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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

auch schließlich zu dieser ultima ratio verstehen. Vor seiner Abreise nach Bremen besuchte er mich noch einmal und dankte meiner Frau und mir ganz höflich und herzlich „für alle Nachsicht“. Mich rührte das ordentlich, ich ließ es nicht an guten Ermahnungen fehlen, er hörte sie ernsthaft an und versuchte sogar zum Abschied unserer dreijährigen Ilse einen Kuß zu geben.

Bei alledem traute ich seinen guten Vorsätzen und zumal dem Versprechen, uns „auch mal zu schreiben“, nur sehr mäßig. Aber nach Jahr und Tag bekam ich von ihm einen ganz netten, ausführlichen Brief von drüben aus Amerika; es gehe ihm jetzt soweit gut, auf der See habe es ihm nicht gefallen, aber er sei jetzt „beim Vieh“ und verdiene seinen Unterhalt, – ob er mir dann und wann einmal wieder schreiben dürfe, um nicht das Deutschschreiben zu verlernen? Na, ich schickte ihm denn eine entsprechende Antwort – nach irgend einem Neste mit einem großartigen Namen in Kansas oder da herum, und von da an bekam ich regelmäßig Nachrichten von ihm, – nicht allzu oft, aber immer erfreulich nach Stil und Inhalt. Meine Kollegen trauten der Sache nicht recht, und als ich ihnen nun gar so etwa sechs Jahre nach seiner Abreise einen Brief von dem jungen Manne zeigte, des Inhalts: er habe seine Farm verkauft, sei als Lieutenant in ein deutsches Freiwilligen-Regiment eingetreten und schon auf dem Marsche nach Süden, gegen die Secessionisten, – da waren sie so ziemlich einig darin: dies wird des Raben Ende sein. Aber in der Schlacht bei Richmond kommandierte er ein Bataillon und hatte sich, wie er fröhlich schrieb, „mit einer Schmarre quer über den Kopf das Majorspatent erworben“, und ein paar Jahre nach dem Krieg saß er mitten in dem Lande, das er für die Union mitzurückerobert hatte, irgendwo in Texas als Farmer und Viehzüchter, aber „en gros“, so zu sagen schon mehr Vieh-Baron. Und immer derselbe frische, treuherzige Ton in seinen Briefen, dieselbe Anhänglichkeit an die alte Heimat bei aller verständigen Würdigung der neuen. Meine Kollegen fingen an, Respekt vor dem Thunichtgut zu bekommen; ich hatte ihn schon längst, und es überraschte mich nicht, als ich nun während unserer großen Kriegszeit in den Zeitungen, die er mir sandte, seinen Namen immer obenan bei den Sammlungen und sonstigen Veranstaltungen der Deutschamerikaner seines Distrikts fand, noch immer Paul Haselberg, nicht Hazelmount oder so.

Dann ein paar Jahre nach dem Kriege – unsere Ilse war inzwischen zu einer stattlichen Jungfrau erblüht, die an Stelle ihrer frühverstorbenen Mutter mein kleines Heim regierte, und ich war zum Direktor „aufgestiegen“ – da meldete sich eines Tages ein Besuch von drüben, ein würdig aussehender, noch ziemlich junger Herr, der mir einen Brief von meinem früheren Schüler überreichte und sich als Kollege auf der Studienreise vorstellte; er sei beauftragt, nach seiner Rückkehr drüben ein „College“ nach deutschem Muster einzurichten, und möchte unter anderem auch meine Ansichten und Methode kennenlernen, auf Wunsch und Empfehlung von „Mister Hesselberg“; das ehemalige Schreckenskind unseres Alumnats war jetzt Mayor in jener allem Anscheine nach mächtig aufgeblühten Stadt und auch in Schulangelegenheiten ein größerer Herr als mancher Schulrat bei uns daheim. Der amerikanische Kollege wurde ordentlich beredt, als er uns – mir und Ilse – die Verdienste seines Vorgesetzten auseinanderzusetzen suchte.

Und schließlich ein Jahr darauf kam er selber; zu Besuch in meinem Hause, das hatte ich mir ausbedungen. Es war zu Anfang der großen Ferien, meine zwei ältesten Enkel – die Söhne von meinem Ältesten waren just tags vorher angelangt und brachten ihn mir jubelnd ins Haus: er hatte sie unterwegs getroffen und, wie er lachend sagte, „gleich das Pädagogenblut erkannt.“ Aber war der Mensch stattlich geworden! Breit und hoch, mit einem prächtigen blonden Vollbart, zwar die roten Haare über der breiten Narbe von anno 1865 noch immer widerborstig, „das hält sich, das liegt nun mal in der Rasse“, meinte er.

