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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Kreisen hervorgerufen hat ähnlich der gegenwärtigen Entdeckung. Man glaubte damals ebenfalls einer neuen Naturkraft gegenüberzustehen, welche allerhand nützliche Anwendungen für das tägliche Leben, namentlich in ärztlicher Beziehung, versprach, und welche zugleich durch das Geheimnisvolle, das sie umgab, auf mystisch angelegte Gemüter einen besonderen Reiz ausübte. Auch haben die Anhänger des Spiritismus nicht versäumt, sich zur Erhärtung ihrer Theorien von Zeit zu Zeit ebenso auf die Od-Lehre wie auf die Erscheinungen der Hypnose und Suggestion zu berufen.

Die Hoffnungen, welche man damals an die neue Entdeckung knüpfen zu dürfen glaubte, haben sich allerdings im Laufe der Zeit nicht erfüllt; vielmehr ist die ganze Lehre, wie bereits bemerkt, bald in Vergessenheit geraten. Diese Vergessenheit würde einem erneuten Aufleben weichen, wenn es gelingen sollte, die vermutete Beziehung oder Verwandtschaft mit der Röntgenschen Entdeckung nachzuweisen. Mag dies nun gelingen oder nicht, jedenfalls darf das große Publikum den Anspruch erheben, über die Möglichkeit einer solchen Beziehung durch eine erneute Darlegung der wissenschaftlich nicht genügend begründeten Od-Lehre aufgeklärt zu werden. Dies zur Rechtfertigung der folgenden Ausführungen.

Das Od (der Name stammt aus dem Nordischen) ist nach seinem Entdecker K. von Reichenbach eine bisher unbekannte Naturkraft, ein sogenanntes Dynamid, in ihren Gesetzen und Erscheinungsweisen ähnlich der Elektrizität, dem Magnetismus, der Wärme und eigentlich zwischen diesen drei Naturkräften mitten inne stehend, doch aber durch ein besonderes Verhalten bestimmt von ihnen unterschieden. Das Od ist überall, es durchdringt das ganze Weltgebäude im kleinsten wie im größten, es haftet an allen Personen und Gegenständen und strömt fortwährend von ihnen aus, unter den letzteren am stärksten von den Metallen und von den einfachen Stoffen überhaupt, am schwächsten von Holz, Baumwolle u. dergl. Das Od verhält sich gerade so wie der Magnetismus vollkommen polar, und auf diesem polaren Verhalten beruhen alle seine Erscheinungsweisen, welche ohne dasselbe unsern Sinnen ganz verborgen bleiben würden. Grundgesetz dabei ist, daß sich, ebenso wie bei dem Mineralmagnetismus, ungleichnamige Pole einander anziehen, gleichnamige abstoßen. Auf diese Weise wird das Od teils dem Auge, teils dem Gefühl bemerkbar; der positive Pol dem Auge als gelbrote, unangenehme, häßliche Farbe, dem Gefühl durch Erregung einer lauen, widrigen Empfindung, der negative, dem Nordpol des Magneten entsprechende, dem Auge als schöne, blaue oder bläuliche Farbe, dem Gefühl durch Erregung einer kühlen und zugleich angenehmen Empfindung. Nicht alle Menschen haben die Fähigkeit dieser Empfindungen und Gesichtseindrücke gleichmäßig, die einen gar nicht, die anderen schwach, die dritten stark oder sehr stark. Die letzteren heißen Sensitive, welcher Begriff übrigens nicht mit demjenigen des Sensiblen zu verwechseln ist. Sensible d. h. empfindsame Personen können ebensowohl sensitiv, wie nichtsensitiv sein.

Entdecker des Od war, wie schon erwähnt, Freiherr Karl von Reichenbach, der, 1788 zu Stuttgart geboren, in Tübingen sich Universitätsbildung aneignete und dann ein großer Industrieller wurde. Später wandte er sich dem Studium der Naturwissenschaften (Chemie, Geognosie, Meteorsteinkunde) zu und machte seinen Namen als Naturforscher durch die Entdeckung des Kreosot und Paraffin bekannt und geachtet. Seine „Odisch-magnetischen Briefe“ erschienen im Jahre 1852 in Stuttgart, nachdem sie vorher Eingang in die Beilage der „Allgemeinen Zeitung“ gefunden und, wie gesagt, großes Aufsehen erregt hatten. Ihnen folgten in den Jahren 1854–1867 noch mehrere Schriften desselben Verfassers über denselben Gegenstand.

Die wissenschaftliche Welt nahm die Angaben des damals hochangeschenen Naturforschers nicht ohne weiteres als bare Münze hin, sondern teilte sich in Freunde und Feinde. Unter den letzteren nahm die oberste Stelle ein der berühmte Liebig, mit welchem Reichenbach schon Jahre vorher Differenzen wegen der verweigerten Aufnahme seiner Aufsätze in die „Chemischen Annalen“ gehabt hatte, und welcher sich in einer Rede, mit der er die Münchener Akademie zu eröffnen hatte, mit Entschiedenheit gegen Reichenbach erklärte. Er beging allerdings dabei den Fehler, daß er die Reichenbachschen „Sensitiven“ für krankhaft veranlagte Personen erklärte, was weder mit den eigenen Angaben Reichenbachs, noch mit den Erfahrungen der Nachexperimentatoren übereinstimmte. Hätte er statt „krankhaft“ das Wort „eigens“ oder „eigentümlich“ gesetzt, so würde dieses besser gepaßt haben. Alle Sensitive sind, nach Reichenbachs Lehre, unruhig, ohne selbst einen Grund für diese Unruhe zu wissen, weil ihre Kleider, überhaupt ihre ganze Umgebung stets durch sie selbst mit Od geladen und überladen werden und sie daher stets eine Veränderung ihrer Lage, ihrer Beschäftigung u. s. w. wünschen lassen. Auch alle odischen Ausstrahlungen von anderen Personen oder Gegenständen werden vom Sensitiven empfunden. Daher ist derselbe nicht gern in größerer Gesellschaft, weil die vielen Od-Ausstrahlungen unangenehm auf ihn einwirken – vorausgesetzt, daß sich dabei gleichnamige oder einander entgegengesetzte Od-Polaritäten, also rechts zu rechts, links zu links, berühren.

