Seite:Die Gartenlaube (1896) 0166.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Der Ruf seiner Heilquellen wurde in alle Welt hinausgetragen und der alljährliche Besuch des Hofes zog eine Menge der reichsten und vornehmsten Familien hierher. Das kleine, weltabgeschiedene Bergstädtchen hatte sich im Laufe eines Jahrzehnts zu einem Badeorte ersten Ranges aufgeschwungen. Es verdankte dies schnelle Emporblühen allerdings in erster Linie der Energie und der unermüdlichen Thätigkeit des Doktor Bertram, der denn auch eine Hauptperson in Kronsberg war. Er nahm in allen Kurangelegenheiten die erste Stelle ein, obgleich sich ihm nach und nach ein Dutzend Kollegen zugesellt hatte, und genoß in dieser Eigenschaft auch den Vorzug, in Gemeinschaft mit dem Leibarzt die alljährliche Kur der Fürstin zu leiten. Selbstverständlich wollten die vornehmsten Kurgäste nun auch von ihm behandelt sein, er galt überhaupt für einen der tüchtigsten und erfolgreichsten Aerzte. Seine Beziehungen zum Hofe hatten ihm auch bereits Titel und Orden eingetragen – kurz die Kronsberger hatten alle Ursache, ihrem Hofrat Bertram dankbar und auf ihn stolz zu sein, und das waren sie denn auch im vollsten Maße.

In einiger Entfernung von der Stadt, auf einer mäßigen Anhöhe, lag eine kleine Besitzung, ganz einsam, denn der Badeort mit seinen Villen und Anlagen zog sich drüben an der anderen Seite des Thales hin. Aus dunklen Tannenwipfeln blickte das hohe Giebeldach eines altertümlichen Hauses hervor, das offenbar aus dem vorigen Jahrhundert stammte. Es mochte wohl ursprünglich eine Art Jagdhaus gewesen sein, dessen Besitzer hier in der wald- und wildreichen Alpengegend dem Weidwerk oblagen, denn ein mächtiges in Stein gemeißeltes Hirschgeweih über dem Eingang deutete noch auf eine solche Bestimmung hin. Eine breite, niedrige Steintreppe mit halb eingesunkenen moosbewachsenen Stufen führte zu einer kleinen Terrasse und zu der Hauptthür, deren schwere eichene Flügel augenblicklich offen standen. Man sah eine tiefe gewölbte Flurhalle, zu deren beiden Seiten die Zimmer lagen, während im Hintergrunde eine gewundene Treppe mit geschnitztem Geländer in den oberen Stock führte. Das Haus hatte, obwohl sich hier und da Anzeichen des Verfalls kundgaben, doch etwas Vornehmes, freilich auch etwas Düsteres.

Die Lage war sehr schön, man übersah von hier aus das ganze Thal mit den umliegenden Hochgipfeln und der Stadt im Vordergrunde. Ein umfangreicher schattiger Garten zog sich an der Berglehne hin, aber er machte gleichfalls einen düsteren Eindruck mit seinen hohen, alten Bäumen und dem dichten dunklen Gesträuch, das hier üppig wucherte; es fehlte jeder Blumenschmuck. Eine ziemlich hohe Mauer schloß die Besitzung nach allen Seiten hin ab, nur durch das eiserne Gitterthor hatte man einen Blick auf das Haus, und das Ganze machte den Eindruck vollster Abgeschlossenheit.

Zur Rechten der Eingangshalle befand sich das Wohn- und Empfangszimmer, ein großes Gemach, mit dunkelgrünen Vorhängen an den Fenstern, die von den Tannen draußen dicht beschattet wurden, und altertümlichen Möbeln, deren Polster dasselbe dunkle Grün zeigten. An den Wänden hingen nur ein paar alte sehr wertvolle Kupferstiche in geschnitzten Rahmen, sonst fehlte es an jedem Ausschmuck: keine Blumen, nichts von all den zierlichen Kleinigkeiten, welche die Wohnränme erst freundlich und behaglich machen.

In dem Lehnstuhl am Fenster saß ein alter Herr, der offenbar schon über die Siebzig hinaus war, eine hagere, gebeugte Gestalt mit spärlichen weißen Haaren und tief eingesunkenen Zügen, die einen ungemein herben, verbitterten Ausdruck hatten. Nur die Augen waren noch scharf und klar und gaben Zeugnis davon, daß in diesem gebrechlichen Körper noch volle geistige Frische wohnte.

Ihm gegenüber saß Doktor Bertram, der sich in den zehn Jahren nicht allzuviel verändert hatte. Aus dem jungen, übermütigen Schiffsarzt war freilich ein stattlicher Mann geworden, der Fremden gegenüber auch das ernste gesetzte Wesen zeigte, das seine jetzige Stellung ihm zur Pflicht machte, aber in den Augen blitzte noch immer der alte lustige Uebermut und das ganze Aussehen des nunmehrigen Hof- und Sanitätsrates bewies ja auch zur Genüge, daß er mit sich und mit der ganzen Welt außerordentlich zufrieden war.

