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den vier unteren Klassen zusammen 46,4%, in den vier oberen Klassen 57% (also auch wie bei Nesteroff nach oben anwachsend). Das sind doch ganz entsetzliche Zahlen! Und es dürfte bei uns in Deutschland, zumal in unseren Großstädten und vor allem in Berlin, schwerlich besser sein, wenn auch entsprechende schulhygieinische Statistiken bei uns leider noch vollständig fehlen. Wenn ich meinen eigenen, in der Privatpraxis gesammelten Erfahrungen trauen darf, so ist die Zahl schwerer und schwerster Formen der Schulnervosität an den höhern Knabenschulen Berlins – von den Mädchenschulen, wo teilweise auch verwandte Zustände herrschen, mag aus mancherlei Gründen an dieser Stelle vorläufig abgesehen werden – ganz außerordentlich bedeutend. Die Ursache dieses betrübenden Zustandes ist, wie schon angedeutet wurde, natürlich in erster Reihe darin zu suchen, daß ein verhältnismäßig großer Prozentsatz von Kindern von vornherein mit einem nicht normalen Nervensystem, mit Zeichen angeborener oder früh erworbener Nervosität in die Schule hineinkommt, wo sich dann die vorhandene Krankheitsanlage auf so besonders günstigem Nährboden rasch fortentwickelt. Die genaue Zahlbestimmung dieser von Anfang an nervös disponierten Kinder ist allerdings schwierig und bisher noch nicht sicher gelungen; einen ungefähren Anhalt liefern jedoch hier für die Untersuchungen von Schuschny, der bei nicht weniger als 49,5% der Schüler sogenannte „Entartungszeichen“ feststellte – körperliche Merkmale, die freilich nicht immer notwendig mit Nervosität verknüpft sind aber doch auf eine gewisse (meist ererbte) „Belastung“ hinweisen. Von den Vererbungseinflüssen – die übrigens keineswegs immer nachweisbar direkt, von Eltern auf die Kinder, übertragen zu sein brauchen – kommen für die Entstehung und Entwicklung der nervösen Disposition in früher Kindheit noch mancherlei schädigende Einwirkungen in Betracht, von denen hier nur namhaft gemacht werden sollen: durchgemachte körperliche Erkrankungen und chronische Ernährungsstörungen (Rachitis und Skrofulose); ungünstige häusliche Verhältnisse; verkehrte, verweichlichende Erziehung; Mangel an Bewegung in freier Luft und an körperlicher Pflege und Abhärtung; unzureichende und noch mehr ungeeignete Ernährung, verfrühte Gewöhnung an Genußmittel und namentlich an spirituose Getränke, die aus der Diät des Kindesalters unter allen Umständen verbannt bleiben sollten und daher am allerwenigsten, wie es leider noch vielfach geschieht, mit „Gesundheitsrücksichten“ gerechtfertigt werden dürfen; endlich auch Gewöhnung an unpassende, für das kindliche Alter ungeeignete Zerstreuung und Unterhaltung.

Von den gewöhnlichen Zeichen der Schulnervosität pflegt man den Kopfschmerz als eins der regelmäßigsten, frühesten und sonach am meisten charakteristischen zu betrachten: und in der That wird dieser sogenannte „Schulkopfschmerz“ in den hierhergehörigen Fällen fast niemals vermißt, wenn er sich auch nach Beschaffenheit, Dauer, Ausdehnung und Heftigkeit in sehr verschiedener Form äußert. In der Regel handelt es sich dabei um die als „Kopfdruck“ vorzugsweise bezeichneten, dumpfen und pressenden Empfindungen, die bald ziemlich gleichmäßig über den ganzen Kopf, bald über eine Kopfhälfte verbreitet, bald mehr an einzelnen Stellen, namentlich in der unteren Stirngegend (Oberaugenhöhlengegend) und im Hinterkopf, lokalisiert sind, und mit denen sich übrigens namentlich bei erblich disponierten Kindern schon in frühen Jahren oft regelrechte Migräneanfälle mit Frost, Gähnen, Uebelkeiten, Augenflimmern und den sonstigen charakteristischen Begleiterscheinungen solcher auf Gefäßkrampf und örtliche Blutleere innerhalb des Gehirns hindeutenden Anfälle verbinden. Im übrigen werden die Zeichen der Kopfneurasthenie in sehr mannigfaltiger Weise ergänzt und vervollständigt durch Schwindelgefühle, Benommenheit, Unfähigkeit aufzumerken und dem Unterrichte zu folgen (ein Umstand, den man von spezialistischer Seite mit den bei solchen Kindern allerdings sehr häufigen Lokalaffekten der Nase und des Nasenrachenraums in nähere Beziehung gebracht und mit dem besonderen Fremdnamen „Aprosexie“ belegt hat) – wie überhaupt durch Lern- und Denkunfähigkeit, Arbeitsunlust, beständige Müdigkeit und dennoch Schlaflosigkeit oder vielfach gestörten, unruhigen Schlaf mit plötzlichem Erwachen und Auffahren, selbst lautem Aufschreien (dem sogenannten pavor nocturnus). Weiterhin finden wir nicht selten, zumal in ernsteren und vorgeschrittenen Fällen, motorische Reizerscheinungen, Zucken in den Augenlidern und in anderen Gesichtsmuskeln oder Handmuskeln, Hand- und Zungenzittern oder andere Formen von Muskelkrampf bis zu dem in diesem Alter so häufigen „Veitstanz“ und zu schweren hysterieähnlichen Krampfzuständen; abnorme Reflexsteigerungen, abnorme Pupillenweite und Ungleichheit beider Pupillen, Gesichtsfelddefekte, allerlei Sehstörungen, schließlich Sprachstörungen, namentlich bei gesteigerter Erregung, in Form von Wortvergessen und Wortverwechslung. Als gemeinsame Grundlagen dieser vielen und mannigfachen Störungen erkennen wir in zahlreichen Fällen die Blutarmut, die Schwäche der Herzthätigkeit und der Cirkulation mit allen für sie charakteristischen Erscheinungen, dem beschleunigten, schwachen oder ungleichen Herzschlag, der blassen oder jäh und plötzlich wechselnden Gesichtsfarbe, den kalten Händen und Füßen, den kalten Schweißen, Frostgefühlen, der Neigung zu Nasenblutungen, die, durch mangelhafte Ernährung der Gefäßwände und durch Lokalerkrankungen begünstigt, auch ein so häufiges und gefürchtetes Symptom der „Schulnervosität“ bilden; endlich die Appetitlosigkeit, Abmagerung, die Störungen der Nahrungsaufnahme und Verdauung, der gesamten Ernährung. – Es soll und will dies natürlich kein vollständiges Symptomenverzeichnis sein, was übrigens auch um so unausführbarer wäre, als die Konturen des Krankheitsbildes keineswegs fest umzogen, sondern vielfach schwankend sind und namentlich nach oben hin, bei den schwereren Formen, in anderweitige chronische Krankheitszustände des Nervensystems (Veitstanz, Hysterie, Epilepsie, Psychosen) ohne scharfe Abgrenzung übergehen. Das Gesagte wird aber genügen, um für gebildete Laien das Wesen des Zustandes einigermaßen zu kennzeichnen und ihnen jedenfalls von dem vollen Ernst und der Tragweite der Sache eine Andeutung zu geben.