Die ganze linke Seite eines Menschen (oder Tieres) ist nämlich nach Reichenbach odpositiv, die rechte odnegativ; ähnlich verhält es sich mit der oberen und unteren Körperhälfte. Uebrigens werden alle odpositiven Ausstrahlungen von anderen Personen oder von Gegenständen stärker von den Sensitiven empfunden als die odnegativen. Unter den Gegenständen haben namentlich die Metalle, vor allen Kupfer und Quecksilber, eine starke odpositive Ausstrahlung. Bei jeder chemischen Thätigkeit, bei jeder Zersetzung oder Verbindung, selbst beim Entstehen einer einfachen Lösung und bei dem Verflüchtigen leicht verdunstender Substanzen, bei der Zerlegung des Wassers durch den Voltaischen Apparat, bei jeder Fäulnis, bei dem chemischen Prozesse des tierischen Atmens, ferner bei dem Entstehen der Schwingungen in der Luft durch schallende Körper, bei jeder mechanischen Reibung, bei jeder Entwicklung von Wärme, bei jeder Thätigkeit des elektrischen Agens etc. wird nach Reichenbachs Behauptung eine gewisse Menge von Od frei und dem Gefühl oder Gesicht des Sensitiven bemerkbar. Durch dieses Verhältnis und durch das häufige Zusammentreffen verschiedener Od-Polaritäten im täglichen Leben entstehen nun für den Sensitiven mannigfache Belästigungen, Empfindungen, Gesichtsbilder, die er sich nicht zu erklären weiß und die dem Nichtsensitiven ganz unbekannt sind. Es ist ihm z. B. – abgesehen von der bereits erwähnten Abneigung gegen größere Gesellschaft oder Volksaufläufe – unerträglich, wenn sich jemand hinter seinen Stuhl stellt, weil sich dabei gleichnamige Od-Polaritäten einander berühren, oder wenn jemand links zu links neben ihm steht oder dicht hinter ihm geht u. s. w. Daher rührt auch nach Reichenbach die allgemeine Sitte aller Kulturvölker, den bevorzugten Personen die rechte Seite als Ehrenseite anzuweisen, weil die linke Seite des Sensitiven als odpositiv die stärkste Empfindlichkeit hat und am meisten die Berührung mit einem ungleichnamigen Pole liebt. Da auch zwischen der vorderen und hinteren Körperhälfte der stark Sensitiven ein polarer Gegensatz besteht, so ist der Sitzplatz eines Sensitiven auf einem Stuhl, einem Sofa, vor einem Piano, in der Kirche, im Theater, für ihn von größter Wichtigkeit. Tausende von sitzenden Arbeitern oder Arbeiterinnen werden auf diese Weise, ohne es zu ahnen, zu Opfern eines ihnen unbekannten Verhältnisses. Eine Haupteigentümlichkeit der Sensitiven besteht auch darin, daß sie, wenigstens in unsern Himmelsstrichen (wegen des odpolaren Verhaltens des Erdkörpers) bei Nacht stets oder meist auf der rechten Seite liegen, weil sich auf diese Weise der odnegative Pol derselben gegen den odpositiven Pol der Erde kehrt. Auch die Lage mit dem Kopf nach Norden, mit den Füßen nach Süden ist wegen des Zusammenstoßes ungleichnamiger Polaritäten von Wichtigkeit. Kranke können nach Reichenbach jahrelang vergeblich behandelt werden, wenn sie nicht eine ihrer Sensitivität entsprechende Lage im Bett einnehmen.

Alle diese Eigentümlichkeiten der Sensitiven – so lehrt nun Reichenbach weiter – können in demselben Individuum vereinigt sein. In der Regel jedoch fehlen einzelne derselben, während andere vorhanden sind oder stärker hervortreten.

Die Experimente, auf welche Reichenbach seine Theorie stützt, beziehen sich teils auf die Empfindung, teils auf das Gesicht der Sensitiven. Magnete und große Krystalle scheinen die Kraft der Od-Ausstrahlung am stärksten zu besitzen. Die darüber gehaltene Hand des Sensitiven empfindet den Südpol des Magneten oder die Basis eines großen Bergkrystalls warm, lau und widrig, den Nordpol oder die Spitze des Krystalls kühl und angenehm. Beidemal zeigt sich das Gefühl eines aufsteigenden Hauchs oder Windes. Auch Sonnenlicht und Wärme haben odische Wirkung. Ein Glas Wasser, welches man während einiger Minuten in das blaue Sonnenlicht oder an die Spitze eines Bergkrystalls oder an den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0142.jpg&oldid=- (Version vom 12.7.2023)