Seite:Die Gartenlaube (1895) 860.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Es wäre so ein großer Liebesbeweis gewesen,“ sagte Sibylle und nahm eines der Enden ihrer Boa gegen Mund und Nase, denn sie fürchtete, laut weinen zu müssen.

„Walfried glaubt gewiß auch so an Deine Liebe,“ tröstete Magda.

„Ja, aber wenn er nun am Leben bleibt und noch ein paar Wochen auf Reisen muß, nach dem Süden, zur Erholung, da kann ich doch als seine Braut nicht mit,“ jammerte Sibylle.

Vor freudigem Schreck blieb Magda stehen. „Ist denn Hoffnung – ist wirklich Hoffnung?“ fragte sie.

„Doktor Friedrichs hat heut’ gesagt, noch drei Tage so weiter und alle Gefahr ist ausgeschlossen. Die Wunde heilt,“ berichtete Sibylle kläglich.

„Und das sagst Du in solchem Tone!“ rief Magda und wäre ihr um den Hals gefallen, wenn man sich nicht in den öffentlichen Anlagen befunden hätte.

„Wenn ich doch nicht mit ihm reisen kann!“ meinte sie in Thränen.

Vor diesem kindischen Egoismus war es Magda schwer, geduldig zu bleiben. Gerade wollte sie etwas herzlich Belehrendes sagen, als ihr das Wort auf den Lippen erstarb und ihr das Blut aus den Wangen wich.

Da kam zierlich, sehr modisch gekleidet und mit der gewollten Nachlässigkeit der Haltung, die sie immer annahm, wenn sie ihr mißliebigen Personen begegnete, Lilly von Wallwitz über die Brücke daher.

„Mein Gott, Lilly! – auf der Straße muß ich nun höflich sein,“ sagte Sibylle geärgert.

Magda ließ den Arm der Freundin fahren und faltete ihre Hände fest in dem Muff zusammen. Das Herz schlug ihr so sehr, daß die pulsenden Adern am Halse das Pelzwerk zittern machten. Und dabei zwang eine merkwürdige Neugier sie, der Ankommenden gerade und starr ins Gesicht zu sehen. Diese war es gewesen, um derentwillen sie so maßlos litt. Diese hatte er geküßt, dieser von Liebe gesprochen, um dieser willen sie zu verlassen, aufzugeben gedacht – –

Es war Magda, als müßte sie der andern ins Gesicht schreien:

„Ich weiß alles! Aber er verachtet Dich! Er hat Dich gar nicht geliebt – gar nicht! Mir gehört sein Herz.“

Lilly gab der Braut ihres Bruders die Fingerspitzen und wollte sie gnädig auch Magda reichen.

Da sah sie den starren, feindlichen Blick und sah, daß Magda ihre Hände mit einer kurzen, unwillkürlichen Bewegung tiefer in dem Muff verbarg.

Sie kniff die Augen halb zu, Kurzsichtigkeit heuchelnd, und sagte: „Nun, Sibylle, schon wieder mit einer roten Nasenspitze und verweinten Augen? Sie müssen ein Engel sein, Fräulein Ruhland,“ wandte sie sich an Magda, „um jetzt mit unserer lieben Sibylle auszukommen.“

Sie sah dabei dreist in Magdas Augen und dachte: was hat die Ruhland, was sieht sie mich so an, will sie mir nicht die Hand geben, oder ist es Zufall?

Magdas Lippen bewegten sich, sie wollte etwas antworten, irgend etwas Herbes, Verächtliches. Aber es war ihr unmöglich. Ihre Geistesgegenwart war dieser Lage nicht gewachsen. Sie konnte sich nicht beherrschen und nur immer die anstarren, die ihr von allen Menschen dieser Erde die einzig Hassenswerte schien.

„Sollte Sibylle geschwatzt haben?“ dachte Lilly beunruhigt. Sie glaubte, diese Art Mädchen wie Sibylle zu kennen: die haben ein Dutzend allerbeste Freundinnen und vertrauen einer jeden Geheimnisse unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit an!

