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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

sehr günstig. Die folgende Nacht war unruhig gewesen, doch hatten sich keine Zeichen gefährlicher Zustände eingestellt.

Am dritten Tage fand Magda nicht den Mut, auszugehen. Sie saß daheim, zählte die Stunden, verging vor Aufregung und erwartete vergebens Sibylle.

Der Abend kam, keine Nachricht. Draußen wirbelte Schnee auf scharfen Windstößen wagerecht durch die Luft. Magda mochte nicht die alte Kathi ausschicken. Sie saß im dunklen Zimmer, sah an den Scheiben draußen den Schnee kleben und horchte auf den Wind. Die heulenden Töne machten ihr Furcht, sie klangen ihr wie Totenklage.

Kaum wagte sie, zu Bett zu gehen. Sie fing an, sich allerlei abergläubische Zeichen auszudenken: wenn der Sturm aufhöre, würde Walfried leben. Oder: wenn heute abend noch jemand käme, würde er sterben. Aber als spät noch die Frau Sekretär Böhmer herumkam, um sich von Kathi für morgen Wäscheklammern auszuborgen, sagte sich Magda: „wie kann ich nur so dummes Zeug denken!“ und als in der Nacht der Sturm nicht aufhörte, dachte sie: „wie unsinnig von mir!“

Dennoch erschrak sie am andern Morgen, als sie sah, daß ihre Uhr stand. Sie war auf halb Drei stehen geblieben. Das war ein Zeichen! Magda glaubte sich auch zu erinnern, daß ihr um halb Drei so sonderbar, so ganz schrecklich bang ums Herz gewesen.

„Ich habe einfach vergessen, die Uhr aufzuziehen,“ sagte ihr Verstand.

Aber sie ließ sie nun unaufgezogen liegen. Sie kleidete sich schnell an und erwog, ob sie nicht doch zu Sibylle gehen solle.

„Wenn sie mir dann begegnet – wenn ich das Schreckliche auf der Straße hören müßte – oder vor Zeugen – –“

Sie setzte sich ganz fassungslos in ihren Stuhl am Fenster.

O, wenn René annähernd so zu Mut war wie ihr – und mußte er nicht noch ärger leiden? – da brach diese Zeit gewiß auf immer seine Spannkraft!

Draußen klingelte es mit großer Heftigkeit. So ungestüm und andauernd drückte nur Sibylle auf den Knopf.

Magda erhob sich. Es rauschte in ihrem Kopf. So etwas wie die Vorstellung durchzuckte sie: wäre er tot, käme sie nicht. Dann gewann die Angst wieder Oberhand.

Richtig, es war Sibylle. Sie stürzte herein und Magda um den Hals. Sie drehte Magda mit sich herum und schrie in einem fort: „Er ist außer Gefahr – er ist außer Gefahr!“ Magda war ganz weiß im Gesicht. Ohne daß sie es fühlte, liefen ihr Thränen über die Wangen. Sie faltete die Hände.

„Gott sei Dank, tausendmal Dank!“ flüsterte sie leise.

Und dann lebhafter: Weiß er es schon?“

„Natürlich, der Doktor sagte es gestern abend zu ihm. Ich war dabei. Wie Walfried mich ansah – o, es war zu schön! So zärtlich! Ich glaube, er hat mich rasend lieb.“

„Nein, ich meine, ob – ob René es weiß,“ fragte Magda.

„Der wird es schon erfahren,“ meinte Sibylle, welcher dies ziemlich gleichgültig war. „Er kann sich gratulieren. Er hätte ja sein Leben lang wie so ein Rain ’rumlaufen müssen.“

„Sibylle!“ rief Magda schmerzlich. „Er muß doch furchtbar gelitten haben.“

„Das war seine gelindeste Strafe. Aber lassen wir doch den abscheulichen alten Flemming! Ich verzeih’ ihm und er geht mich nichts mehr an. Aber weißt Du was, Magda? Ach, ich muß Dir furchtbar viel erzählen – gestern war’n Krach bei uns – sonst wäre ich gleich noch gestern abend gekommen, denn Du mit Deiner rührenden Teilnahme warst doch die Nächste dazu. Aber süße, beste Magda, der Lohn bleibt nie aus – ich hab’ ’was Himmlisches für Dich in petto.“

„Ein Krach, bei Euch?“ fragte Magda, sich zur Teilnahme zwingend. Ihre heißen, glücklichen Gedanken waren bei ihm, bei ihm!

„Ja, denk Dir, Tante Zielendorf war so beleidigt, daß Großmama Wallwitz und Papa und Mama die Idee mit der Trauung am Krankenbett theatralisch genannt hatten. ‚Ich gebe das Geld zu dieser Heirat‘, sagte sie, ‚und da habe doch wohl auch ich ein Hauptwort dazu zu sprechen.‘ Nicht wahr, da hat sie ganz recht? Tante Sibylle ist überhaupt ein Engel. Und denk’ Dir, sie kennt ja Walfried bloß nach der Photographie, und in die hat sie sich total verliebt, er soll Tantens verflossenem Bräutigam ähnlich sehen. Papa und Mama finden es nicht. Das nahm Tante auch übel. Na, und weil ich nun immerzu heulte, daß ich nicht mit Walfried reisen kann – er soll für acht Wochen nach der Riviera, weil es doch immer ein Schuß durch die Lunge war – hat Tante sich ’was ausgedacht. Ich glaub, bloß halb aus Liebe zu mir, halb, um die Eltern zu ärgern.“

Magda träumte vor sich hin.

