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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Frau ich hätte werden mögen, ja, von dem ein einziges freundliches Wort mir Jahre meines Lebens wert gewesen wäre – aber für ihn war ich nicht die Rechte gewesen. Das war vorbei!

Wir sahen uns natürlich zuweilen, das Städtchen war ja zu klein, als daß wir ganz aneinander hätten vorübergehen können, und ich horchte auf jedes Wort, das ich irgendwo über ihn hörte. Er gewann schnell einen großen Patientenkreis und Kranke und Gesunde waren seines Lobes voll. Alles an ihm war so echt: die Tüchtigkeit, die Teilnahme und alles. Natürlich sprachen wir auch miteinander, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ; aber nur wie zwei Menschen miteinander sprechen, die sich oberflächlich kennen und eine nähere Bekanntschaft nicht wünschen. Ich kann nicht behaupten, daß ich mich hinterher jemals sehr beglückt gefühlt hätte.

Am ersten Pfingsttage war großes sogenanntes Familiendiner bei Tante Jule. Das war alljährlich so, Tante Jule ließ sich das nicht nehmen, das heißt, eigentlich war es kein ganz echtes Familiendiner, sondern es wurden allerlei Menschen zusammen eingeladen, die sich gegenseitig duzten, beonkelten und betanteten, ohne in Wirklichkeit miteinander verwandt zu sein.

„Ich habe diesmal ein paar Fremde mit eingeladen, Kinder, nehmt’s nicht übel,“ flüsterte uns Tante Jule zu, als wir eintrafen, „ein paar verlorene Junggesellen, die ich doch einmal haben mußte, Es ist gutes Volk, ich hoffe, sie werden nicht stören. Ihr seid die Letzten, wir können gleich zu Tisch gehen. Du gehst mit Doktor Forst, Lene – habe ich Dir nicht etwas Nettes ausgesucht?“

„Mit wem?“ fragte ich, erschrocken zurückfahrend.

Tante Jule lachte. „Er beißt nicht, Kind. Hast Du was gegen ihn, daß Du solch ein Gesicht machst? Dann mußt Du Dich an Deinen Nachbar zur Rechten halten, ändern läßt es sich nun nicht gut mehr. Also – darf ich bitten, meine Herrschaften?“

Stumm legte ich meinen Arm in den des Doktors, den er mir schweigend bot. Still und ernsthaft saßen wir bei Tische nebeneinander. Wenn er sprechen wollte, so wandte er sich an seine linke Nachbarin; wenn ich glaubte, mich anstandshalber unterhalten zu müssen, so redete ich meinen Nachbar zur Rechten an. Wenn alle Gläser aneinander klangen – die unsrigen begegneten sich nicht, und nur einmal, ein einziges Mal, als Onkel Gerichtsrat den Toast auf „was wir lieben“ ausbrachte, den er sich nie entgehen ließ, fühlte ich, daß mich meines Tischherrn Blick verstohlen traf. Ich wurde heiß und rot, und das Glas zitterte mir in der Hand, aber stumm und steif saßen wir nebeneinander wie zuvor. Jedoch mochte es in dem allgemeinen lebhaften Gespräch nicht sehr auffallen, wenigstens sagte niemand etwas darüber.

O, was für ein langes, langes Mittagessen es war! Und doch, daß ich’s nur gestehe, ein Tröpfchen Seligkeit lag dennoch darin, nur neben ihm zu sitzen, seine Nähe zu fühlen – schmerzliche Seligkeit!

Und nun endlich waren sie alle satt. Zeit genug hatten sie dazu gebraucht!

„Große Promenade durch den Garten, jeder Herr führt seine Dame!“ kommandierte Onkel Gerichtsrat, der sich nie wohler fühlte, als wenn er den Festordner machen konnte.

Und so geschah es. Die Alten voran, die Jungen hinterher, so stiegen alle hinab in langem Zuge in den frischen, frühlingslachenden Garten, der im Schmuck von Goldregen, Syringen und Rotdorn wie ein kleines Feenland aussah.

Wir beide hatten einen Augenblick gezögert, ehe wir uns noch einmal wieder zusammenfügten; so kam es, daß wir die Letzten waren.

„Ich glaube – wir können es uns ersparen,“ sagte ich schnell atmend, „der Zug ist so lang, es bemerkt niemand, wenn wir fehlen.“ Und ich versuchte, meinen Arm aus dem seinigen zu ziehen.

„Ist es Ihnen so schrecklich, neben mir zu gehen?“ fragte er sanft. Es klang ganz traurig. Wie – konnte er noch so zu mir sprechen?

„Ja!“ und auf einmal rollten mir, ich wußte selbst nicht, wie es zuging, zwei große Thränen über die Wangen. Ich glaube, sie hatten mir während all der letzten Stunden in den Augen gestanden und nur auf den passenden Augenblick gewartet, um hervorzubrechen.

Das große Eßzimmer war leer, sie waren schon alle unten im Garten. Hastig machte ich meinen Arm frei, lief ins Nebenzimmer, warf mich in einen Lehnsessel und weinte zum Herzbrechen.

