Seite:Die Gartenlaube (1895) 882.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

sicher, wenn auch nicht sehr rasch vor, man hoffte, daß das Brautpaar mit der Baronin Zielendorf Ende Januar abreisen könne. Später, wenn sie wiederkehrte, wenn Wochen auf Wochen, versöhnend wie die Zeit immer ist, dahingegangen sein würden, dann mochte Sibylle auch wieder dem Mann die Hand reichen können, durch den sie – ohne seinen Willen – gelitten hatte.

Als Magda dem Geliebten diese ihre Gründe andeutete, die sie bestimmten, abermals ihren Bund noch geheimzuhalten, hatte René ihr nur schweigend die Hand geküßt und sie mit einem tiefen, liebevollen Blick lange angesehen.

Daß trotzdem ihr bevorstehendes Verlöbnis öffentliches Geheimnis war, bemerkten sie gar nicht, befangen in jener gewissen Naivetät, die glückliche Menschen annehmen läßt, daß die Umgebung sich nicht um sie kümmere, weil sie sich nicht um die Umgebung kümmern. Hortense ließ ihnen die Unbefangenheit, fühlte sich als Brautmutter und brachte alle praktischen Fragen in Fluß.

Da waren also zunächst Renés Schulden. Nachdem Hortense und Magda ihm gut zugeredet hatten, fing er nach vielem Seufzen und Schelten an, zu rechnen. Er wandte eine ganze Abendstunde dran, unbezahlte Rechnungen aus all seinen Schreibtischfächern zusammen zu suchen. Dabei fand er eine ganze Menge kleiner Schuldscheine: hier hatte er einem Kollegen ein paar hundert Mark gepumpt, da einem Freund aus der Patsche geholfen, dort einem Theatermitglied in Krankheit und Not beigestanden.

Er war selbst ganz erstaunt. Die meisten Namen und Summen hatte er ganz vergessen gehabt – und sah nun mit einem gewissen objektiven Interesse die alten und neuen Geschichten durch. Er kam mit vergnügter Resignation zu dem Schluß, daß die sämtlichen Schuldscheine keinen Heller Wert hätten – denn wie hätte er mahnen oder drängen können? – verbrannte den ganzen Kram und nahm sich vor, fortan allen Anpumpereien etwas mehr Festigkeit entgegenzusetzen und jeden Fall mit Magda vorher zu besprechen.

Die Aufstellung seiner Schulden bereitete ihm eine freudige Ueberraschung. Voll kindlichen Stolzes erzählte er den beiden Damen, daß es nur ein paar tausend Mark seien.

Hortense bestand darauf, sie bezahlen zu dürfen.

„Nein, nein,“ sagte René lachend, „ich muß einmal merken, wie das schmeckt. Ich habe für meinen ‚Filippo Lippi‘ die erste Honorarzahlung allernächstens vom Verleger zu empfangen. Anstatt nun für unsere künftige Häuslichkeit etwas kunstvoll Schönes zu kaufen, fang’ ich gleich an, Schulden zu bezahlen. Geht der ‚Filippo‘ nur einigermaßen, so ist die ganze Sache bald erledigt.“

Und schon wenige Tage nachher zog er eine Menge zerknüllter Quittungen aus der Tasche, zeigte sie fröhlich Magda und ernannte sie für alle zukünftigen Zeiten zu seinem Finanzminister.

Hortense konnte es aber nicht ertragen, gar nicht als handelnde Person bei der ganzen Sache aufzutreten. Sie beschloß darum ihrerseits, die Frage, was mit der alten Ercellenz geschehen solle, zu lösen. René hatte neuerdings gesagt, der alte Mann störe ihn gar nicht, aber selbst Magda fürchtete, daß dies nur in der jetzigen so überreichen Stimmung von Lebensfröhlichkeit der Fall sei. „Ich will ihn zu mir nehmen,“ sagte Hortense, „er kann in meinem Hause zwei Zimmer haben und dort mit seinem Wärter leben, solange es Gott gefällt. Bitte, liebe Magda – keine Rührung! Bitte, lieber René – keinen Dank! Es ist ja bloß ein Zugeständnis an Magdas Einbildungskraft. Im Grunde genommen ist es für den Kranken und damit für Dich und uns ja ganz gleich, ob er bei Euch, bei mir, oder im Hospital bei den Grauen Schwestern lebt; er hat es überall gleich gut. Aber Magda bildet sich ein, es wäre herzlos, es thäte ihr weh, den Vater im Hospital zu wissen. Und so soll sie denn ruhig glauben, es wäre schöner, rührender, inniger, wenn ihr Vater unter meinem, statt unter einem fremden Dach weiter lebt.“

Trotz dieser kühlen Betrachtung dankten die beiden ihr aber doch aus innerstem Herzen. Sie wußten ja, daß all’ die nüchterne Weltweisheit nur angenommene Farbe war, mit der Hortense ihre schmerzlichen Erfahrungen übermalte.

Ein großer innerer Zwiespalt entstand Magda noch aus dem Testament Nicolais. Es erwies sich, daß dieser ihr sein kleines Vermögen hinterlassen hatte. Das Testament war vom Anfang des Oktobers datiert. Nicolai hatte also den Entschluß gefaßt, Magda seine Habe zu vererben, nachdem er von ihrer Liebe zu René Flemming erfahren. Sie hätte diese Erbschaft lieber nicht empfangen. Und hier mußte ihr die kluge Menschenkennerin Hortense wieder den Schlüssel geben zu Nicolais That.

