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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Sie hatte dieses kleine Fest mit besonderer Verschmitztheit ausgedacht und angeordnet. Nur Klara dazu einzuladen, wäre doch in diesem zarten Fall nicht angegangen – man durfte es auch nicht zu durchsichtig machen! Also war Klara mitsamt der Mama Steuerrätin – oder um den schuldigen Respekt nicht zu verletzen, die Mama Steuerrätin mitsamt Klara befohlen worden, und damit doch noch ein junges Mädchen dabei wäre, hatte die Frau Verwaltern Anna Braun dazu gebeten. Die störte nie, sondern erschien und verschwand wie ein kleiner stiller Hausgeist, wenn man sie haben wollte und nicht haben wollte!

Ach, die gute Verwalterin, sonst so bewandert und scharfsinnig in Herzenssachen, ahnte nicht, was sie mit dieser Einladung anrichtete. Sie sah nicht, wie Annchen Braun, die sonst nie Eitle, wohl eine Stunde lang vor dem Spiegel stand und ihre dicken braunen Zöpfe – ihre einzige, wirkliche Schönheit – flocht umd hochsteckte uud wieder tief steckte und mit zitternden Händen in ihrem schmalen Kofferchen suchte nach irgend etwas, was sie putzen und schmücken könnte. Schließlich hatte sie mit einem kleinen Seufzer vor sich hin gesagt: „Es ist ja doch alles einerlei!“ und sich damit begnügt, ihr sorgfältig gehütetes Einsegnungskleid anzuziehen und sich ein paar blasse Astern vorzustecken – auch das kam ihr schon beinahe gewagt vor. –

Der Abend verlief bisher ganz programmmäßig – für den eingeweihten Beobachter sehr belustigend und komisch.

Die Frau Steuerrätin, sich der Wichagkeit der ganzen Sache wohl bewußt, trat in malvenfarbiger Seide an, mit einer Brosche von der Größe einer mäßigen Bratenschüssel und einer Miene, als wenn sie soeben von Reichs- und Staatswegen schon zur Schwiegermutter ernannt worden wäre.

Klara, in rosa Barege, die Haare nach damaliger Mode in ein rosa Netz mit rosa Seidenrüsche gefangen, marschierte in zitternder Erwartung hinter ihr her, und beide machten, als Karl Thiessen eintrat – auch sehr fein, in dunkelblauem Leibrock und weißer Kravatte – die verlegen unbefangensten Gesichter, die man sich nur denken kann.

Karl Thiessen war wirklich unbefangen. Ihm waren in den letzten vierzehn Tagen so viel junge Mädchen von der Tante Verwalterin vorgestellt worden, unter allerlei wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Vorwänden, daß es ihm auf eine mehr oder weniger nicht weiter ankommen konnte, und da er der ganzen Sache naturgemäß nicht als poetischer Liebhaber, sondern als Mann, der eine Frau sucht, gegenüber stand, so verbeugte er sich denn mit dem harmlosesten und vergnügtesten Gesicht von der Welt vor der netten Klara, ja, er dachte sogar flüchtig bei sich: „Das wäre am Ende etwas!“ – eine Seelenregung, die der Tante Verwalterin nicht entging, da sie es sich zur Aufgabe gestellt hatte, sein Mienenspiel bei dergleichen Anlässen scharf zu beobachten und ihre Schlüsse zu ziehen. Daß im Hintergrunde des Zimmers noch Anna Braun stand, die sich die erdenklichste Mühe gab, nicht rot und nicht weiß zu werden, das merkte Karl erst etwas später und schüttelte ihr kräftig die Hand mit einem „Guten Abend, Annchen!“ wie es sich so für Jugendbekannte uud Gespielen aus alter Zeit gehörte. Dann setzte er sich zu Klara und fing an, allerlei lustige Geschichten und Schnurren von seiner chinesischen Heimat und deren Bewohnern zu erzählen, so daß die Zuhörer gar nicht aus dem Lachen kamen.

Die Sache ließ sich gut an!

Die Frau Verwalterin fühlte einen dumpfen Schmerz bei dem Gedanken, daß sie jetzt durch den Ruf: „Nun bitte, zu Tisch!“ das erblühende Glück stören mußte. Sie kämpfte ordentlich mit sich. – Aber noch fünf Minuten, dann mußte die Kalbskeule aller menschlichen Berechnung nach zu sehr „durch“ sein – und das konnte die gute Frau unter keinen, auch den dringlichsten Verhältnissen nicht auf sich sitzen lassen.

Ehe noch dieser innerliche Kampf zwischen Liebe und Pflicht seine Entscheidung gefunden hatte, ging draußen die Hausklingel ganz zierlich und schnell – man hörte ein silberhelles Kichern und Lachen – und mit den Worten: „Liebe Frau Verwalterin, wollen Sie einen ungebetenen Gast noch aufnehmen?“ öffnete sich die Zimmerthür, und im weißen Mullkleidchen einen Strauß brennend roter Kresse vorgesteckt, flog Steuerrats Bincheu herein in die Gesellschaft – und nun war die Bescherung fertig!