Doch nun der wichtigste Punkt: wodurch und in welcher Weise, vermöge welcher Konstruktions- oder Organisationsfehler wirkt denn eigentlich die Zchule, sei es im Sinne direkter Veranlassung dieser Zustände, sei es, bei schon gegebener Veranlagung, fördernd und verschlimmernd? – Hier kommen wir auf die so vielbesprochene Frage der „Schulüberbürdung“, die ebenso einseitig und übertrieben von den Einen als wahre Pandorabüchse alles Unheils hingestellt, wie von Anderen gänzlich forteskamotiert worden ist, und der man doch eine recht handgreifliche Realität nicht abstreiten kann, falls man nur eben den Ausdruck nicht in allzu engem und wörtlichem Sinne nimmt, sondern als bequeme Gesamtbezeichnung einer Reihe einzelner, das kindliche Nervensystem schädigender Schuleinwirkungen auffaßt.

Die Schule bewirkt diese Schädigung hauptsächlich in zweierlei Weise: einmal durch Ueberspannung ihrer Ansprüche an Schul- und häusliche Arbeitszeit, also durch Auferlegung einer quantitativ zu hoch gegriffenen Leistung, und die damit zusammenhängende Verkürzung der dem Zchulalter entsprechenden Erholungs- und Zchlafzeit; sodann durch die Auferlegung fast ununterbrochener einseitiger Kopfarbeit (Gehirnarbeit), also durch eine auch qualitativ ungeeignete Art der Leistung, bei Ausschluß oder doch ungenügender und vielfach selbst fehlerhafter Verwertung ausgleichender Muskelarbeit.

Für den speziellen Nachweis dieser schädigenden Wirkungen selbst und der Bedingungen ihres Zustandekommens fehlte es bis vor kurzem freilich ganz und gar an genauen, nach Wissenschaftlicher Methodik angestellten schulhygieinischen Untersuchungen; ein Mangel, dem aber die letzten Jahre mit den vortrefflich durchgeführten und in allen wesentlichen Punkten übereinstimmenden und sich ergänzenden Versuchen und Studien von Sikorski, Burgerstein, Laser, Hoepfner, Kraepelin, Griesbach und G. Richter aufs erfreulichste abgeholfen haben, so daß damit den früher wohl schon namentlich in ärztlichen Kreisen herrschenden Ansichten eine festbegründete wissenschaftliche Beweisunterlage gegeben worden ist. Ich kann auf die näheren Einzelheiten natürlich nicht eingehen, halte aber die Ergebnisse der eben genannten Aerzte und Schulmänner doch für wichtig genug, um sie wenigstens in ihren Hauptzügen auch weiteren Leserkreisen zur Kenntnis zu bringen.

Die dankenswerten Untersuchungen von Burgerstein, Hoepfner, Kraepelin und anderen beziehen sich vor allem auf die genaue Feststellung der durchschnittlichen Ermüdbarkeit der Schulkinder. Wie Kraepelin mit Recht hervorhebt, stellt die Schule an ihre Zöglinge tagtäglich die Forderung, ein bestimmtes Maß von Verstandesarbeit zu leisten, ohne daß wir darüber im klaren sind, ob das jugendliche Gehirn wirklich imstande ist, diese Forderung ohne

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0194.jpg&oldid=- (Version vom 31.8.2020)