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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Entlassung aus dem Staatsdienst einkommen und den Bahnen Barths, Vogels und anderer großen Reisenden nach dem Innern Afrikas folgen. „Vorher muß ich mich noch trainieren,“ bemerkte er mit einem mißbilligenden Blick auf die lukullische Schwelgerei des Kollegen; „die Hauptsache für einen Entdeckungsreisenden ist, daß er nichts bedarf und alles verträgt. Ich habe bisher immer einen großen Greuel vor Kreuzspinnen gehabt, aber ich wette, in vier Wochen esse ich sie auf dem Butterbrot.“ – Dann ließ er sich von dem Kellner ein Glas Wasser bringen, streute eine starke Prise gestoßenen Pfeffer hinein und trank es unter greulichen Grimassen aus. „Das ist das gewöhnliche Volksgetränk in den Ländern am Tschad-See,“ erklärte er unter heftigem Husten.

Der Zeichenlehrer sah den zukünftigen Erforscher des Dunklen Weltteils mit einer Mischung von Bewunderung und Mitleid an, dann füllte er seinen Römer, rief: „Es lebe das Los Nummer 31416!“ und leerte ihn langsam und bedächtig.

„Ja, das Los,“ fragte ich, „wo ist denn das? Und wo steckt Kollege Meurer?“

„Das ist ja gerade das Pech, daß wir das nicht wissen,“ antwortete unser Rembrandt. „Ausgekniffen ist er, das heißt, natürlich nur auf drei Tage. Verdenken kann ich es ihm nicht, daß er dem Jahrmarktslärm aus dem Wege geht – warum muß der Mensch auch gerade am Markte wohnen. Nach Wormsdorf hat er sich geflüchtet, in den ‚Roten Ochsen‘ – natürlich mit seiner Logarithmentafel. Vermutlich weiß er noch gar nichts von unserem Glücksfall. Ich denke, wir nehmen uns gleich einen Wagen und holen ihn im Triumph ab. Fahren Sie mit, Kollege?“

Ich entschuldigte mich mit einem dringenden Besuche. Wir verabredeten noch rasch, wann ich die anderen in Meurers Wohnung treffen sollte; dann eilte ich davon – selbstverständlich zu Ida.

Eine Stunde später hatten wir uns „ausgesprochen“ und ich war im Besitze eines Schatzes, gegen den mir alle Lotteriegewinne der Welt gering dünkten. Aber freilich hatte mir erst der so unverhofft erlangte Mammon den Mut gegeben, ein Wort zu wagen, das Ida – wie sie mir errötend gestand – schon längst erwartet hatte. Fast fühlte ich etwas wie Beschämung, daß ich mich nicht eher getraut hatte, allen irdischen Bedenken zum Trotz die Hand nach dem Glück auszustrecken. Die Erste, der wir unsere Verlobung mitteilten, war Idas treffliche Wirtin und mütterliche Freundin, die Witwe unseres früheren Konrektors – eine herzensgute Frau, immer freundlich und hilfsbereit, nur ein wenig gesprächig; in unseren Kreisen hieß sie einfach die Frau Collega. Mit großer Freude gratulierte sie uns und fügte natürlich hinzu, daß sie „so etwas“ schon längst geahnt habe. „Wissen Sie, Herr Collega“, sagte sie zu mir, „Sie bekommen eine Perle von Frau – ich darf das schon sagen, und wissen Sie, wenn es auch anfangs mal was knapp geht“ – von unserem Gewinn hatte ich ihr nichts verraten – „schadet nichts! Mit Liebe gekocht, ist alles Essen Himmelsspeise.“ Dann ließ sie uns allein, „nur für einen Augenblick“, weil sie eben einer Nachbarin etwas zu bestellen habe, und wir konnten nun ziemlich sicher darauf rechnen, daß die halbe Stadt in ein paar Stunden um unsern Herzensbund wisse.

Als ich dann zur bestimmten Zeit der Wohnung des Kollegen Meurer zusteuerte, sah ich just den Wagen mit den drei anderen quer durch das Marktgewühl herannahen. Dr. Meurer saß auf dem Rücksitz, die lange hagere Gestalt wie gewöhnlich ganz in Hechtgrau gekleidet und unter dem Arme den wohlbekannten dicken, in Leder gebundenen Logarithmenband; übrigens sah er etwas verwirrt und gedrückt drein, und auch durch die Glückwünsche der beiden anderen zu meiner Verlobung klang eine gewisse unbefriedigte Stimmung durch. „Na, Sie haben Ihren Hauptgewinn schon, Herr Kollege,“ sagte der Zeichenlehrer, „aber unser Los müssen wir uns erst noch suchen. Uff, die Hitze! War das eine Fahrt! Wissen Sie, wo wir den Herrn Kollegen Meurer gefunden haben? Hinter Wormsdorf, im Walde lag er unter einer Eiche, mit Büchern und Papieren, und rechnete an seinen Logarithmen herum. Von unserem Los wußte er natürlich noch nichts.“ „Ach, dieses verwünschte Los,“ stöhnte der Mathematiker, „das heißt, natürlich, meine Herren, es ist ja ein Glücksfall, aber wenn ich mich nur entsinnen könnte, ich habe es ja noch besonders sorgfältig weggeschlossen – nun gottlob, da sind wir ja an meiner Wohnung, nun werden wir das Papier wohl gleich haben.“