Auf die Gefahr hin, meine Frau Verwalterin in den Ruf einer ungastlichen Person zu bringen, den sie wahrhaftig nicht verdient – von der Größe der vorerwähnten Kalbskeule ganz abgesehen, die noch zehn ungebetene Gäste hätte satt machen können – auf diese Gefahr hin also muß ich sagen, daß sie kein sehr freundliches Gesicht machte, als das reizende Mädchen so hereingeschneit kam.

Die hatte sie ihrem Karl eigentlich gar nicht zeigen wollen; denn daß sie ihm gefallen würde, wie die Männer nun einmal sind, denen das bißche Rot und Weiß, ein zierliches Stumpfnäschen und ein Paar großer Augen den Kopf verdrehen – das konnte man sich ja an den zehn Fingern abklavieren!

Und sie sollte ihm nicht gefallen!

Steuerrats Binchen, die nichts weniger war als ein Bienchen an Fleiß, die nur surren und von einer Blume zur andern fliegen und je nachdem auch ein bißchen stechen konnte – die wollte sie nicht für ihren Karl! Und nun mußte sie es erleben, daß dieser selbe Karl, sobald es sich mit irgend welchem Anstand thun ließ, seinen Platz verließ und sich neben die kleine Schönheit setzte – daß er ihr alle die komischen Geschichten von China weiter erzählte, daß er nach den ersten zwanzig Minuten kaum mißzuverstehende Anspielungen darauf machte, wie gut es eine deutsche Frau – und ganz besonders seine Frau dort haben würde – kurz, daß er sich sterblich in das Binchen verliebte, und daß dieses that, als merkte es seine Eroberung und seinen Triumph gar nicht, aber dabei ganz im stillen ein paarmal einen Blick nach Mutter und Schwester warf, der ziemlich deutlich sagte und sagen sollte: „Seht Ihr wohl?“

Die gutmütige Klara, schon daran gewöhnt, daß ihr das schöne Nesthäkchen die besten Bissen vor dem Munde wegschnappte, sah still uud ein bißchen säuerlich auf ihren Teller nieder. Die Frau Steuerrätin, mit dem nicht unberechtigten Gefühl: „Na, es bleibt ja in der Familie!“ ließ der Sache ihren Lauf, und die Verwalterin nötigte mit rotem Kopf zum Essen und zum Trinken. – Und Annchen Braun? Ach, das arme Kind leerte an diesem heutigen Abend den Kelch der Bitterkeit bis zum letzten, bittersten Tropfen, wenn sie Karls strahlendes Gesicht sah uud seine lustige Stimme hörte – und noch mehr, wenn sie Steuerrats Binchen in ihrer ganzen morgenfrischen Lieblichkeit durch die gesenkten Wimpern hindurch beobachtete und dann immer leise zu sich selbst sagte: „Ja – die freilich!“

Der Abend wollte gar kein Ende nehmen! Als man vom Tisch aufgestanden war, lustwandelte die Jugend noch in dem Garten, und die beiden alten Damen saßen bis in die tiefe Nacht hinein als Opfer der Verhältnisse nebeneinander auf dem Sofa, gähnten erst verstohlen und nach und nach sehr offenherzig und strickten wie ums liebe Brot. Die Frau Verwalterin, die beim Anfang des Festes erst „beim Abnehmen“ gewesen war, konstatierte dann später bei sich – als einziges befriedigendes Resultat der Festlichkeit: „Wenigstens habe ich dreiviertel von meinem Strumpf fertig gestrickt.“

Draußen im Garten promenierten inzwischen die beiden Paare, nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit gruppiert. Anna und Klara in anfallsweisen Gesprächen matten Inhalts voran – beide immer die Ohren gespitzt nach den zwei andern hin.

Karl und Binchen schritten zwischen den Rabatten des kleinen Gärtchens – immer um das Rasenrondell herum – „zum Schwindligwerden!“ bemerkte Klara ein bißchen giftig, was ihr, angesichts der Sachlage und ihres Standpunkts dazu, kein billig Denkender verargen wird.

Endlich hielt die Mama Steuerrätin die schweren Augen nicht mehr auf, sie holte sich ihre Lämmer von der Weide und ging, sehr befriedigten Mutterherzens, mit ihnen davon. Eine von ihnen würde es nun also doch sein, die den ausländischen Goldfisch davontrüge! Karl Thiessen begleitete die Damen natürlich ritterlich heim und pfiff auf dem Rückweg ganz sentimental vor sich hin: „Ach, wie ist’s möglich dann, daß ich dich lassen kann!“ daher der scharfsinnige Leser sich schon einen Rückschluß auf den inneren Zustand unseres Helden gestatten kann.

Anna Braun huschte ungeleitet und unbehelligt nach Hause und schrieb noch bis in die tiefe Nacht hinein, mit fliegender Feder und fliegendem Herzschlag, Annoncen für die verschiedensten Tagesblätter, in denen ein junges Mädchen Stellung zur Erziehung jüngerer Kinder suchte – aber sofort – dies dreimal unterstrichen.

„Denn hier bleibe kann ich nicht – ich kann nicht!“ sagte sie vor sich hin, als sie die Lampe auslöschte.

Nun, die Sache kam, wie sie kommen mußte! Wir wissen ja, daß Karl Thiessen, in Rücksicht auf sein Retourbillet, nicht viel Zeit hatte, sich seine Freierei zu überlegen – und so gingen denn nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 870. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_870.jpg&oldid=- (Version vom 13.8.2023)