An dem ersten Abend – die Jungens waren von ihrer Tante diesmal mit einiger Mühe endlich zu Bett kommandiert worden – saßen wir noch lange beisammen, unser Gast, ich und Ilse; sie war ihm aus unserem Briefwechsel der letzten Jahre schon besser bekannt, hatte auch ein paarmal für mich geschrieben. Es gab viel zu erzählen, und er erzählte gut. Das Gedächtnis dieses Menschen erschien mir ebenso wunderbar wie sein treues, echt niedersächsisches Gedenken an die Zeiten und Stätten der Jugend. Es rührte mich wahrhaft, als er sogar noch allerlei Brocken aus dem Schulsack auskramte und verschiedene lateinische Genusregeln mit Feierlichkeit deklamierte; nur ein paarmal mußte Ilse verbessernd eingreifen. Aber von seinem Gedächtnis sollte ich noch eine merkwürdigere Probe kennenlernen. Folgenden Morgens führten wir unseren Gast in dem ferienöden Schulbau herum – es war noch immer das alte Kloster – „und hier, das ist unsere Obertertia von damals“, sagte er. „Richtig,“ erwiderte ich, „nur ist jetzt die Oberprima drin; aber das Zimmer ist noch wie früher.“ „O, warten Sie,“ meinte er, „dann muß da hinten neben der Bank, in einer Nische unterm Fenster, ja auch noch die Eselsbrücke zum Julius Cäsar liegen, die ich damals dort versteckt habe. Ich wollte sie der Klasse vermachen, aber Sie relegierten mich zu schnell.“ Das reizte mich nun doch etwas. „Sie werden vergeblich suchen,“ sagte ich, „meinen Sie, die Klassenzimmer würden bei uns nicht revidiert und sauber gehalten? Ihre Eselsbrücke – von der ich übrigens leider erst heute höre! – wird längst verschwunden sein, wie alle Hilfsmittel ihresgleichen. An meiner Anstalt haben die Schüler keinen Anlaß, sich solcher Mittelchen zu bedienen, und sie thun es auch nicht!“ Aber während ich noch spreche, kriecht mein Amerikaner schon unter dem Fenster herum, und wie er sich aufrichtet, hält er so ein paar nichtsnutzige grüne Hefte in der Hand und zeigt sie ruhig lächelnd meiner Ilse. „O, sehen Sie, Fräulein, aber es ist nicht die meinige, diese hier sind nicht für den Cäsar, sie sind für den Sophokles, ja, und Tacitus. Und sie sind noch sehr neu!“

Na, was das dann noch für ein Nachspiel nach den Ferien gegeben hat, für gewisse andere Leute – das gehört ja wohl nicht hierher. Die Nische habe ich gleich zumauern lassen. – Wir Drei haben aber einige sehr vergnügte Wochen miteinander verlebt; und erst die beiden Jungens! Die waren gar nicht mehr aus dem Zimmer zu bringen, wenn unser Gast anfing zu erzählen, von dem Leben drüben auf den Viehranchos und aus dem großen Bürgerkriege. „Lieber Freund,“ sage ich eines Abends, „Sie verderben mir die Jungen noch ganz. Heute haben sie wieder den ganzen Nachmittag Cowboy gespielt, und nächstens werden sie mir wohl noch durchbrennen, oder wenn das nicht ist, stecken sie meinem Kollegen in ihrer Vaterstadt wenigstens die ganze Sexta und Quarta an mit ihren abenteuerlichen Spielen.“ Da lächelt er so in seiner Art. „O,“ meint er, „ich denke, es macht nichts, wenn die Bubcn etwas wild sind. Wissen Sie – ich selber möchte Ihnen noch einmal so einen rechten Streich spielen, ehe ich abreise.“ Die Ilse lacht, und ich lache auch und sage: „So? Das ist ja noch schöner. Vergessen Sie nicht, daß Sie hier unter meiner Disciplin stehen. Einen Streich werden Sie mir ja wahrscheinlich spielen – denn das weiß ich von früher, wenn Sie das mal wollen, so thun Sie’s auch – aber dann bekommen Sie auch Ihre Strafe: Sie werden mir das Brückenbaukapitel aus dem Cäsar schriftlich ins Deutsche übersetzen, und eher lasse ich Sie nicht wieder fort.“ „Das ist hart!“ meinte er, und da hatte er ja wohl recht, denn was dieses Kapitel angeht, so weiß jeder, der mal in Tertia saß, was es bedeutet, dazu alle Vokabeln aufzuschlagen. Wie er mich so erschrocken ansieht, sage ich: „Nun, Sie können sich meinetwegen von meiner Tochter helfen lassen!“ Und das durfte ich schon sagen – denn was eines alten Schulmeisters Tochter ist, die lernt so wie so mit der Zeit schon einiges mit, aber die Ilse hat ja ordentlich Latein bei mir gehabt – warum? Nun, es machte ihr Freude, und mir auch – und alsdann kann’s ja mal nicht schaden, obzwar, wenn man’s obligatorisch machte auf unseren Mädchenschulen – na, ich möchte den Posten nicht haben! …

Ein paar Tage darauf, wie ich auf meinem Studierzimmer sitze, fällt mir der Scherz wieder ein, und wie das so geht, fällt mir auch gleich ein, daß ich schon längst eine Stelle im Cäsar nachsehen wollte. Wie ich aber nach dem Buche greife, ist’s aus dem Regal verschwunden, und ich suche und suche vergebens. „Ilse,“ frage ich bei Tisch, „weißt Du nicht, wo mein „Caesar de bello Gallico“ steckt – weißt Du, die Ausgabe von Nipperdey, in Großoktav?“ „Die habe ich, Herr Direktor, und auch Ihr Lexikon dazu,“ bemerkt mein Amerikaner ganz gelassen, „ich übersetze an meiner Strafarbeit. Aber es ist sehr schwer, Fräulein Ilse wird mir viel müssen helfen.“ „Aber Mensch,“ sage ich, „Sie werden doch nicht …?“ „Ich werde,“ antwortet er – „ich werde Ihnen ja auch den Streich spielen!“

Tags darauf frage ich meinen ältesten Enkel: „Junge, wo steckt Deine Tante?“ „Die sitzt mit Onkel Paul beim Lernen, im Gartenzimmer,“ antwortet er. Und richtig, wie ich da hineingehe,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0128.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)