Aber schon kniete der, dem ich entfliehen wollte, neben mir und suchte mir die Hände vom Gesicht zu ziehen. „Lene, Lene, ums Himmelswillen, weinen Sie nicht! Seien Sie mir wieder gut! So kann es ja doch nicht zwischen uns bleiben, wir können es ja beide nicht aushalten. Ich bin ja ein Thor gewesen damals, als ich meinte, ohne Sie fertig werden zu können, verzeihen Sie mir! Dieses ganze Jahr bin ich meines Lebens nicht froh geworden. Ich habe Sie lieb, Lene – ich mag nicht sein ohne Sie! Endlich muß ich es Ihnen einmal sagen; dieses ganze Jahr habe ich es nicht gewagt, ich hatte Sie zu tief gekränkt. Schreiben Sie Romane so viel Sie wollen, wenn Sie es nun einmal nicht lassen können – nur habe mich lieb, Lene, und werde meine Frau!“

Ich denke mir gewiß, er hat noch mehr gesagt, aber ich entsinne mich dessen nicht genau. Für mich ging alles unter in einem großen, großen Glücksgefühl.

„Komm,“ sagte er weich, mich an sich ziehend und mir über das Haar streichend, „wir wollen uns lieb haben so wie wir sind, auch Geduld miteinander haben, wenn es einmal sein muß – nur uns niemals wieder erzürnen, nicht wahr?“

„Niemals! O, es war zu schrecklich!“ und ich schauderte noch in der Erinnerung, so daß er mir einen beruhigenden Kuß geben mußte.

„Und wenn meine kleine Frau denn durchaus ein Blaustrumpf sein muß – wenn es gar nicht anders geht – mir soll sogar das recht sein, wenn ich Dich nur habe, Lene!“

„Nein,“ sagte ich lachend und errötend, „auf eine berühmte Frau mußt Du verzichten, Romane schreibe ich nicht wieder – mein Lebtag nicht!“

„Nicht?“ beinahe klang es enttäuscht. Der Gute, Liebe: er war bereit, ein Opfer zu bringen, und nun verlangte ich’s gar nicht!

„Und,“ sagte ich ein bißchen verlegen, an seinem Rockknopf drehend, „ich glaube – ich bin nun wirklich – in allem Ernst ein bißchen so geworden, wie Du damals dachtest, daß ich wäre. Ich habe mir so viel Mühe gegeben. Damals täuschtest Du Dich selbst, ich habe nicht daran gedacht, es zu thun, ganz gewiß nicht.“

„Aber das habe ich doch nicht –“

„Doch, doch, damals glaubtest Du es.“

Er schwieg einen Augenblick. „Wenn ich das wirklich einmal eine kurze Weile that – nein, komm, wir wollen von etwas anderm sprechen!“

„Ja gerne, aber Du hörst nicht auf das, was ich sage. Ich bin nun wirklich ein furchtbarer Scheuerbesen geworden. Wenn Dir’s nur nicht zu arg wird mit meiner Wirtschaftlichkeit.“

„Du bist ein –“

„Ja.“

„Oh! – aber was fange ich denn nun an mit all meinem Edelmut?“

„Ja, das kann ich unmöglich wissen,“ sagte ich und zuckte mit den Schultern, „ich habe keine Verwendung dafür.“

Worauf wir beide glücklich lachten wie ein paar Kinder – und dann kamen leider die anderen, alle die alten, langweiligen Onkel und Tanten, und das Schönste war vorbei.

Nein, nein, es ist nicht wahr! Das Schönste kam erst, damals, als wir Hand in Hand in unser gemeinsames Heim traten – und dann nachher, als unser Aeltester getauft wurde; und manchmal jetzt, wo wir nach zehn Jahren so fröhlich und ruhig miteinander hinleben und eins das andere versteht ohne viel Worte, da meine ich gar, das Allerschönste und Beste sei nun erst gekommen.

Ein rechter, echter Scheuerbesen bin ich zwar trotz allem nicht geworden. Es liegt nicht in mir. Aber Franz ist nicht anspruchsvoll, er nimmt auch so fürlieb mit mir. Er hält es sogar für angenehmer, daß „alle Tage Sonntag bei uns ist“, als wenn immer Sonnabend wäre. Das ist natürlich Geschmackssache.

Mein bißchen Hauspoesie hat er sich immer gutwillig gefallen lassen, nachdem ich erst einmal gewagt hatte, schüchtern damit vor sein Richterauge zu treten. Sie hat ihm nie eine Suppe versalzen oder einen Braten verbrannt, sie geht auch nicht mit aufgelösten, wallenden Haaren einher, sondern im schlichten Gewand. Ich habe nun erkannt, daß sie das ganz gern thut.

Heute begehen wir unseren zehnjährigen Hochzeitstag.

Vor meinem Platz am Frühstückstisch prangt, wie alljährlich an diesem Tage, ein herrlicher Rosenstrauß, und ich küsse dafür den guten Mann, der nie vergißt, mich zu erfreuen.

„Noch viele, viele Jahre so miteinander, Lene, nicht wahr? Erst noch bergan und dann bergab Hand in Hand,“ sagt er und nickt mir zu. Ich nicke auch, erst ihm zu und dann noch leise vor mich hin, und sage dann nicht mehr viel, bis unsere beiden Großen sich auf den Schulweg gemacht haben und das Kleine in den Kindergarten gebracht ist.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0176.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)