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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

den Füßchen berührend, ein paarmal wie besessen um die Linde herum; dann kehrte sie atemlos zu dem Knaben zurück.

„Hast Du Deine Mutter lieb?“

„Heut’ nicht,“ gab er zur Antwort.

Aber es lag ihm daran, das Unliebsame dieses Erlebnisses bei der Kleinen in Vergessenheit zu bringen, denn welchen Eindruck es auf sie gemacht, zeigte sich deutlich in der noch größeren Sorgfalt, die sie auf ihr Aeußeres verwendete. Die Köchin sollte ihr alle Tage eine frische Schürze geben; Gustl bürstete und kämmte ihr lockiges Haar zum Erbarmen, und bei jeder Gelegenheit wurde der Kamerad gefragt: „Hab’ ich jetzt so saubere Hände wie Deine Mutter?“

„Ach was,“ sagte er eines Tages, „laß mich in Ruh’, jetzt sollst Du einmal etwas erleben, das Schönste auf der Welt – ein wenig Mut mußt Du freilich haben – hast Du?“

„O ja!“ versicherte Gustl.

Eduard holte eine Leiter aus dem Holzstall und legte sie an die Linde.

„Jetzt mir nach!“ befahl er, stieg hinauf, wartete auf dem untersten Zweig und nahm das Kind, das ihm willig gefolgt war, in Empfang.

„So,“ sagte er, „nur schön sachte von Ast zu Ast mir nach – es ist wie eine Treppe, man kann’s ordentlich merken, daß ich schon hundert Jahr’ da herauf komm’ – da oben ist’s überhaupt am schönsten auf der Welt – paß auf, wie Dir’s gefallen wird, Gustl, man meint auf einmal, man wär’ ein Vogel, und kein Mensch hätt’ einem mehr ’was zu sagen!“

So plaudernd war er vorausgestiegen, hatte der Kleinen immer zur rechten Zeit die Hand gereicht, und sie waren miteinander glücklich und wohlgemut bis in die höchsten Regionen des Baumes geklettert. Da saßen sie dicht beisammen auf einem Ast, fast in gleicher Höhe mit den Dächern rings umher, und tief unter ihnen lag der Hof.

„Gelt, so ’was hast Du noch nicht gesehen, Gustl?“ frohlockte der Knabe und machte Anstalten, sich auf einen höheren Ast zu schwingen; aber da hielten ihn zwei zitternde Hände krampfhaft fest, und die Gustl, die sich freuen sollte, brach in ein bitteres Schluchzen aus. Ihr war so bang, so angst in dieser schwindelnden Höhe, so fern vom Vater, von allen Menschen. In ihrer Verzweiflung umklammerte sie den Hals des Gespielen, drückte ihr Gesichtchen gegen dessen Wangen und benetzte ihn mit ihren Thränen.

„Ach Du dumm’s Tierle,“ schalt Eduard, die Kleine sachte mit seinen Armen umschließend, „ich halt’ Dich ja fest – wo hätt’ ich geglaubt, daß Du so ein dumm’s Tierle wärst, Gustl.“

Sie wurde still, hielt sich aber immer weiter an ihm fest, dann und wann tief aufseufzend, während er sich lächelnd mit ihr auf dem Aste wiegte. Nie in seinem Leben war er von zwei Armen so warm umfangen worden, zum erstenmal fühlte er ein klopfendes Herz nahe dem seinen, er drückte einen leisen Kuß auf die heiße Kinderwange, die sich an ihn schmiegte. „Wie schad’, wie schad’, Gustl, daß nicht irgend etwas Schreckliches kommt und ich Dich verteidigen kann!“

„Du dummer Bub’,“ schluchzte sie, „das ist doch schon schrecklich genug, daß ich da oben sitz’.“

Damit war der Zauber gebrochen. Der dreizehnjährige Knabe nahm die noch nicht zehnjährige, aber kräftige Kleine auf den Rücken und kletterte so mit seiner Bürde langsam und mühselig von Ast zu Ast. Als sie unten waren, erzählte Gustl ihrem Vater: „Weißt Du auch, das war einmal schön, wir sind ganz oben gewesen, in der Linde und haben die ganze Welt gesehen!“

„Ist das wahr?“ fragte Herr Schneider den Jungen.

