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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

dann an die Eleven folgende Ansprache: „Meine Herren! Sie haben Vorzügliches geleistet. Wenden Sie das Gelernte in derselben Weise auch in Ihrer Schulpraxis an! Ich freue mich, daß die Jugend so bewährten Händen anvertraut wird, und hoffe, daß Sie in Ihrem Beruf dieselbe Disziplin handhaben werden, wie Sie sie hier gezeigt haben. Ich sage Ihnen hiermit Lebewohl! Mögen wir uns einmal wiedersehen, wo das Schicksal nur immer uns zusammenführt, sei es im Frieden, sei es im Kriege. Gott sei Dank, daß die Aussichten jetzt so friedlich sind!“ Das war das letzte Mal, daß ich den Kronprinzen in der Nähe gesehen, daß es mir vergönnt war, seine Stimme zu hören, daß ich einen Händedruck von ihm erhalten. Es kamen traurige Zeiten. Endlich kehrte er als todkranker Kaiser zurück. Da sah ich ihn noch einmal unter den Linden mit der Gemahlin im geschlossenen Wagen. Auf meinen ehrerbietigen Gruß neigte er in gewohnter Huld dankend das Haupt. Es war seine letzte Ausfahrt nach Berlin.




Geschichten des Herrn Direktors.

Nacherzählt von Ernst Lenbach.
2.0 Der Amerikaner.

Ein Schulmann, der es treu mit seinem Beruf meint, bekommt auf seinem Lebenswege aus manchem bitteren Quell zu trinken, und wer ein halbes Jahrhundert der Jugend gedient und sich einen Orden dritter Klasse mit der Zahl Fünfzig zugezogen hat, der darf annehmen, daß er den Berufsärger in allen Sorten und Jahrgängen kennt. Ich habe Haare dabei lassen müssen; die ich noch an Schläfen und Scheitel trage, sind schlohweiß geworden; und es mag sein, daß an dem Ausfallen der einen und dem Ergrauen der anderen auch die Erfahrungen mit schuld sind, die ich mit einigen Musterschülern machen mußte: Jungen, die ihren Weg von der Sexta bis zum Abgangszeugnis als stille und sittsame Tugendbolde durchmaßen, um dann vor dem ersten kräftigen Hauche des freien Lebens abzufallen wie wurmige Obstblüten, oder als Streber und Feiglinge unserm Herrgott die Welt zu verhunzen. Aber ausgelassene, bengelhafte Burschen – was man so gemeinhin einen Thunichtgut nennt –, du lieber Gott, ich habe ihrer genug gehabt, aber ich denke nicht, daß mir um ihrer einen ein graues Haar gewachsen ist. Auch nicht um Paul Haselberg.

Zwar ein wilder Schlingel war er und unter keine Disciplin zu bringen. Schlanke, kräftige Glieder, urscharfe Sinne und einen rotborstigen Kopf voll sonderbarer Anschläge hatte er aus seiner Heimat mitgebracht, irgend einer sagenhaft abgelegenen Moorlandschaft da draußen im Flachland, wo zwischen Wallhecken und Tümpeln unzählige scheckige Rinder weiden und die Menschen in einsamen langgiebligen Häusern mit roten Schindeldächern noch ungefähr so leben, wie sie Tacitus kennenlernte. Ich hätte mir Paul Haselberg ganz gut in diese Welt hinein denken können und gewiß alles, was er dort trieb und anstiftete, nur als eine nützliche Illustration zum bessern Verständnis meines Tacitus begrüßt. Daß er aber das Leben eines jungen Germanen auch in den Klassenzimmern und Alumnatsälen fortsetzen wollte, wurde die nie versiegende Quelle der Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und mir, zumal nachdem ich als sein Ordinarius und als Inspektor des damals noch bestehenden Alumnats doppelt für den elternlosen Schlingel verantwortlich geworden war. In einer Hinsicht freilich erleichterte er mir das Leben sehr; seit ich seinen Rotkopf aus der mir ganz besonders anvertrauten Herde hervorleuchten sah, bedurfte es vorkommenden Falles keiner Untersuchung mehr, um bei irgend einer Massenversündigung gegen die Schulgesetze den Rädelsführer herauszufinden; Paul Haselberg hatte von vornherein den Verdacht gegen sich, und er machte auch kaum jemals einen Versuch, diesen Verdacht zu entkräften, und nahm seine Strafe stets mit einer ruhigen Gelassenheit hin. Er schien sie als die ordnungsmäßige Begleichung eines Geschäfts zu betrachten, bei dem er der Lieferant war und seine Nichtsnutzigkeiten die Ware vorstellten.

