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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Als Urgroßmütterchen. (Zu dem Bilde S. 101.) Wie anmutig schalkhaft lächelt hier das junge Mädchenbild aus dem altväterischen Kostüm der Biedermaierzeit heraus! Die Schwestern wollten sämtlich nicht glauben, daß der von drei Generationen pietätvoll bewahrte Sonntagsstaat an der vierten auf einem modernen Maskenball neuerdings seine Wirkung thun könne. Und siehe da! Nachdem die jüngste ihren Kopf durchgesetzt, und die alten Herrlichkeiten ein bißchen frisch aufgemuntert hat, wie unglaublich gut steht ihr der taffetgefütterte Kaleschenhut mit der ehrbaren Florschleife, das Brokatkleid von geradezu künstlerisch verschossenem Ton und der unvergängliche gestickte Kaschmirshawl! „Allerliebst!“ heißt es jetzt einstimmig. Die Schwestern bereuen im stillen ihre sämtlichen „stilvollen“ Charaktermasken, und man braucht wohl kein Prophet zu sein, um diesem anspruchslosen „Urgroßmütterchen“ Erfolge vorauszusagen, mit welchen die modernste Schöne mehr als zufrieden sein könnte! Bn.     

Die Papierschlacht. (Zu dem Bilde auf S. 105.) Wie eine Art von närrischer Influenza packt alljährlich um dieselbe Zeit die Menschen eine seltsame Lust, allerlei verrücktes Zeug zu vollführen und tollen Mummenschanz zu treiben. Das geschieht im Fasching, der sonst ganz gesetzte Leute zu verleiten vermag, einzustimmen in den lärmenden Chor der Narren und dem Prinzen Karneval zu huldigen. Die Fastnacht ist ein rechtes Allerweltsfest, und gewisse Grundzüge des fröhlichen Treibens sind und bleiben immer und überall die gleichen! Trotzdem finden jedoch in Einzelheiten ab und zu Neuerungen statt, die der Narrenmelodie einen Ton hinzufügen und einige Abwechslung in das Karnevalstreiben bringen. Dahin gehört beispielsweise das neuerdings aufgekommene Werfen mit Papierconfetti und Papierschlangen. Im Fasching des Jahres 1891 bewarf man sich auf dem Pariser Opernball und auf den Boulevards zum erstenmal mit kleinen Papierschnitzeln, die mit weitgehender Freiheit des Sprachgebrauches „Confetti“ – wie die in Italien gebräuchlichen Wurfgeschosse aus Gipsmehl – genannt wurden, und gegenwärtig sind schon verschiedene große Fabriken ausschließlich mit der Herstellung dieser Schnitzel beschäftigt, deren jährliche Gesamterzeugung man auf Millionen Kilo schatzt. Gleichzeitig sausten damals auch die ersten papierenen „Serpentinen“ durch die Luft, die sich gleich den Confetti auch rasch auswärts einbürgerten. Seitdem werden als Gegenstück zu der berühmten „Blumenschlacht“ bei dem Karneval von Nizza vielerorts während des Faschings „Papierschlachten“ geliefert, deren eine uns das Bild auf S. 105 vor Augen führt. Lustig genug geht’s da her, und Seine Tollheit der Prinz Karneval kann sich keine ergebeneren und getreueren Unterthanen wünschen. Wohin man blickt in dem großen, rings von Galerien umgebenen Saale, in dem der Maskenball stattfindet, überall schaut man fröhliche Mienen, vor Karnevalslust funkelnde Augen und hört fröhliches Lachen und Scherzworte. Die Schellen klingen, die Pritschen klappern; hochauf schäumen die Wogen der Faschingsfreude, und die Papierschlacht, bei der sich der karnevalistische Uebermut so recht Luft machen kann, ist in vollem Gange! Vom Saale schwirren immerfort die bunten Papierschlangen zur Galerie empor. Besonders die Damen, die durch die Abwechslung ihrer bunten, phantastischen Kostüme dem Feste seinen Hauptreiz verleihen, haschen eifrig nach den emporfliegenden Papierraketen und beeilen sich dann, auch ihrerseits bunte Geschoße nach unten zu senden. Mit dem Zischen dieser durch die Luft sausenden Serpentinen vermischt sich das Knallen der Champagnerpfropfen, der Sekt schäumt in den Kelchen – ein rechtes Sinnbild der so rasch verrauschenden Karnevalslust selber. Doch wer mag jetzt schon an den düsteren Aschermittwoch denken, wo alles tollt und jubelt? Nein, gebt euch nur mit voller Seele dem Reize des Augenblicks in der nur einmal im Jahre wiederkehrenden karnevalistischen Heiterkeit, die keine ernsten Gedanken aufkommen läßt, hin - eingedenk des Dichterwortes:

