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Pestalozzi.

Zum 12. Januar 1896.
Von Professor Theobald Ziegler (Straßburg i. E.).
(Mit dem Bilde S. 21.)

Am 12. Januar feiern wir die 150jährige Erinnerung an den Geburtstag Pestalozzis. Die 150jährige! – sie begeht man nur in Ausnahmefällen, in weiteren Kreisen nur bei den allergrößten Menschen. Liegt hier ein solcher Ausnahmefall vor? Gehört Pestalozzi zu unseren Allergrößten? Ich denke entschieden: ja!

Sieht man freilich auf das Leben des Mannes, so ist es ein Leben voll Enttäuschungen und ein Leben auch voll von Mißgriffen gewesen. Erst wollte er Theologie studieren, dann als Advokat dem unterdrückten Volke in seiner schweizerischen Heimat Hilfe und Rettung bringen, und schließlich wurde er Landwirt. Aber unpraktisch, wie er war, litt er auf seinem Gut, dem Neuhof bei Birr am Fuße des Brauneggberges, bald genng Schiffbruch: und als er hier inmitten aller seiner eigenen Not seinen wahren Beruf entdeckte und eine Armenschule gründete, mißlang auch das. Und ebenso folgte auf den großen und glücklichen Griff, den er mit seinem Volksbuch „Lienhard und Gertrud“ (1781) that, rasch wieder Rückschlag und Niedergang: die lehrhaften Fortsetzungen der Schrift fanden wenig Anklang und sein tiefstes Werk „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“ (1797) hielten die meisten seiner Zeitgenossen, wie er selbst klagt, „für einen Gallimathias“; es schien, als könne und wolle ihn niemand verstehen.

Aber sein Tag sollte dennoch kommen! Noch bei seinen Lebzeiten erkannte man ihn in seiner ganzen großen Bedeutung unter allen Verhüllungen und Entstellungen des eigenen Mißgeschicks und des Mißerfolgs bei anderen, und es erkannten ihn, der nun ganz einfach und schlicht Schulmeister, nichts als Schulmeister werden wollte, gerade auch die edelsten und feinsten Geister seiner Zeit. Und daß es solche Männer damals auch im Rate der Völker und Fürsten gab, das ist sein und unser Glück gewesen. Erst war es sein Landsmann Stapfer, der Unterrichtsminister der verjüngten helvetischen Republik, der ihm zu Stans im Erzichungshaus der durch die Revolution und ihre blutige Niederwerfung zu Waisen gewordenen Kinder von Nidwalden die Gelegenheit verschaffte, zu zeigen, was er konnte, und noch vorher selbst erst zu lernen, was er wollte. Und Stapfer verlor auch dann den Glauben an Pestalozzi nicht, als auch dieses Unternehmen nach kurzem Bestand (vom Januar bis Juni 1799) scheiterte, sondern überwies ihm für die Fortführung seines Werkes die Hintersassenschule zu Burgdorf, die nun der Baum wurde, „dessen Aeste sich über den Erdkreis ausbreiten und unter dessen Schatten die Völker der Erde ohne Ausnahme ruhen“ sollten.

Wichtiger jedoch als das Schicksal der Pestalozzischen Anstalten erst in Burgdorf, dann in Münchenbuchsee und Yverdon, die nach raschem Aufblühen bei der völligen Regierungsunfähigkeit Pestalozzis und den beständigen Streitigkeiten unter seinen Mitarbeitern immer wieder dahinsiechten und dem Untergang verfielen, ist für uns heute und hier ein anderes – die Verpflanzung der Pestalozzischen Ideen nach Deutschland und der Einfluß, den sie auf uns geübt haben und immer noch ausüben.

Und so denken wir zuerst an das, was Pestalozzi dem deutschen Volke in seinen schwersten Stunden – nach der Schlacht von Jena – gewesen ist. Auch da war es ein Staatsmann, der größten einer, der Freiherr vom Stein, der zur Wiederaufrichtung Preußens aus tiefem Fall und zu dem großen Kampf, den er gegen die Gewaltherrschaft Napoleons vorbereitete, auf diesen „Schulmeister“ zurückgriff und in seinem Werk und Wirken das Mittel zur Rettung, die tiefste und gründlichste Hilfe in der Not erkannte; der Gedanke, daß die Erziehung durch eine auf die innere Natur des Menschen gegründete Methode jede Geisteskraft von innen heraus entwickeln müsse, leuchtete ihm ein. Denn just das brauchte in diesem Augenblick das preußische Volk, die Entbindung aller geistigen und sittlichen Kräfte zur Selbsthilfe. Daher die Befreiung des erbunterthänigen Bauernstandes, die Einführung der Selbstverwaltung, die Wehrbarmachung des ganzen Volkes, und Hand in Hand damit die Idee der Pestalozzischen Pädagogik: die gesunkene Menschheit vom Verderben emporzuheben durch Weckung und Stärkung ihrer besten, echt menschlichen Kräfte, ihr zu helfen durch Erziehung zur Rettung aus eigener Kraft. Denn daß Pestalozzis Art zu erziehen in der That „die Selbständigkeit des Geistes erhöhe, den religiösen Sinn und alle edleren Gefühle der Menschen errege, das Leben in der Idee befördere und den Hang zum Leben im Genuß mindere und ihm entgegenwirke“, davon war dieser preußische Minister mit seinen hohen Gedanken von den sittlichen Kräften im Volk und Staat aufs tiefste überzeugt. Und in diesem selben Sinn hatte ja auch schon Fichte in seinen „Reden an die deutsche Nation“ auf Pestalozzi hingewiesen und ihn mit Luther zusammengestellt als einen, an dem „die Grundzüge des deutschen Gemütes aufgezeigt und der erfreuende Beweis geführt werden könne, daß dieses Gemüt in seiner ganzen Wunder wirkenden Kraft in dem Umkreis der deutschen Zunge noch walte bis auf diesen Tag.“