„Du hörst ja gar nicht zu!“ rief Sibylle empört.

„Doch, doch,“ versicherte Magda auffahrend.

„Also – nun fall aber nicht in Ohnmacht, Alte! – Tante Zielendorf wird auch an die Riviera gehen und mich und Dich mitnehmen!“

„Mich?“ fragte Magda.

„Ja, Tante sagte leise zu mir, Du seiest die einzige gefühlvolle Seele in ganz Leopoldsburg. Kein Mensch habe sich die Sache so zu Herzen genommen wie Du. Und da sie doch fürchtet, sich zu langweilen, als Dritte bei einem Liebespaar, sollst Du mit,“ erzählte Sibylle triumphierend.

„Und Deine Eltern?“

„Die wollten erst nicht. Da sagte Tante, daß sie sich dann für die Heirat nicht mehr interessieren und kein Geld geben werde, wenn sie keinen Willen haben solle. Für die pekuniären Opfer wolle sie doch auch fortan in Walfried und mir so etwas wie Familie haben. Na, und da schwiegen die Eltern.“

„Ich kann nicht mit,“ sagte Magda.

„O, Du darfst es gern annehmen, Tante Sibylle hat scheußlich viel Geld,“ beteuerte Sibylle.

„Ich kann meinen Vater nicht verlassen.“

„Aber bitte, liebe Magda – der weiß ja doch nichts von Dir,“ sagte Sibylle.

Magda stand auf.

„Ich kann nicht!“ sprach sie ganz bestimmt. „Vielleicht wirst Du es eines Tages verstehen.“

Sibylle sah sie ganz aufmerksam an und dachte nach. Plötzlich schien ihr ein Licht aufzugehen.

„Ich bin ja wohl mit Blindheit geschlagen gewesen?“ rief sie freudig aus – erfreut über ihre Findigkeit und rücksichtslos übersehend, ob sie auch an ein zartes Geheimnis rühre – „darum warst Du neulich so sonderbar zu Lilly und wolltest ihr nicht die Hand geben! Du hassest Lilly, weil Du selbst eine hoffnungslose Liebe zu Flemming hast! Mein armes, liebes Herz!“

Sie umarmte Magda mit naivem, beleidigendem Mitleid.

„Und da bist Du bange, Lilly noch oft treffen zu müssen, ehe wir reisen? – Nein, die rutscht ab. Weißt Du, die hat sich hier tot gelangweilt. Sie hatte so’ne große Korrespondenz die letzten Tage und hat es sich so eingefädelt, daß sie am Tage, wo Walfried außer Gefahr erklärt werde – eher ging es doch Schanden halber nicht – einer Einladung zur alten Ponsdorf, ihrer künftigen Schwiegermutter, folgt. Sie wird es da wohl zu drehen wissen, daß sie sich, anstatt nächsten Herbst, schon diesen Winter mit Ponsdorf verlobt. O, ich kann mich schon im voraus schwarz ärgern, wenn ich daran denke, wie Lilly mich mit ihrer Neunzackigen und ihrem Geld noch mal anöden wird. Und Mama sagt, die Ponsdorfs sollten man still sein; der selige Graf hat seiner Zeit mit Stroußberg ’was gegründet und dabei ist er reich geworden, und Mama sagt, alles Geld von daher hat ’was Brenzliges. Wir haben nicht viel, aber vornehm sind wir, wir Lenzows. Also, was ich sagen wollte: wegen Lilly kannst Du gern kommen – die Luft ist rein von morgen ab.“

Magda sah wohl ein, daß es vor dieser Beredsamkeit kein Entrinnen gab, außer durch die Wahrheit.

„Ich kann aber doch nicht mit Herrn von Wallwitz zusammen. kommen,“ sagte sie leise. „Ich war mit René Flemming heimlich verlobt, ehe – ehe – –“

Sibylle schrie beinahe auf.

„Also doch, also doch! Was mußt Du ausgestanden haben, Magda! Und hast das immer so in Dich ’reingeschluckt? O – das könnt’ ich nicht. Gott – wie mußt Du Lilly hassen – und ihn! Hör’ ’mal, das war doch schändlich von ihm. Nein, so ’was kann man nicht vergeben! Dieser Sch – –“

„Sibylle!“ rief Magda mit lauter empörter Stimme, „untersteh’ Dich, ein Wort auf ihn zu sagen! Gewiß, es war schrecklich – aber ich habe es verziehen. Wir sind versöhnt. Du bist zu jung, um einen Mann wie René zu richten.“

Die kleine Braut, die schon vor Eifersucht gezittert hatte, wenn Walfried früher mit einer anderen Dame nur tanzte, sah Magda fassungslos an.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 862. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_862.jpg&oldid=- (Version vom 10.4.2022)