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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Nr. 11.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (10. Fortsetzung.)

Der Mai war gekommen und die Frühlingsstürme brausten um die Gipfel des Hochgebirges, die noch ihr Schneegewand trugen. Der Winter war diesmal ungewöhnlich hart und lang gewesen und auch jetzt wich er nur langsam und zögernd dem erwachenden Frühling.

In der kleinen Bergstadt, die, von einem alten, einst befestigten Schlosse überragt, so malerisch inmitten des Thales lag, grünten schon die Linden, aber die Häuser und Villen des nahen Badeortes waren noch größtenteils geschlossen. Kronsberg war früher wenig bekannt gewesen, es lag tief im Herzen des Gebirges, abseits von all den großen Touristenwegen, und die nächste Eisenbahnstation war volle drei Stunden entfernt. Da kamen nur selten Fremde in das abgeschiedene Städtchen. Man hatte zwar in unmittelbarer Nähe desselben eine Heilquelle entdeckt und infolgedessen war ein kleiner Badeort entstanden, er wurde aber wenig besucht. Im Hochsommer pflegten ein paar hundert Kurgäste zu kommen, die teils in dem neuen Badehause, teils in der Stadt selbst wohnten. Es herrschten die allereinfachsten Verhältnisse und in weiteren Kreisen wußte man kaum etwas davon.

Da hatte sich vor etwa zehn Jahren ein junger aber sehr tüchtiger Arzt in Kronsberg niedergelassen. Die Heilquelle hatte seine Aufmerksamkeit erregt, er behauptete, sie habe eine ganz bedeutende Zukunft, da auch die klimatischen Verhältnisse die günstigsten seien, und in der That nahm der kleine Kurort unter seiner Leitung einen ungeahnten Aufschwung.

Doktor Bertram, der eine junge Frau mitbrachte, hatte von seiner früheren Stellung als Schiffsarzt her Bekanntschaften und Verbindungen an allen Ecken und Enden der Welt und wußte sie für seine neue Heimat zu interessieren. Ein Buch, das er über die Kronsberger Quellen geschrieben und an die bedeutendsten Aerzte gesandt hatte, lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit darauf, und ein paar glückliche und erfolgreiche Kuren begründeten den Ruf des aufstrebenden Badeortes wie den des jungen Doktors. Die herrliche Lage und die an sich schon heilkräftige Alpenluft thaten das übrige. Die Gäste strömten immer zahlreicher herbei und bald erhob sich vor den Thoren der Stadt eine ganz neue Ortschaft, wo im Sommer ein reges Badeleben herrschte.

Ueberdies kam den Kronsbergern noch ein ganz besonderer Umstand zu Hilfe. Die Fürstin des Landes war seit Jahren leidend, das Uebel widerstand allen Kuren und Bädern und drohte jetzt eine sehr gefährliche Wendung zu nehmen. Da beschloß der Leibarzt, dem Doktor Bertram gleichfalls sein Buch zugesandt hatte, einen Versuch mit den Kronsberger Quellen zu machen, die bei ähnlichen Zuständen angewendet wurden, und der Erfolg war ganz überraschend. Das Leiden der fürstlichen Frau besserte sich bedeutend und die Wiederholungen der Kur in den nächsten Jahren beseitigten es beinahe ganz. Schließlich wurde das Schloß, das sich über der Stadt erhob, aber von seinem bisherigen Besitzer nie benutzt worden war, von seiten der fürstlichen Familie angekauft und eingerichtet, um bei der regelmäßigen Wiederkehr einen eigenen Wohnsitz zur Verfügung zu haben.

Damit war der Eintritt Kronsbergs in die Reihe der großen Kurorte entschieden.


Ein Wettersteiner Dirndl.
Nach dem Gemälde von Friedrich Prölß.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0165.jpg&oldid=- (Version vom 11.7.2023)