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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)


davon auf Nimmerwiederkehr. So habe ich es gemacht, und das hat mir die Freiheit eingebracht, die goldene herrliche Freiheit. Jetzt soll es einer versuchen, sie mir wieder zu nehmen!“

Der Mann, der in seiner sprudelnden Heiterkeit, seinem kecken Uebermut jedem nur als die Verkörperung heißer, stürmischer Lebensfreude erschien, war wie verwandelt in diesem Augenblick. Es that sich da plötzlich eine dunkle, drohende Tiefe auf, die sich sonst vor aller Welt verschloß, selbst vor dem väterlichen Freunde, der ihm ein so großmütiges Vertrauen bewies. Jetzt öffnete sie sich vor einem Kinde, das nichts davon verstand und in der nächsten Stunde schon den seltsamen Ausbruch vergaß; aber was da auf dem Grunde ruhte, versunken und halb vergessen, das brach nun plötzlich mit elementarer Gewalt hervor, als müßte es sich Luft machen um jeden Preis. Das Kind blickte halb scheu, halb mitleidig zu ihm auf, es begriff nichts von dem allem, aber es fühlte instinktmäßig, daß der Mann dort litt.

Die Mittagsstunde nahte und die Luft wurde immer schwüler und drückender. Luksor lag seitwärts hinter den Palmen, die es den Blicken entzogen.

Dort über der fernen Wüste lagerte es wie eine Wolke von glühendem Dunst, die anfangs farblos und gestaltlos erschien, aber allmählich sich goldig zu färben begann. Bisweilen schien es, als wollte der Dunst sich lichten, und dann zeigten sich seltsame Bilder darin, schwankend und schleierhaft, aber sie zerflossen, sobald das Auge sie festzuhalten versuchte.

Die ganze Landschaft ringsum war wie in brennende Sonnenglut getaucht. Gelb leuchteten die kahlen Wüstenberge drüben am jenseitigen Ufer, gelb schimmerten die Fluten des Nils, die langsam in kaum sichtbarer Bewegung dahinzogen, und dort, wo seine Windungen sich in der Ferne verloren, dehnte sich das gelbe Sandmeer der Wüste aus. Alle anderen Farben schienen zu erblassen und zu erlöschen in dem grellen blendenden Lichte der Mittagssonne, selbst die Palmenwälder standen grau und farblos in der heißen flimmernden Luft.

Reinhart stand unbeweglich an den Stamm der Palme gelehnt und blickte hinaus in die Ferne. Die gelbe Dunstwolke dort am Wüstenrande schimmerte jetzt im tiefen Goldton, es leuchtete und zuckte darin wie von verborgenen Strahlen, und wieder zeigten sich jene Bilder, anfangs nur wie lichte Schemen, aber sie wurden immer klarer, immer deutlicher. Es war, als hebe sich langsam ein Schleier von einer fremden, geheimnisvollen Welt, die sich hinter jenem glühenden Nebel barg.

Da formten sich Kuppeln und Türme, und eine ganze Märchenstadt von schimmernden Palästen dämmerte hervor aus der goldigen Lichtflut. Riesenpalmen hoben ihre mächtigen Fächer in die Luft, und dahinter ragten hohe Berge empor, deren Gipfel verschwammen im schneeigen Glanz. An ihren Fuß schmiegte sich ein See mit leuchtender, wogender Flut und nun erglühte das Ganze im rosigen Scheine, als sei es angestrahlt von Morgengluten. Das erträumte Wunderland, das Land voll Glanz und Licht, da stand es, fern, fern am Horizont, in unerreichbarer Weite, aber geisterhaft schön!

„O, was ist das?“ fragte die kleine Elsa verwundert und entzückt. Reinhart verharrte noch immer regungslos an seinem Platze, aber sein Auge hing wie gebannt an dem schimmernden Luftgebilde und leise, als könnte ein lautes Wort den Zauber zerstören, sagte er: „Das ist die Fata Morgana!“

„Fata Morgana?“ sprach das Kind nach und dann schwieg es gleichfalls und schaute, weit vorgebeugt, mit großen Augen auf das Wüstenbild.

Das dauerte Minuten oder Viertelstunden – sie wußten es nicht, dann entschwebte die Erscheinung, langsam und geheimnisvoll, wie sie aufgetaucht war. Die hohen Berge verdämmerten im rosigen Duft, der See schien sich weit und immer weiter auszudehnen, er wurde zum uferlosen Meere und darin versanken die Palmen und die schimmernde Märchenstadt. Jetzt erblaßte auch der rosige Schein und alles zerfloß und zerrann in eine einzige Goldflut. Aber auch sie wurde matter und matter, dichter ballte sich der Nebel zusammen, nur jenes seltsame Leuchten zuckte noch bisweilen hindurch. Endlich erlosch auch das, und über der fernen Wüste lagerte wieder der glühende Dunst.

„Das schöne Land – jetzt ist es fort!“ rief die kleine Elsa. Reinhart fuhr auf, wie aus einem Traum erwachend. Er sah auf das Kind und dann umher, als müßte er sich erst besinnen, wo er sei.

