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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)


„Da drüben an jener Ecke standen wir und wollten nach Hause. Selma war wie immer dicht an meiner Seite. Da kommt auf einmal einer von diesen verrückten arabischen Hochzeitszügen, bei denen man alles mögliche sieht und hört, nur die Hauptperson, die Braut, nicht. Alles rennt herbei, wir werden gedrängt und gestoßen und auf einmal ist Selma verschwunden. Ich rufe und suche überall, laufe zurück in die Bazare, umsonst – sie ist nicht wiederzufinden.“

„Nun dann wird sie irgendwo in der Muski sein.“

„Aber nicht mehr lebendig! Sie ist überfahren, totgetreten, man ist ja seines Lebens nicht sicher in diesem schändlichen Wirrwar und Selma ist ohne mich hilflos wie ein Kind. Aber das kommt davon, wenn man nach Afrika geschickt wird, eines bloßen Hustens wegen. Wenn mein seliger Martin das wüßte! Selma! Selma!“

„Das Rufen nützt nichts,“ sagte der Doktor. „Man hört es in dem Straßenlärm ja kaum einige Schritte weit; wir müssen die Sache strategisch anfangen. Suchen Sie in dem oberen Teile der Straße, ich werde den unteren auf mich nehmen, hier an den Bazaren treffen wir wieder zusammen. Wenn Frau Mallner überhaupt noch hier ist, müssen wir sie finden.“

„Ja, so wird es gehen,“ stimmte Ulrike bei, der dieser Vorschlag einleuchtete. Sie trat schleunigst ihren Entdeckungszug an, während der Doktor sich gleichfalls ohne weiteren Gruß nach der andern Richtung wandte. Er war längst dahingelangt, die Dame ebenso rücksichtslos zu behandeln, wie sie es sich gegen ihn erlaubte, und hätte sich schwerlich herbeigelassen, ihrer Aufforderung nachzukommen, wenn es sich nicht gerade um seine Patientin gehandelt hätte, deren Unselbständigkeit und Schüchternheit er kannte.

Die junge Frau befand sich allerdings noch in der Muski, aber in völliger Ratlosigkeit und Verzweiflung. Als sie sich so plötzlich von ihrer Begleiterin getrennt sah, hatte sie freilich versucht, diese wieder aufzufinden, aber da sie sich dabei nach der falschen Richtung wandte, entfernten sie sich immer mehr voneinander. Die arme Selma, der man kaum daheim in Martinsfelde erlaubt hatte, allein auszugehen, und die hier nun vollends nicht von der Seite ihrer Schwägerin kam, war in der That hilflos wie ein Kind! Es fiel ihr gar nicht ein, einen Wagen zu suchen, um nach dem Hotel zu fahren, dessen Namen der Kutscher doch wohl verstanden hätte, sie spähte immer nur angstvoll nach Ulrike und ließ sich dabei von der Menschenmenge geduldig schieben und stoßen. Aber ihre Furcht wurde immer größer dabei, und als sich nun vollends zwei Eselsjungen dicht an sie herandrängten und mit lautem zudringlichen Geschrei ihre Tiere anpriesen, flüchtete sie in Todesangst in eine kleine Mauernische, drückte sich dicht an die Wand und brach in Thränen aus.

„Grüß Gott, Frau Mallner!“ sagte auf einmal eine Stimme in deutscher Sprache neben ihr, und sich umwendend, gewahrte sie einen jungen Mann, dessen ganzes Gesicht strahlte in freudiger Ueberraschung, als er fortfuhr: „Das nenne ich Glück! Gleich bei meinem ersten Ausgange in Kairo treffe ich mit Ihnen zusammen!“

Er mußte der jungen Frau wohl als ein Helfer in der Not erscheinen, denn sie atmete auf bei seinem Anblick, aber sie wurde zugleich dunkelrot. „Ach, Herr Doktor!“

„Zu Befehl! Doktor Bertram, wohlbestallter Schiffsarzt vom Lloydschiffe ‚Neptun‘, hat die Ehre, sich zu melden. Also haben Sie mich doch nicht ganz vergessen, gnädige Frau? Ich hörte freilich nichts weiter von Ihnen, seit wir Sie in Alexandrien landeten. Aber was ist Ihnen denn, Sie sehen ja ganz verstört aus?“

„Ich ängstigte mich so,“ gestand Selma. „Ich wurde im Gedränge von meiner Schwägerin getrennt und nun bin ich ganz allein in dem Menschengewühl –“

„Jetzt nicht mehr, denn jetzt bin ich da,“ erklärte der junge Arzt, indem er sich wie ein Baum vor der Mauernische aufpflanzte. „Seien Sie ganz unbesorgt, gnädige Frau, ich bleibe an Ihrer Seite.“

„Ich – ich danke Ihnen,“ sagte Selma schüchtern. „Wenn Sie mir nur helfen wollten, meine Schwägerin aufzufinden!“

„Das sollten wir ruhig abwarten,“ meinte Doktor Bertram, der gar keine Eile zu haben schien, auch diese zweite Reisebekanntschaft zu erneuern. „Fräulein Mallner wird schon irgendwo wieder zum Vorschein kommen!“

„Nein, nein, ich habe schon zu lange gewartet,“ rief die junge Frau ängstlich. „Bitte, helfen Sie mir Ulrike suchen.“

„Wie Sie befehlen.“ Er bot ihr den Arm, Selma zögerte, ihn anzunehmen: sie war an solche Aufmerksamkeiten gar nicht gewöhnt. Aber der Doktor ließ ihr keine Zeit zum Besinnen, sondern bemächtigte sich ohne weiteres ihres Arms und führte sie mitten hinein in das Straßengewühl.