Er nickte. „Ja, aber da oben hat sie geheult und von der ganzen Aussicht nichts gesehen.“

„Solche Dummheiten verbitt’ ich mir,“ sagte Herr Schneider.

(Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüten.

Der letzte Staatsrat des Großen Kurfürsten. (Zu dem Bilde S. 56 und 57.) Einen für Preußens Geschichte bedeutsamen Augenblick stellt uns Professor Fritz Röber auf seinem geistvoll erfaßten und ausdrucksvoll ausgeführten großen Bilde dar. Am 7. Mai 1688 ließ der Große Kurfürst, schwer erkrankt, dem Tode nahe, sich zu dem rasch einberufenen Geheimen Rat hintragen; hier erteilte er seinem Sohn, dem späteren König Friedrich I., seinen Segen, indem er ihn mit feierlichen und rührenden Worten ermahnte, die Regierung nach den bisherigen bewährten Grundsätzen fortzuführen und den erworbenen Ruhm zu wahren. Der sterbende Fürst warf einen Rückblick auf seine eigene glückliche, aber mühevolle Regierung voll Krieg und Unruhe, auf die traurige Zerrüttung, in welcher er das Land beim Beginn derselben gefunden, auf seine mit Erfolg gekrönten Bestrebungen, es in besseren Stand zu bringen, so daß es jetzt von seinen Freunden geachtet, von seinen Feinden gefürchtet werde. Der Kronprinz antwortete tiefgerührt, was ihm der feierliche Augenblick und die Verehrung für den geliebten Vater, den großen Fürsten, eingab. Nicht lange überlebte der Fürst diese letzte feierliche Sitzung: er starb nach schwerem, mit Geduld ertragenem Todeskampfe am 9. Mai 1688. Vater und Sohn, welche den Mittelpunkt des Gemäldes bilden, spiegeln die ganze Bedeutung des geschichtlichen Augenblicks wieder: man sieht bereits die Schatten des Todes über das Antlitz des Großen Kurfürsten fliegen; aber sie nehmen ihm nichts von seiner geistigen Größe; noch immer tragen diese Züge das Gepräge eines imponierenden Charakters, einer willensstarken Herrscherseele, während der im Profil dargestellte Kopf des Kurprinzen von tiefem Schmerz und innerster Ergriffenheit zeugt. Man sieht gleichsam das untergehende und aufgehende Gestirn Preußens; aber man hat den Eindruck, daß die Strahlenglorie des ersteren von dem letzteren nicht erreicht werden wird: die Züge des Kurprinzen haben etwas Weicheres, was nicht bloß durch die Jugendlichkeit und den ergreifenden Augenblick bestimmt wird; man sieht es ihnen an, daß die Entschiedenheit des Charakters sich von dem Vater auf den Sohn nicht in gleichem Maße fortgeerbt hat. Als Zeugen dieser Abschiedsscene umgeben den Thron die Großen des preußischen Staates, die in Krieg und Frieden die Lorbeeren des scheidenden Herrschers geteilt haben. Da sehen wir mit dem Marschallstabe den Marschall Grafen von Schomberg. Er war ursprünglich ein französischer Marschall und lebte später in Portugal, von wo ihn der Große Kurfürst berufen und als obersten General an die Spitze seines Heeres gestellt hatte; Schomberg war zugleich Statthalter von Preußen geworden und nach den Prinzen von Geblüt der Höchste im Range. Dann sehen wir neben ihm einen der ältesten Söhne des Kurfürsten aus zweiter Ehe, den Gründer der Schwedtschen Linie; in einer anderen Gruppe auf der linken Seite des Bildes findet sich Geheimrat und General von Grumbkow, Obermarschall des Hofes und Vater des Generals, der nachher unter Friedrich Wilhelm I. eine so wichtige in vieler Hinsicht unliebsame Rolle spielte; er sieht zu Boden und greift mit der Hand in die Weste; an seiner Seite, den Ratsmantel über die Höflingstracht geworfen, steht Reetz, welcher die Direktion der Städtekasse hatte. In der Nähe des Kurfürsten stehen Otto von Schwerin, der Statthalter in Berlin, und der Kammerpräsident von Knyphausen. So interessant diese Gruppen der Räte durch die Porträtähnlichkeit ihrer Charakterköpfe sein mögen, die hauptsächliche Teilnahme wendet sich doch dem Kurfürsten und seinem Sohne zu; denn hier ist nicht nur der geschichtlich bedeutsame Augenblick festgehalten, es ist zugleich ein fesselndes Seelengemälde, das mit feiner Kunst ausgeführt ist. †     