„Ja, jetzt ist es verschwunden!“ sagte er mit einem tiefen Atemzuge. „Aber ich habe es doch geschaut – nun werde ich es auch zu finden wissen!“

Elsa sah ihn zweifelnd an, sie mochte doch das Unirdische jenes glänzenden Luftbildes ahnen, das in den Wolken zu schweben schien, und schüttelte das Köpfchen.

„Es ist aber sehr, sehr weit! Können wir denn hinkommen?“

„Wir? Willst Du mit, kleine Else?“ fragte Reinhart, bei dem jetzt wieder der alte stürmische Uebermut aufflammte. „Dann nehme ich Dich vor mich aufs Roß und wir jagen hinein in die Wüste, jagen Tag und Nacht, immer weiter und weiter, bis wir es erreicht haben, das Wunderland, wäre es auch mit einem Ritt auf Leben und Tod!“

Die Augen des Kindes strahlten. Es war noch ganz märchengläubig und hatte ja eben erst einen Blick in eine Märchenwelt gethan – da erschien ihm dieser phantastische Ritt, den es natürlich buchstäblich nahm, durchaus glaubhaft. Es schlug jubelnd in die Hände und rief: „Ja, ja, ich will mit!“

„Mit mir? Ich denke, Du magst mich nicht leiden,“ neckte der junge Mann. „Hast Du jetzt Frieden mit mir gemacht? Aber ich fürchte, ich kann Dich trotzdem nicht mitnehmen, denn Du reisest ja fort, weit über das Meer, nach Deutschland.“

Das Gesicht der Kleinen wurde sehr nachdenklich, sie überlegte augenscheinlich, ob der versprochene Wüstenritt nicht doch am Ende der Fahrt über das Meer vorzuziehen sei, endlich versetzte sie etwas kleinlaut: „Onkel Sonneck sagt, ich müsse heim zum Großpapa.“

„Heim – jawohl!“ wiederholte Reinhart in einem eigentümlich verschleierten Tone. Er beugte sich nieder und sah tief in die blauen Kinderaugen, während er fortfuhr: „Und wenn Du heimkommst, zu den hohen Bergen und den dunklen Wäldern, den stürzenden Wassern, dann – dann bringe ihnen einen Gruß, hörst Du, Elsa!“

„Von wem?“ fragte die Kleine unbefangen. Da hob sie Ehrwald mit beiden Armen empor und preßte sie fest an sich, sie fühlte ein paar heiße, zuckende Lippen auf den ihrigen und eine bebende, halberstickte Stimme flüsterte: „Von dem verlornen Sohn!“

Seltsam, diesmal sträubte sich das Kind nicht gegen die ungestüme, fast wilde Liebkosung, es schaute mit seinen großen Augen unverwandt in das Gesicht des jungen Mannes und sagte ernsthaft:

„Siehst Du – nun weinst Du doch!“

Reinhart zuckte zusammen und setzte mit einer heftigen Bewegung die Kleine wieder auf den Boden.

„Nein, ich weine nicht!“ sagte er rauh.

Elsa strich mit den kleinen Fingern über ihre Stirn, wo ein paar heiße brennende Tropfen zurückgeblieben waren, und sah dann wieder empor; sie schien nicht recht an die Ableugnung zu glauben. Da ließen sich Stimmen in einiger Entfernung hören, von denen die eine in arabischen Lauten abwechselnd schalt und jammerte, während eine Kinderstimme in derselben Sprache antwortete. Die Kleine horchte auf.

„Das ist Fatme, sie sucht mich und den Hassan hat sie schon gefunden.“

In der That wurde jetzt an einer anderen, minder abschüssigen Stelle des Ufers Hassan sichtbar, mit dem glücklich gefundenen Tuche, das er gewissenhaft wieder über den Kopf gebunden hatte, und hinter ihm eine alte Negerin, die, sobald sie Elsa erblickt hatte, schleunigst auf sie zustürzte und sie halb scheltend, halb liebkosend an sich zog.

„Ja, da sind sie, die beiden Durchgänger,“ sagte Reinhart, gleichfalls auf arabisch. „Das nächste Mal gieb besser acht, Fatme, sonst laufen sie Dir wieder davon.“

Fatme erschöpfte sich in Entschuldigungen und Beteuerungen, dann nahm sie die Kleine fest an die Hand, als fürchtete sie ein erneutes Fortlaufen, und führte sie davon, während Hassan der Spielgefährtin eiligst nachlief. Elsa folgte willig, aber nach einigen Schritten wandte sie sich um, blickte zurück und rief beinahe triumphierend: „Und Du hast doch geweint!“

Reinhart blieb allein. Er stampfte wie zornig über sich selbst mit dem Fuße. „Daß man sie doch nicht los wird, die alten Erinnerungen! Man wird noch ganz und gar zum Schwächling dabei und schämt sich dann vor einem Kinde. Pah, was hat es verstanden davon!“

Er warf mit einer energischen Bewegung den Kopf zurück und richtete sich empor. „Fort mit der Vergangenheit, ich habe sie abgeschworen! Hinter mir Nacht – vor mir Tag und was für ein herrlicher goldener Tag! Du hast mir den Weg gezeigt, du leuchtende Fata Morgana – ich komme!“

(Fortsetzung folgt.)


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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0107.jpg&oldid=- (Version vom 10.7.2023)