„Siehst Du, es ist eine Art von Egoismus. Er, der Dich liebte, wollte auch nach seinem Tod in Deiner Erinnerung sein, gleichsam teilhaben an Deinem Heim; er wollte Dich nicht ganz und gar René überlassen. Wenn das Geld von ihm Dir hier und da gestattet, Dir einen Wunsch zu erfüllen, wollte Nicolai sich sagen: es muß, es wird ihr sein, als hätte ich ihn ihr erfüllt. Er gönnte es Deinem Manne nicht, daß Du alles, alles von ihm habest. Er wollte auch dazu beitragen, es Dir bequem zu machen. Sein Vermächtnis zurückweisen, hieße das Andenken dieser feinen, keuschen Seele kränken. Es mag Dich auch trösten, daß Du es niemand entziehst, denn er hatte keine Familie mehr. Und es mag Dich auch beruhigen, daß es nicht das Vermächtnis eines Krösus ist, sondern daß wir noch gerührt, ja voll Ehrfurcht staunen können, wie der Mann mit den Zinsen dieses kleinen Kapitals zu leben verstand. Wenn Du ganz in Nicolais Seele handeln willst, richtest Du Dir Euer Heim damit vollständig ein.“

„Dazu wird die Hälfte genügen,“ sagte Magda, „und wenn es René recht ist, lassen wir für die andere Hälfte ein schönes Denkmal auf Nicolais Grab setzen, einen Todesengel oder dergleichen, in seinem Stil. Sonst hab’ ich keine Ruhe.“

„Wieder eine schöne Einbildung,“ bemerkte Hortense, aber wie ich René kenne, wird er freudig einverstanden sein.“

Mitte Januar reiste die Baronesse Zielendorf mit Sibylle und Walfried, begleitet von einer Zofe und einem Diener, ab. Sibylle fand sich sehr freudig gehoben durch diesen „Train“ und die ganze teure vielbeneidete Reise. Ihre kindliche Eitelkeit fand soviel Befriedigung in der Situation, daß sie ganz versöhnlich gegen René Flemming gestimmt ward, ohne dessen „schreckliche Unthaten“ doch schließlich auch diese großartige Reise nach Italien nicht zustande gekommen wäre.

Magda ging mit viel Selbstüberwindung zum Bahnhofe, denn ihr Herz bebte davor zurück, dem Manne zu begegnen, der sich zum Richter über René aufgeworfen und ihn so leiden gemacht hatte. Sie sah oft in Walfried nicht den Verwundeten, der ihr Mitleid verdiente, sondern den Mann, der durch seine Herausforderung René beinahe mit der Vernichtung eines Menschenlebens belastet hatte.

Am Bahnhof war es voll von Abschiednehmenden. Sibylle stand zwischen all’ den Freundinnen und den Kameraden Walfrieds und nahm Blumen entgegen und kam sich vor wie eine reisende Hoheit.

Der Zug, der an Leopoldsburg, mit acht Minuten Aufenthalt, seinen Weg vorbei zum Süden nahm, fuhr gerade in die Halle. Dampf fuhr weiß und zischend aus dem eisernen Körper der Lokomotive und aus den unter dem Zug entlang laufenden Heizungsröhren. Ein furchtbarer Lärm erfüllte die Halle.

Tante Zielendorf redete übermäßig besorgt in Wallwitz hinein, der ein wenig bleich, aber sonst gut anzusehen, in der Coupéecke saß. Magda trat heran. Herr von Wallwitz wußte so gut wie jedermann in Leopoldsburg, wessen Braut Magda Ruhland war. Aber sein Gesicht behielt den freundlich ernsten Ausdruck, der ihm immer eigen war. Er gab Magda die Hand und dankte ihr für die treue Liebe, welche sie seiner kleinen Sibylle bewiesen habe.

Sibylle aber, in der namenlosen Aufregung, in welcher sie sich befand, mochte sekundenlang vergessen haben, was Walfried und sie von René trennte, oder es war eine ihrer „großen“ Aufwallungen – genug, sie sagte laut und freundlich:

„Grüß auch René Flemming noch vielmals von uns.“

Es blieb unentschieden, ob sie es mit oder ohne Bedacht gethan. Magda sah nur ein Zucken über Walfrieds Gesicht gehen, ward fortgedrängt und stand nun inmitten aller anderen Abschiednehmenden, während Sibylle einstieg.

„Adieu – adieu!“ rief es vielstimmig hinter dem Zuge her und noch eine Weile sah man neben der Wagenschlange, die schnell und schneller fortglitt, Sibyllens weißes Tüchlein wehen.

Magda ging glücklich nach Hause. Ihr war, als habe ein Lebensabschnitt einen lösenden Abschluß gefunden und als dürfe sie nun ganz frei an ihr eigenes Glück denken.

In acht Tagen war die Erstaufführung des „Filippo Lippi“. Am Abend nach der Vorstellung gab Herr von Rechenbach ein Fest und dort endlich sollte alle Welt es hören, daß sie Renés Braut sei und Ostern schon sein Weib werden dürfe.

In den letzten Tagen vor der Aufführung ließ René sich nicht sehen. Und ganz allmählich wurde Magda von einem

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 882. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_882.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2023)