„Der Weiseste unter den Weisen ist,
Der alle Weisheit bisweilen vergißt!“

F. R.     

Unser Herr Student. (Zu dem Bilde S. 113.) Ein Extradienst für die vielbeschäftigte Zofe, und doch – wie gern wird er geleistet! Voll sorgsamer Hingebung hat sie die neuen weißen Handschuhe für den verwöhnten Haussohn geweitet, ihm dann die Batistkrawatte geknüpft, den eben vom Schneider gekommenen Frack nochmals mit reichlichen Bürstenstrichen übergangen und nun hilft sie den Mantel über alle die Herrlichkeit breiten, deren Träger, wie andere große Herren, alle diese Mühe mit einem huldvoll vertraulichen Lächeln überreich belohnt. Den diskreten Bewunderungsblick des wohlgeschulten Mädchens nimmt er gern als Abschlag auf die Triumphe, die ihm heute noch bevorstehen und die er strahlenden Angesichts schon im voraus genießt. Beneidenswerter Herr Studiosus! … Wo sind die, welche behaupten, einen vollkommen Glücklichen suche man umsonst auf dieser unvollkommenen Erde? Sie sollen unser Bild ansehen und eingestehen, daß hier das seltene Phänomen wirklich und leibhaftig vor uns steht! Bn.     

Apollo oder Apolda? Durch eines der verbreitetsten Studentenlieder ist die Stadt Apolda in Thüringen zu dem Rufe gelangt, eine Stätte hervorragender Tabaksindustrie zu sein. Die Stelle „Knaster den gelben hat uns Apollo präpariert“ in dem Liede „Ça ça geschmauset“ ist dahin erklärt worden, daß das Wort „Apollo“ als Entstellung von „Apolda“ anzusehen sei. Apolda soll früher den Jenenser Studenten als Tabaksquelle gedient haben, aber nach dem Rückgang der Tabaksindustrie daselbst als solche in Vergessenheit geraten sein. Nun ist Apolda ja in der That ein bedeutender Industrieort; auf dem Gebiete der Strumpfwirkerei sogar eine der wichtigsten Fabrikstädte Deutschlands, aber sein Ruhm als Tabaksproduzent läßt sich auf historische Anhaltspunkte nicht gründen. Es spricht vielmehr alle Ueberlieferung gegen diese Annahme. Wie aber läßt sich sonst das Wort „Apollo“ in jenem vielgesungenen Vers erklären? In einer Zuschrift an die Münchener „Allgemeine Zeitung“’ schreibt Dr. M. Fabricius, nachdem er jene bisherige Deutung zurückgewiesen: „Dagegen hat die Studentenpoesie schon lange den Knaster in Beziehung zu Apollo gebracht. Joh. Chr. Günther dichtet (‚Curiöse und merkwürdige Lebens- und Reisebeschreibung, welche er selbst mit poetischer Feder entworffen‘, Frankfurt u. Leipzig, S. 28 ff. 1738):

‚Wenn man mit Maßen trinckt, zumahl wo Toback brennt,
Den Phöbus selbst erwehlt und sein Vergnügen nennt ....‘

Da Günthers Lieder in der damaligen Studentenwelt und besonders in Jena, wo der Dichter ein trauriges Ende gefunden, allgemein bekannt waren, so hat wahrscheinlich diese oder eine ähnliche Stelle die Fassung des anfangs citierten Verses beeinflußt.“

Zur Schulgesundheitspflege. Manches ist in den letzten Jahrzehnten geschehen, um die Schäden, welche der Schulbesuch dem jugendlichen Körper anthun kann, soweit als irgend möglich zu bekämpfen. Die Schulzimmer sind größer, Heizung, Beleuchtung, Lüftung besser geworden, Bänke und Tische werden nach zweckmäßigen Gesichtspunkten hergestellt. Die Lehrer selbst werden mit den Grundlagen der Schulgesundheitspflege vertraut gemacht, damit sie in ihrem Teile auch für das körperliche Wohl der ihrer Obhut anvertrauten Kinder Sorge tragen können. Und endlich ist dem Verlangen nach der Anstellung von Schulärzten, welche eine Art Oberaufsicht über die gesundheitlichen Zustände einer Schule führen, wenigstens da und dort Rechnung getragen worden.