Der junge Arzt, der am Ende der Zwanzig stehen mochte, war eine stattliche hübsche Erscheinung. In dem von Sonne und Seeluft gebräunten Antlitz blitzte ein Paar lustiger, brauner Augen und die Marinemütze mit dem Abzeichen des Lloyd saß keck und schief auf dem dunklen, leicht gekrausten Haar. Er war offenbar sehr vergnügt über dies unerwartete Zusammentreffen und über seine Beschützerrolle und es gelang ihm auch, seine Schutzbefohlene etwas zutraulicher zu machen. Die kleine zarte Frau hing wie ein Kind an seinem Arme, aber sie kam sich auf einmal so geschützt und geborgen vor, antwortete auch bald nicht mehr so scheu und einsilbig wie im Anfange und lachte sogar bisweilen über die lustigen Bemerkungen ihres Begleiters. Dabei verlor sie aber den Zweck ihres Ganges einigermaßen aus den Augen und Fräulein Ulrike Mallner trat etwas in den Hintergrund.

Aber diese Dame wußte sich schon rechtzeitig wieder in den Vordergrund zu stellen. Urplötzlich tauchte sie in Lebensgröße vor den beiden auf und schoß wie ein Stoßvogel auf die verlorengegangene Schwägerin los. „Selma, habe ich Dich endlich! Du warst –“ sie verstummte urplötzlich und stand da wie eine Salzsäule. Die unerhörte Thatsache, die Witwe ihres Bruders am Arme eines fremden Mannes zu sehen, raubte ihr für den Augenblick Sprache und Bewegung.

(Fortsetzung folgt.)




Wiens größter Landschaftsmaler.

Ein Erinnerungsblatt an Emil Schindler von Ludwig Hevesi.0 Mit Abbildungen S. 53 und S. 61.


Der Himmel war blau und die Sonne schien warm, es war ein rechter Sommertag im letzten Oktober, da enthüllten die Wiener Künstler in ihrem Stadtparke das Denkmal des Wiener Landschaftsmalers Emil Jakob Schindler. Ein denkmalfähiger Maler, das ist der Kaiserstadt etwas ganz Neues; vollends einer, der „bloß“ Landschaften gemalt hat! Aber nun sitzt er unleugbar da, lebensgroß, in weißem Marmor, auf seinem Felsen, in seinem Hain, und träumt mit halboffenen Augen über den Schwanenteich hinweg und über die Dächer hinaus, in seine geliebte Wiener Luft hinein, aus der ihm der alte Stephansturm zuwinkt. Kunst grüßt die Kunst. Meister Emil war ein großer Träumer vor dem Herrn, aber so weit haben sich seine Phantasien niemals verstiegen. Der lyrischeste deutsche Landschafter blühte in Freud’ und Leid rastlos vor sich hin und strömte in wundersamer Fruchtbarkeit ein intimes Naturleben aus, dreißig Jahre lang, meist unbekümmert, ob ein Menschenauge es bemerke. Erdrückend widerwärtig umklammerten ihn die Verhältnisse, denn es war die schier endlose Oede nach dem „Krach“, und er konnte sie nicht anders bekämpfen, als indem er weiterblühte, zart und mächtig wie die Gebirgspflanze, deren unmerklich stilles Wuchern zuletzt plötzlich den Felsen sprengt. Sie hat sich befreit, aber er reißt sie stürzend mit sich in den Abgrund.

Das war ein Leben voll Kampf und Sieg, ein seltsames Trauerspiel, dessen Held schon im dritten Aufzug fällt; die beiden Schlußakte sind nur noch seine Apotheose! Am 27. April 1842 zu Wien geboren, starb er am 6. August 1892 zu Westerland auf Sylt. In dieser Spanne von bloß fünfzig Jahren eines bürgerlichen Künstlerlebens, ohne alle effektvollen Abenteuer, ist doch eine Schicksalsskala vom tiefsten Dunkel bis zum hellsten Licht durchmessen, voll idyllischer, romantischer, poetischer, tragischer Episoden.

Sie beginnen schon in der Kindheit. Der Großvater besitzt eine stattliche Baumwollspinnerei im Dörfchen Fischamend bei Wien, wo die kleine Fischa sich in die große Donau stürzt. An diesem Betrieb war sein Vater beteiligt. Alles gedieh und schien voll Zukunft, denn man hatte die Fabrik eben erst durch neue Einrichtungen auf die Höhe der Zeit erhoben. Sie brauchte nur noch versichert zu werden und schon war das Erscheinen der Versicherungskommission angesagt, als – die Nacht vorher – das Ganze in Flammen aufging. In der anstoßenden Mühle war ein Müllerbursche

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0058.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)