Nun aber das ungeheure Glück, daß in diesem Augenblick auch das preußische Unterrichtswesen in die Hände von Männern gelegt werden konnte, die ebenso hoch und rein empfanden wie Stein und Fichte und darum Pestalozzis hohen und reinen Ideen dasselbe feine Verständnis entgegenbrachten wie jene: Nicolovius, der schon seit 1791 ein Freund Pestalozzis war, Süvern, der es jetzt wurde, und über beiden der neue Chef der preußischen Unterrichtsverwaltnng, Wilhelm v. Humboldt, der nun zeigen sollte, was die höchste individuelle Bildung, gestellt in den Dienst des Ganzen, für dieses wert sei und leisten könne. Und so wurde denn alsbald eine Reihe von jungen Männern, die Schulmeister werden wollten, von der preußischen Regierung nach Yverdon geschickt, um bei Pestalozzi zu lernen, wie man in den Kindern Kraft wecke und Kraft entbinde, wie man unterrichte und erziehe zugleich: und nach Königsberg berief man – freilich keine ganz geschickte Wahl – den Pestalozzianer Zeller, daß er dort ein Lehrerseminar und eine Musterbildungsanstalt nach der neuen Methode einrichte und in besonderen Kursen Geistliche und Lehrer in dieselbe einführe.

Es ist klar, daß an der Erhebung und an den Siegen Preußens in den Jahren 1813 bis 1815 die Pestalozzische Schule noch wenig Anteil haben konnte, aber es war doch derselbe Sinn und Geist, der in ihr waltete und der im Felde draußen die Schlachten schlug, der Geist eines sich seiner Kraft bewußt gewordenen und sie zur Selbsthilfe anspannenden Volkes. Das zeigte sich auch daran, daß die Pestalozzischen Ideen damals nicht beschränkt blieben auf die Neugestaltung der Volksschule, sondern dem Schul- und Bildungswesen überhaupt zu gute kommen sollten; auch auf den Universitäten und in den Gymnasien galt es, Kraft zu wecken, Menschen zu bilden und Menschen zu begeistern und mit Geist zu erfüllen!

Dieses großen Zusamenhangs zwischen allen den verschiedenen Stufen und Stätten wahrer Menschenbildung war sich Pestalozzi selbst am deutlichsten bewußt. In einem berühmt gewordenen Gleichnis hat er sich darüber ausgesprochen und den Mangel an einem solchen Zusammenhang als ein Grundgebrechen seiner Zeit beklagt. Das ganze Erziehungswesen, sagt er, „kam mir wie ein großes Haus vor, dessen oberstes Stockwerk (d. h. die Universität) zwar in hoher vollendeter Kunst strahlt, aber nur von wenigen Menschen bewohnt ist; in dem mittleren (dem Gymnasium) wohnen dann schon mehrere, aber es mangelt ihnen an Treppen, auf denen sie auf eine menschliche Weise in das obere hinaufsteigen könnten, und wenn etwa einige Gelüste zeigen, in ihrem Notzustand etwas tierisch in dieses obere Stockwerk hinaufzuklettern, so schlägt man ihnen, wo man das sieht, ziemlich allgemein auf die Finger und hier und da wohl gar einen Arm oder ein Bein, das sie bei diesem Hinaufklettern anstrengten, entzwei: im dritten unten (der damaligen Volksschule) wohnt dann endlich eine zahlreiche Menschenherde, die für Sonnenschein und gesunde Luft vollends mit den obern das gleiche Recht hat: aber sie wird nicht nur in ekelhaftem Dunkel fensterloser Löcher sich selbst überlassen, sondern man macht ihnen durch Binden und Blendwerk die Augen sogar zum Hinausgucken in dieses obere Stockwerk untauglich“.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0028.jpg&oldid=- (Version vom 10.7.2023)