Ich gestehe, daß ich unpädagogisch genug war, an dieser Gemütsruhe, die vor allem völlig davon absah, einen Kameraden mit in die Tinte zu reiten, eine gewisse Freude zu haben; und jedenfalls bewies auch er durch baldige Erneuerung, daß er mit dem Geschäftsverhältnis zufrieden war. „Nachtragig“ war er überhaupt nicht, zeigte sich stets bereit und vergnügt, wenn er für meine Frau – wir wohnten im Alumnat – einen Gang oder sonst eine kleine Besorgung übernehmen durfte, und behandelte insbesondere unser Nesthäkchen, die Ilse, mit einer Art ritterlichen Fürsorge, die denn allerdings sehr an die Grazie seiner vierfüßigen Landsleute draußen auf den Moorweiden erinnerte.

Na, dumm war er ja nicht, und er hatte sich denn auch glücklich trotz aller Verweise, Arreststrafen und sogar eines gelinden consilium abeundi bis in die Obertertia heraufgesessen. Hier aber stolperte er – über einen Strohhalm, wenn man einige seiner früheren Streiche in Vergleich zieht. Sein Maß war eben voll. Wir hatten damals gerade eine frische Kraft an die Spitze unseres Provinzialschulkollegiums bekommen, einen sehr umsichtigen Herrn, der neben anderen Reformen vor allem auch die Einführung gesundheits- und anstandsfördernder Klassenausstattungen ins Auge faßte. Mit Reskript Nr. 4711 wurde demgemäß an jedes Gymnasium eine Anzahl schön lackierter und sehr geräumiger Spucknäpfe versandt, die an geeigneter Stelle in den einzelnen Klassen aufzustellen und „im Bedürfnisfalle“ zu benutzen seien. Unser Direktor ließ die netten Dinger einstweilen vom Pedell auf den Speicher tragen, und dort standen sie noch, als eines Freitagsnachmittags die Anzeige eintraf, daß der Herr Schulrat andern Morgens die Anstalt inspizieren werde. Nun kamen die amtlichen Gefäße zu Ehren. Der Direktor ließ sie noch selbigen Nachmittags vor seinen eigenen Augen in den Ecken aufstellen; sogar im Kreuzgang – unser Gymnasium war damals noch in dem alten halbverfallenen und sehr lichtarmen Augustinerkloster untergebracht – fanden ihrer zwei ein Ehrenplätzchen, und alle wurden gemäß Bestimmung des Reskripts schön halbhoch mit Wasser gefüllt. Es sah ordentlich feierlich aus.

Am folgenden Morgen traf denn auch der hohe Besuch pünktlich ein. Der Direktor – natürlich im Frack wie wir Lehrer alle – hatte die Schüler vollzählig, nach Klassen geordnet, auf dem Schulhof Aufstellung nehmen lassen, in militärischer Haltung; auch das gehörte zu den Neigungen des neuen Vorgesetzten und durfte nicht versäumt werden. Ich verbrachte einige peinliche Minuten, da mein Flügelmann fehlte – Paul Haselberg; glücklicherweise kam er noch im letzten Augenblicke mit einigen anderen angesetzt – es blieb keine Zeit, sie über die Ursache der Verspätung zu befragen, denn bereits erschien zur Rechten des Direktors der Gewaltige, sichtlich angenehm überrascht von der tadellosen Paradeaufstelluug. Dann folgte die übliche Vorstellung des Kollegiums – eine kurze Ansprache des Rates, worin er uns unter anderem die tröstliche Mitteilung machte, daß in der Angelegenheit des Neubaues unserer Anstalt „Erwägungen schwebten“ – sie haben noch ein Vierteljahrhundert länger geschwebt; inzwischen könne ja immerhin schon manches zur sanitären Hebung und zur Verschönerung der Räume geschehen.

Der Direktor beeilte sich zu versichern, daß er in dieser Hinsicht es an nichts fehlen lasse, und als er den Vorgesetzten an der Spitze des Kollegiums in das Gebäude geleitete, wußte er den Weg so zu nehmen, daß die berühmten Gefäße im Kreuzgang gar nicht zu übersehen waren. Der Besuch öffnete den Mund zu einer lobenden Bemerkung – und schloß ihn wieder, stumm vor Staunen, wir aber kämpften mit erstickenden Lachanfällen – in den schönen blaulackierten Vasen schwamm je ein munteres Paar Goldfischchen, und wie die weitere Besichtigung ergab, war auch in allen Klassenzimmern das betreffende Gerät gleicherweise in ein Aquarium verwandelt!

Dieser Streich brach unserm Paul Haselberg – denn natürlich war er es wieder gewesen – den Hals; es wurde ihm nicht einmal als mildernder Umstand angerechnet, daß er sein ganzes Taschengeld darauf verwandt hatte, in einer unfern des Gymnasiums aufgeschlagenen Jahrmarktsbude den anmutigen Klassenschmuck einzuhandeln.

Seine Relegierung trug er übrigens mit einer Gelassenheit, die mich fast auf den Verdacht brachte, daß er es auf dieses Ende abgesehen hatte, um seinen Lieblingswunsch – zur See zu gehen – endlich erfüllt zu sehen; und in der That mußte sich sein Vormund

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0127.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)