem Urteil, ein solcher verunglückter Anlauf. Suchen wir es also besser und gründlicher zu machen! – und wenden wir uns für das, was not thut, nicht an diese und jene zufällig von der Gunst der Mächtigen getragenen „Autoritäten“, sondern an die Gesamtheit, an die öffentliche Meinung, die mit ihrer tausendköpfigen Vertreterin, der Presse, doch heutzutage eine recht respektable, bei einmütigem Zusammenwirken auf die Dauer fast unwiderstehliche Macht bildet. Wenden wir uns auch vor allem, weit mehr als es bisher geschehen ist, an die Lehrerschaft selbst, der wir mit Recht sagen können „tua res agitur“ – „es ist Deine Sache, um die es sich handelt“ –, da in deren wohlverstandenem Interesse jede volle und durchgreifende Schulreform liegt. Denn alle Uebelstände, die die Schüler treffen, wirken mit fast gleicher Schwere auch auf sie, wenn auch davon aus natürlichen Gründen weniger die Rede zu sein pflegt – und von einer „Schulnervosität“ kann bereits nicht bloß bei den Schülern, sondern auch bei den Lehrern gesprochen werden, von denen (ich rede hier wiederum auf Grund vielfacher eigener Erfahrung) unter den jetzigen Zuständen ein nicht geringer Teil in frühzeitiger Erschöpfung der Arbeitskraft, der Leistungsfähigkeit, und leider auch der inneren Berufsfreudigkeit, körperlich und geistig dahinsiecht.

Große Interessen stehen hier auf dem Spiel; nicht bloß um die Kinder als Einzelmenschen handelt es sich (was auch schon genug wäre), sondern um die Jugend als Ganzes, um die lebenskräftig und lebensfreudig zu erhaltende Zukunft des Volkes; und so dürfen wir an die Wächter und Hüter des Volkswohles mit besonderer Berechtigung den uns von den Schulbänken her geläufigen Mahnruf ergehen lassen: „Videant consules, ne quid res publica detrimenti capiat“ – „Achtung, ihr Konsuln, daß der Staat keinen Schaden leidet!“




Frühlingssturm.

Ein Sausen und Brausen zieht durch die Lüfte,
Es klingt wie das Branden von Meereswogen –
Mir ist, als bringe es heimliche Düfte,
Die fern aus dem Süden herübergezogen.

Der Atem des Frühlings geht durch die Lande,
Das jauchzt und jubelt, das ruft: Es werde!
Das sprengt gewaltsam die fesselnden Bande
Und küßt im Triumph die erwachende Erde!

Vorboten des Lenzes! Willkommen – willkommen
Dem Herzen, das winterlich lag gefangen,
Facht an, ihr Stürme, was halbverglommen,
Nach vollem Leben das heiße Verlangen!

Erwecket aufs neue des Daseins Freude!
Fegt fort aus der Seele das Sorgen und Zagen,
Befreiet mein Herz vom vergangenen Leide
Und lehrt es noch einmal wünschen und wagen!

Doch schone mir, Sturm, die Knospen, die süßen,
Und störe nicht grausam ihr liebliches Keimen!
Ich aber, ich will dich dankbar begrüßen
Und wirken wie du, statt müßig zu träumen!
  Marie Bernhard.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0196.jpg&oldid=- (Version vom 11.7.2023)