Darin täuschte er sich aber. Nach einer halben Stunde war das sonst so peinlich geordnete Heim des Mathematikers in ein wildes Chaos von aufgerissenen und durchwühlten Schubfächern, Schränken, Wäschebeuteln etc. verwandelt, aber von dem Los war keine Spur zu finden. Der unglückliche Herr des Zimmers saß geknickt inmitten der Zerstörung, geduldig schweigend zu allen Vorwürfen und Flüchen der Kollegen und nur immer ängstlich bemüht, daß seine Logarithmentafel nicht in den allgemeinen Schiffbruch hineingezogen werde. „Ach, bitte, Herr Kollege,“ bat er kläglich und dringend, „werfen Sie das Buch nicht so unvorsichtig hin und her, es liegen wichtige Notizen darin.“ Da schien dem Zeichenlehrer etwas zu dämmern. „Hören Sie mal, Herr Kollege Meurer,“ fragte er, „sollten Sie das Los nicht in Ihre Logarithmentafel gelegt haben?“

Der Mathematiker sah ihn erfreut an. „Sehen Sie,“ erwiderte er, „das ist ein guter Einfall. Ja, das scheint mir sogar sehr wahrscheinlich. Da will ich doch einmal gleich nachsehen.“ Er blätterte in dem Buche herum und nahm eine Menge darin liegender, mit Ziffern bedeckter Zettel liebevoll zur Hand. „Das ist es nicht – das auch nicht – und das nicht, nein – aber hier, das dürfte das Gesuchte sein.“

„Ist die Möglichkeit!“ brummte der Hilfslehrer, indem er das verhängnisschwere Papier musterte; „da schleppt der Mann sich mit dem Buche hinaus in den Wald und wieder zurück in die Stadt und weiß nicht, daß so ein Wertstück drin steckt. Und die Rückseite ganz mit Ziffern bedeckt – sagen Sie ’mal, da haben Sie wohl Logarithmen drauf ausgerechnet?“

„Ich glaube ja,“ antwortete Doktor Meurer kleinlaut, „ich erinnere mich, daß ich an jenem Abend noch gearbeitet habe – es wird hoffentlich der Gültigkeit keinen Abbruch thun?“

„Nein, das glaube ich nicht,“ versetzte der andere und drehte das Papier um, „aber ums Himmels willen, was ist denn das? Mensch, das ist ja die verkehrte Nummer!“

Die Schreckensscene, die nun folgte, vermag ich nicht zu beschreiben. Es war eine Orgie der Enttäuschung! Aber an der Thatsache ließ sich nichts ändern. Das Los trug groß und deutlich die Nummer 31415. Dahinter waren mit Bleistift in den eigenartigen Schriftzügen des Mathematikers noch drei weitere Ziffern gesetzt: 926.

„Ja, das verstehe ich auch nicht,“ sagte Doktor Meurer, als er endlich zu Wort kam. „Aber halt wissen Sie, meine Herren, jetzt kommt mir ein Verdacht. Ich muß doch an jenem Abend etwas zerstreut gewesen sein. Sehen Sie nur – 31415926 – das ist ja die bekannte, so sehr wichtige Verhältniszahl pi, – wissen Sie, mit der man den Durchmesser eines Kreises multiplizieren muß, um die Länge des Umkreises zu erhalten. Ich erinnere mich, ich hatte das gerade an jenem Tage in der Klasse durchgenommen. Und da habe ich vermutlich in der Zerstreutheit die drei weiteren Ziffern so ganz in Gedanken ergänzt und hernach die Zahl wieder auf fünf Stellen reduciert natürlich unter Abrundung der 5 auf 6, wegen der folgenden 9. Wirklich, ich muß etwas zerstreut gewesen sein damals.“

Und dabei sah er uns der Reihe nach so unschuldig ins Gesicht, daß wenigstens zwei von uns – der Zeichenlehrer und ich – bei aller Enttäuschung in ein lautes Lachen ausbrachen.

Der Hilfslehrer aber rannte wie besessen im Zimmer herum, wobei er sich den Kopf mit beiden Händen festhielt. „O, o,“ stöhnte er, „also die Zahl pi! Darum kam mir diese verfluchte Nummer gleich damals so bekannt vor! Aber Mensch, Sie sind ja –“

„Nicht wahr, es ist ein merkwürdiger Zufall?“ meinte der Mathematiker freundlich.

Jetzt brach aber bei dem dicken Zeichenlehrer die Wut aus. „Ein netter Zufall, wahrhaftig!“ rief er. „Wissen Sie, daß mich mein Freudenmahl von heute morgen meinen letzten Viertelmonatsgehalt kostet?“

„Aber, lieber Herr Kollege,“ erwiderte Doktor Meurer, „das werde ich Ihnen natürlich ersetzen. Meine Herren, ich bin ja gern bereit, allen Schaden wieder gut zu machen.“

„So?“ rief der erboste Zeichenlehrer und deutete auf mich, „der Herr Kollege da hat sich auf den vermeintlichen Lotteriegewinn hin verlobt, können Sie da auch helfen?“

Kollege Meurer sah mich freundlich an. „Ach, das bedaure ich aber wirklich,“ sagte er, „ja, das ist allerdings eine schwierige Sache … Aber sagen Sie mal, ließe sich das denn nicht vielleicht noch rückgängig machen?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0114.jpg&oldid=- (Version vom 26.10.2022)