„Ich kann Ihnen nur wiederholen, was ich nun schon seit Jahr und Tag predige,“ sagte er soeben. „Luft und Bewegung, soviel Ihre Kräfte es nur erlauben, und vor allen Dingen Zerstreuung, damit Sie nicht den lieben langen Tag und auch noch die halbe Nacht hindurch über Ihren verwünschten Büchern sitzen. Aber Sie machen sich ja ein besonderes Vergnügen daraus, immer das Gegenteil von dem zu thun, was ich verordne. Ich habe noch nie einen so widerspenstigen Patienten gehabt wie Herrn Professor Helmreich!“

„Ich gehe täglich in den Garten,“ erklärte der Professor ärgerlich über die Strafpredigt, die ihm gehalten wurde, „und die Luft habe ich aus erster Hand, sobald ich nur das Fenster öffne.“

„Jawohl, die schönste Moderluft, die Sie mit einer förmlichen Kunst gezüchtet haben hier in unseren gesegneten Alpen. In Ihren Garten fällt schon längst kein Sonnenstrahl mehr und die Tannen wachsen Ihnen nachgerade zu den Fenstern hinein. Warum lassen Sie nicht endlich einmal lichten? Ich sollte nur ein paar Tage hier Herr und Meister sein, die Hälfte von all dem Baum- und Strauchzeug ließe ich niederschlagen.“

„So lange ich lebe,“ fiel Helmreich mit vollster Gereiztheit ein, „wird kein Baum angerührt, kein Strauch ausgerodet. Das leide ich ein für allemal nicht!“

„Nun dann behalten Sie in Gottes Namen Ihren Rheumatismus,“ versetzte Bertram trocken. „Wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen.“

Er stand auf und machte Miene, zu gehen. Nunmehr schien es dem alten Herrn doch geraten, einzulenken, er sagte in nachgiebigerem Tone: „Das Studieren dürfen Sie mir nicht verbieten. Es ist das einzige, was mir das Dasein noch erträglich macht. Wenn Sie mir meine Bücher nehmen, nehmen Sie mir die Lebenslust.“

„Das weiß ich,“ entgegnete der Arzt ernster. „Deshalb bestehe ich auch nicht darauf, daß Sie das Studium aufgeben, obwohl es das Beste für Ihren Zustand wäre. Aber schonen sollen Sie sich und Ihren dreiundsiebzig Jahren nicht mehr zumuten, als was Sie in der Vollkraft des Lebens geleistet haben. Hier im Hause kommen Sie nicht los von den Büchern, deshalb müssen Sie täglich auf ein paar Stunden hinaus. Wenn Ihnen das Gehen beschwerlich fällt, so fahren Sie doch aus.“

„Ausfahren?“ wiederholte der Professor, förmlich beleidigt von diesem Vorschlag. „Wohin denn? Wohl auf die Promenade Ihres vielgerühmten Kurortes, damit die alberne Gesellschaft dort noch etwas mehr zum Gaffen hat?“

„Was haben Sie denn eigentlich gegen den Kurort? Die Saison dauert kaum drei Monate, während der ganzen übrigen Zeit leben wir in unserem Hochalpenthal abgeschieden wie die Trappisten und stecken acht Monate lang im Schnee wie die Eskimos – mehr können Sie doch wirklich nicht verlangen!“

„Und wahrend des Sommers sitzt dafür die halbe Welt in Kronsberg, und der Hof auch noch dazu!“ grollte der Professor. „Nicht einen Schritt kann man aus dem Hause thun, ohne auf Menschen zu stoßen, in seinen eigenen vier Pfählen ist man nicht sicher vor ihnen.“

Bertram lachte, es war noch das alte frische Lachen, das auch der jetzige Hofrat nicht verlernt hatte.

„Nun, ich dächte, Sie verstehen es schon, sich ungebetene Gäste vom Leibe zu halten. Erstens haben Sie Haus und Garten wie eine Festung mit einer Mauer umzogen, damit nur ja kein Mensch einen Blick hineinwerfen kann, zweitens haben Sie sich den „Wotan“ angeschafft, dies Ungetüm, das auf jeden Fremden losstürzt, der sich nur dem Gitterthore naht, und schließlich taucht noch der alte Bastian auf, mit seiner unverwüstlichen Grobheit und seiner unumstößlichen Ueberzeugung, daß die Gäste überhaupt nur da sind, um hinausgeworfen zu werden. Wenn man die drei Instanzen glücklich durchgemacht hat, dann kommt erst das Hauptverfahren, dann kommen Sie, Herr Professor, und daß das gerade keine Herzerquickung ist, haben die paar armen Kurgäste erfahren müssen, die auf die unselige Idee gerieten, hier oben die Aussicht zu bewundern! Sie schlagen noch jetzt drei Kreuze bei der Erinnerung daran.“

„Das ist ja sehr freundlich von Ihnen, mir dergleichen ins Gesicht zu sagen!“ rief Helmreich grimmig. „Denken Sie vielleicht, es macht mir Vergnügen, fortwährend Ihre Strafpredigten anzuhören und mich in all meinen Gewohnheiten maßregeln zu lassen? Wenn Sie nicht mein Arzt wären –“

„Dann hätten Sie mich auch schon längst hinausgeworfen! Genieren Sie sich nicht, Herr Professor, wir stehen ja auf dem Standpunkt gegenseitiger Offenheit! Eben deshalb bestehe ich jetzt im vollen Ernste darauf, daß Sie meine Verordnungen befolgen; geschieht es nicht, dann komme ich nicht wieder, Sie mögen noch so oft schicken – nun machen Sie, was Sie wollen!“

Der alte Herr brummte etwas Unverständliches, aber er

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0166.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)