Seite:Die Gartenlaube (1896) 0062.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Kranken einen Wollfaden um die große Zehe wickelt. Schlimmer noch als diese Dinge ist es, wenn man dem Kranken mit innerlichen Mitteln ähnlicher Art, wie Pulver von Kellerasseln, getrockneten Kröten u. dergl., zu Leibe geht. Der Kranke, der vielleicht durch eine vernünftige Behandlung zu retten gewesen wäre, geht zu Grunde infolge von Vernachlässigung, wenn nicht gar an den Folgen der „Kur“. Fast ebenso schlimm ist der Glaube an Zauber- und Teufelskünste. Irgend ein altes Weib ist im Dorfe, das im Rufe der Hexerei steht. Sie versteht es, Zaubersprüche zu schreiben, das Vieh zu verhexen, das Feuer zu bannen u. dergl., und dann giebt es zwei Möglichkeiten: entweder sie wird gefürchtet und gelegentlich mißhandelt, oder man zieht sie in schwierigen Fällen zu Rate und sie bekommt eine große Wunderpraxis. Im letzteren Falle geht es den Betrogenen gewöhnlich an den Geldbeutel. Wenn eine Betrügerin dieser Art eine Großstadt zum Schauplatz ihrer Thätigkeit erwählt und in dem bunten Treiben derselben es versteht, sich vor den Augen der Sicherheitsbehörde zu verbergen, so wird sie zu einer geradezu gemeingefährlichen Person, welche Leichtgläubigen selbst die letzten Spargroschen aus der Tasche zieht.

Erst im vorigen Jahre hat ein solcher Fall ein deutsches Gericht beschäftigt; es kam zu einem „Hexenprozeß“, dessen Verhandlung leider eine erstaunliche Fülle abergläubischer Verirrungen enthüllte.

In Straßburg, der „wunderschönen Stadt“, lebte die 58jährige Witwe Stehli. Der Umstand, daß sie schon wiederholt in früheren Jahren mit dem Strafgesetz in Berührung gekommen war und auch einmal im Jahre 1882 wegen abergläubischer Betrügereien eine Gefängnißstrafe von 11/2 Jahren erlitten hatte, hinderte nicht, daß sie wegen übernatürlicher Gaben und Kenntnisse einen großen Ruf genoß und von weit und breit um Rat angegangen wurde. Sie verstand es, Karten zu legen, Sympathie- und Zaubermittel zu verschreiben, und andere schwarze Künste mehr. Ihre Hauptkunden waren einfache Leute aus dem Volke, Dienstmädchen vor allem, denen sie in raffiniertester Weise das Geld abzunehmen verstand. Vor keiner noch so schwierigen Aufgabe schreckte die Stehli zurück, ihre Hexereien erstreckten sich auf ganz greifbare und praktische Dinge: sie heilte nicht nur krankes Vieh, sondern konnte auch verlorene Gegenstände wieder beschaffen, ja sogar – aussichtslose Forderungen von zahlungsunfähigen Schuldnern beitreiben, was oft dem gewiegtesten Gerichtsvollzieher nicht gelingt. Ganz besonderen Ruf genoß sie aber wegen ihrer Mittel, untreu gewordene Liebhaber zurückzuführen, und arme Dienstmägde und Kellnerinnen, die von ihrem Liebsten im Stiche gelassen waren, wandten sich in Menge an sie. Entweder handelte es sich darum, einen säumigen Bräutigam zur Heirat zu zwingen oder einen untreu gewordenen Liebsten, der eine Andere geheiratet hatte, zu bestrafen. Die Stehli verstand es, für dergleichen Hexereien von ihren abergläubischen Kundinnen die letzten Spargroschen herauszulocken, so daß man im Zweifel ist, ob man mehr über die Dummheit der letzteren oder über die Abgefeimtheit der Betrügerin staunen soll.

Die Polizei war schließlich auf das Treiben der Stehli aufmerksam geworden und hatte sie verhaftet. In der Gerichtsverhandlung, die im September 1895 vor der Strafkammer des Landgerichtes stattfand, entrollte sich dann ein klares Bild des Geschäftstreibens der Angeklagten, neben der noch ein Helfershelfer, der 26jährige Tagelöhner Sturni, auf der Anklagebank Platz nahm. Der sogenannte „Liebes- oder Heiratszwang“, den die Angeklagte ihren Kundinnen verschrieb, bestand in allerlei abergläubischem Hokuspokus. Da riet sie einem Mädchen, deren Verlobter untreu geworden war, Nadeln in Kerzen zu stecken und diese dann zu verbrennen, Salz auf Kohlen zu streuen, drei Stück Brot über Kreuz zu legen und ähnliches. Für diese Ratschläge ließ sie sich 50 Mark, in einem anderen Falle 63 Mark bezahlen! Ein einfacher „Heiratszwang“ kostete 20 bis 50 Mark, je nach der Dummheit der Klientin. Einem Mädchen nahm sie in einem gleichen Falle bei deren erstem Besuch für „drei Messen“ 6 Mark ab, dann 12 Mark für eine „doppelte Andacht“, dann 9 Mark für eine „blinde Andacht“, dann nochmals 12 Mark für eine „doppelte Andacht“ und endlich 15 Mark für den „Schluß“. Mit allen „Nebenkosten“ hat die Geprellte 150 Mark bezahlt!