Trotzdem bleibt immer noch vieles zu thun, und zum Teil handelt es sich dabei um Verbesserungen, die mit nicht allzu großer Mühe durchzuführen wären. Auf einen sehr wichtigen Punkt hat unser Mitarbeiter Dr. med. Herrm. Baas das Augenmerk gelenkt in seinem trefflichen Buche „Gesundheit und langes Leben“. Er betrifft die Frage, ob ein Kind, das im gesetzlichen Alter von 6 Jahren zur Schule gebracht wird, auch wirklich körperlich reif dafür ist. Schwächliche, blutleere, nervöse, skrofulöse, mit einem Wort nicht ganz gesunde Kinder sollte man, verlangt er, viel häufiger, als geschieht, in der Freiheit lassen und erst spät in die Schule aufnehmen, weil einesteils kränkliche Kinder durch den Schulbesuch meist gesundheitlich noch mehr zurückkommen und andernteils nicht viel leisten können, so daß sie andere gesunde Kinder mit zurückhalten. Und das leitet Baas zu der ganz bestimmten und unseres Erachtens wohlberechtigten Forderung, daß bei der Entscheidung über die Aufnahme der Kinder in die Schulen der Arzt zugezogen werde. „Es ist ein ganz entschiedener Mangel unserer öffentlichen hygieinischen Zustände,“ schreibt er, „daß bei der Schulaufnahme nicht auch ein Arzt mitzusprechen hat, um darüber zu wachen, daß nur gesunde Kinder aufgenommen, kranke aber zurückgestellt werden. Bei der Rekrutierung ist dies allgemein eingeführt, für die Schulen fehlt eine solche Einrichtung dagegen überall, höchstens wird hier und da einmal von den Eltern kranker Kinder ein Zeugnis verlangt, daß ihr Kind körperlich nicht kräftig genug sei, um die Schule zu besuchen. In der Regel aber werden dann Kinder, die etwa ein Jahr zu spät in die Schule kommen, um ein Jahr länger in der Schule behalten, weil nach der Schablone der gesetzlichen Schulbesuchsdauer dies sein muß, ohne daß Rücksicht darauf genommen ist, daß gesunde und ältere Kinder leicht nachholen, was sie etwa versäumt haben. So droht den Eltern kranker Kinder und diesen selbst noch eine Strafe für das Kranksein, und um dieser zu entgehen, werden heute viele Kinder, trotz entgegenstehender ärztlicher Gründe, doch in die Schule geschickt, oft zum lebenslänglichen Nachteil für ihre Gesundheit. Gerade solche Kinder verfallen am häufigsten den sogenannten Schulkrankheiten, eine Krankheitsrubrik, die erst neuerdings, besonders in Mädchenschulen, sozusagen öffentliche Geltung gewinnt.“


Inhalt: Fata Morgana. Roman von E. Werner (6. Fortsetzung). S. 101. – Als Urgroßmütterchen. Bild. S. 101. – Die Papierschlacht. Bild. S. 105. – „Zweiter Jüte.“ Eine Berliner Droschkenstudie von Hans Kraemer. S. 108. Mit Abbildungen S. 108, 109 und 110. – Der Hundertjährige Kalender. Von M. Hagenau. S. 111. – Geschichten des Herrn Direktors. Nacherzählt von Ernst Lenbach. 1. Kollege Logarithmikus. S. 112. – Unser Herr Student. Bild. S. 113. – Blätter und Blüten: Dem Dichter der „Bilder und Klänge aus Rudolstadt“. S. 115. – Aus einem Tagebuch der Ehegatten Pestalozzi. S. 115. – Das Goldland Ophir und das Wort „Afrika“. S. 115. – Als Urgroßmütterchen. S. 116. (Zu dem Bilde S. 101.) – Die Papierschlacht. S. 116. (Zu dem Bilde S. 105.) – Unser Herr Student. S. 116. (Zu dem Bilde S. 113.) – Apollo oder Apolda? S. 116. – Zur Schulgesundheitspflege. S. 116.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0116.jpg&oldid=- (Version vom 10.7.2023)