Abschreiber und Nachahmer der „Gartenlaube“. In den 43 Bänden der „Gartenlaube“, die seit der Gründung des Blattes erschienen sind, ist eine Riesenmenge belehrenden und unterhaltenden Stoffes enthalten; darunter befinden sich Artikel, die zu den Perlen einer edlen echt volkstümlichen Darstellung zählen. Diese Bände, von denen so viele in Hausbibliotheken aufgestellt sind, bilden immerfort für Jung und Alt eine unversiegbare Quelle neuer geistiger Anregung. Die „Gartenlaube“ ist ja das deutsche Hausblatt, das in so vielen Fällen bereits von Großeltern den Enkeln vererbt wurde. In den alten verstaubten Bänden blättert aber nicht nur die Lesewelt, sie werden auch von Leuten von der Feder aufgeschlagen. Da stöbert darin so mancher ehrgeizige und unternehmende Mann, um das Geheimnis des Erfolgs der „Gartenlaube“ zu ergründen, um zu erfahren, wie Familienblätter redigiert werden sollen. Nicht immer ist das Studium von Erfolg gekrönt; das Nachmachen verfängt nicht; denn zum Schaffen guter Volksschriften und nützlicher Volksblätter gehört etwas mehr als „geschickte Mache“; dazu sind vor allem Liebe zum Volke, warme Teilnahme für seine großen und seine kleinsten Interessen nötig; dazu ist ein Aufgehen in den Bedürfnissen der Familie unentbehrlich, die als Bollwerk der guten Sitte die Grundlage aller Völkermacht bildet. Das Wirken in der Volkslitteratur ist einmal Herzenssache und wer kein Herz für das Volk hat, der zerbricht sich vergebens den Kopf über die Frage, wie „Volks- und Familienblätter gemacht werden“ sollen; selbst wenn er jahrelang in guten Redaktionen als Lehrling sich abgemüht hat, geht er doch von dannen, ohne das gelernt zu haben, was er als „Kunst“ oder „Geschäft“ auffaßte, und was im Grunde eine ernste Arbeit für das Volkswohl ist. Im Laufe der vier Jahrzehnte, da die „Gartenlaube“ für die deutschen Familien in der Heimat und jenseit der Meere ein einigendes Band geworden war, da sie mitstritt für die Freiheit des Denkens und Wirkens, für die Einigung der Nation, da sie bestrebt war, Bildung zu verbreiten und überall den gemeinnützigen Sinn zu fördern, ist anderen Leuten wiederholt der Gedanke gekommen, die „Gartenlaube“ zu kopieren, wobei sie ihr Vorbild recht schlecht zu machen suchten. Sie haben damit kein Glück gehabt, den großen und kleinen Kopisten ist dieses Unterfangen vielfach herzlich schlecht bekommen! Die Redaktion der „Gartenlaube“ pflegt ihre Leser mit einer derartigen Polemik nicht zu behelligen. Sie schweigt zumeist, wenn sie geschimpft wird; ihr aus allen Ständen des deutschen Volkes zusammengesetzter Leserkreis hat ja in diesem Streite zu entscheiden. Nun! Sein Urteil giebt uns die frohe Zuversicht und den Mut, weiter auf der erprobten Bahn fortzuschreiten, denn die schon als „alte Matrone“ Verspottete

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0067.jpg&oldid=- (Version vom 10.7.2023)