Ihren abergläubischen Kunden spiegelte die Betrügerin gewöhnlich vor, daß sie mit Geistern und Zauberern im Bunde stehe. Sie erzählte, daß „drei Baseler Herren“, Namens Petri, Weber und Jean, ihr bei ihren Zaubereien Hilfe leisteten. Ihr Helfershelfer Sturni schrieb dann die angeblich von diesen Baseler Schwarzkünstlern herrührenden Briefe, Musterbeispiele blühenden abergläubischen Blödsinns, den die Kunden der Stehli mit ehrfurchtsvollem Schauder entgegennahmen. Diese Briefe mußten natürlich besonders bezahlt werden, denn die drei Schwarzkünstler gaben ihre Weisheit nur zu guten Preisen her. Auf diese Weise nahm die Angeklagte einer Dienstmagd im ganzen 200 Mark ab!

Einer der am ärgsten Geprellten war ein abergläubischer Landmann, der zu der Stehli gekommen war, weil seine Kühe und Hühner plötzlich krank geworden waren und daher Hexerei im Spiel sein mußte. Auch diesem versprach sie, mit Hilfe der Baseler Herren zu helfen. Sie erzählte ihm unter anderem, sie habe sich auf 16 Jahre dem Teufel verschrieben, und es gelang ihr – ein Beispiel, wie groß der geistige Einfluß solcher gefährlichen Personen auf beschränkte Köpfe ist – den Leichtgläubigen durch Zaubereien und Geisterspuk schließlich derartig zu verwirren, daß er sich einbildete, von Geistern verfolgt zu sein, und nachts in seinem Hause allerlei Geräusch hörte. Diese Heimsuchungen durch Geister waren wieder ein erneuter Anlaß zur Inanspruchnahme der „Baseler Herren“. Die von dem Helfershelfer Sturni geschriebenen Briefe derselben enthielten in der Regel das Verlangen nach Geld und waren ein zweckmäßiges Mittel, den Verdacht der Prellerei – sofern derselbe bei der grenzenlosen Leichtgläubigkeit der Betrogenen überhaupt aufkommen konnte – von sich abzuwenden. Alles in allem ist der abergläubische Landbewohner 500 Mark losgeworden! Ob er dadurch für immer geheilt ist?

Einer Kellnerin, die von ihrem Liebsten im Stich gelassen war, hat die Schwindlerin ihre ganze Habe abgelockt. Die Geprellte versetzte schließlich, um die geforderten Geldmittel herbeizuschaffen, alles, was sie besaß. Im ganzen hat die Stehli auch in diesem Falle 500 Mark eingeheimst!

Daß die Stehli auch in geschäftlichen Dingen nebenher recht bewandert war und auch „auf natürliche Weise“ Schwindeleien geschickt auszuführen verstand, zeigte die Vernehmung eines anderen Opfers, eines Fuhrmanns. Derselbe hatte von den Zauberkünsten der Stehli gehört und begab sich zu ihr, um ein Mittel zu erlangen, eine aussichtslose Forderung von seinem Schuldner beizutreiben. Die Angeklagte schreckte auch nicht davor zurück, an eine so nüchterne Aufgabe mit ihren Zaubermitteln heranzugehen, und sagte dem abergläubischen Gläubiger zu, daß sie ihm zu seinem Gelde verhelfen werde. Diese Gelegenheit benutzte sie, um ihn um ein Darlehn anzugehen. Sie spiegelte ihm vor, daß sie in der nächsten Zeit eine große Erbschaft zu erwarten habe, und verpfändete ihm außerdem noch die Möbel in ihrer Wohnung. Beides war eitel Schwindel und Betrug: die Erbschaft existierte nicht, und die Möbel waren nicht Eigentum der Stehli. Der vertrauensselige Fuhrmann ist sein Geld losgeworden, ohne daß die Zaubermittel seinem hartnäckigen Schuldner auch nur eine unruhige Nacht bereitet hätten.

In einem anderen Falle lockte die Stehli ebenfalls durch die Vorspiegelung von einer in Aussicht stehenden großen Erbschaft einer Kundin ein Darlehn von 100 Mark ab, über dem üblichen Preise, den sie sich für einen „Heiratszwang“, welcher den Bräutigam derselben zurückführen sollte, zahlen ließ.

Diese letzteren beiden Fälle sind deswegen besonders bezeichnend, weil sie klar erkennen lassen, daß die abgefeimte Person keineswegs etwa zu den „betrogenen Betrügern“ gehörte, die selbst von der Wirksamkeit ihrer Zaubermittel überzeugt sind, sondern daß sie mit dem vollen Bewußtsein der Unwahrheit ihrer Vorspiegelungen auf Betrug ausging. Es giebt ja gewiß Fälle, in denen derartige Personen selbst von dem abergläubischen Wahne vollständig befangen sind, und in der Regel ist das bei den ländlichen Kurpfuschern, Schäfern und Wunderdoktoren der Fall. Diese Leute, die zeitlebens unter einer abergläubischen und unwissenden Bevölkerung sich aufhalten und unter einer solchen aufgewachsen sind, müssen naturgemäß auch selbst von den Vorstellungen erfüllt sein, die ihrem abergläubischen Treiben zu Grunde liegen, und man kann daher bei ihnen in vielen Fällen von einer bewußten betrügerischen Absicht nicht sprechen. Ganz anders liegt die Sache offenbar bei der „Straßburger Hexe“. Der Umstand, daß sie in einigen Fällen zu den gewöhnlichen Mitteln des Betruges

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0062.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)