„Mit mir kann man sehr gut auskommen,“ sagte Sibylle trotzig, „wenn ich auch nur aus Leopoldsburg bin und wenn ich auch nicht in einer Genfer Pension dummes Zeug gelernt habe.“

Lilly zuckte die Achseln. Sie stritt sich nicht, das wäre kindisch gewesen. Aber sie ärgerte sich doch, daß Sibylle in Gegenwart der anderen diesen Ton anschlug.

„Fräulein Ruhland wird einen schönen Begriff von Deiner Erziehung bekommen, wenn sie hört, was für einen Ton Du gegen die Schwester Deines Verlobten annimmst,“ sprach sie.

„Magda weiß genau, daß ich gut erzogen bin,“ sagte sie.

„Wenn ich ihr doch sagen könnte, daß ich alles weiß,“ dachte Magda während dieses Wortgefechtes zwischen den künftigen Schwägerinnen, „wenn ich doch könnte!“

Aber sie begriff, daß sie zu schweigen hatte. René hatte ihr den Namen Lillys nicht genannt, René hatte vor ihr geleugnet, sich duelliert zu haben. Was sie wußte, wußte sie durch ihr ahnungsvolles Herz und die unverkennbaren Thatsachen. Sprechen hätte geheißen, ihn in den Verdacht der Unritterlichkeit bringen. Schweigen hieß, auf die Genugthuung verzichten, die Gehaßte klein und bang zu sehen. Magda wäre kein Weib gewesen, wenn sie nicht danach gelechzt hätte, Lilly, die eine kurze Zeit ihr die Liebe des Einen geraubt, demütigen zu dürfen. Aber sie bezwang die Aufwallung. Sie dachte, um sich vor der Versuchung zu retten: er würde mir nicht verzeihen, wenn ich etwas Kleines thäte.

„Nun, ich will das süße Zusammensein mit Dir und Deiner schweigsamen Freundin nicht mehr stören,“ sagte Lilly spöttisch. „Adieu!“

Sie hielt Sibylle die Hand hin, als habe ein liebevollstes Gespräch sie hier fünf Minuten zusammen festgehalten. Sie that es, um sie dann Magda hinreichen zu können.

Und im voraus schon faßte sie Magda ins Auge mit herausforderndem Blick.

Aber Magda wich zurück, ihre Hände sanken ihr am Leibe nieder.

„Nein,“ sagte sie klanglos, „nein!“

Dann bückte sie sich hastig und verlegen und hob den Muff auf, der ihr entfallen war. Sie ging mit schnellsten Schritten davon, ehe noch die erstaunte Sibylle eine Frage thun konnte.

Mochte diese Lilly denken, was sie wollte, mochte sie in ihr eine Wissende erraten, es war Magda alles einerlei. Nicht um die Welt hätte sie diese Hand berühren mögen, die sich einmal nach ihrem heiligsten Eigentum ausgestreckt.

Die nächsten Stunden fanden sie völlig fassungslos. Nachträgliche Eifersucht brannte ihr schmerzhaft in der Brust. Sie stellte sich immer vor, wie sein Arm sich um jene Schultern gelegt, seine Hand jenes kastanienfarbene Haar gestreichelt habe.

Es war unerträglich. „Nein,“ sagte sie sich, „ich kann es doch nicht vergessen und vergeben! Es war doch mehr als ein Spiel, es war so folgenschwer, daß sein Leben dadurch einen Riß bekam. Seine Fröhlichkeit ist gebrochen, sein Werk verloren. Und alles um diese! Nur so lange will ich in meinen Gedanken bei ihm sein und mit ihm sein, bis sich das Eine entschieden hat – bis wir wissen, ob Wallwitz leben kann.“

Drei Tage noch der Ungewißheit! Dem bangenden Warten war eine Grenze gesteckt. Aber wie die letzten Wegesstrecken immer die mühseligsten sind, so wurden auch diese drei Tage zu endlosen Zeitspannen.

Wenn auf der Treppe ein Schritt erklang, bebte Magda. Es konnte ein Bote von Sibylle sein, der Walfrieds Tod anzeigte. Wenn sie Sibylle traf, zitterten ihr die Kniee und ihr Herz schlug, bis das erste Wort über sein Befinden gesagt war. Nachts lag sie schlaflos und dachte, ob wohl der Verwundete schlafe.

Keine Seele, vielleicht nicht einmal die Sibyllens, konnte so für dies gefährdete Leben zittern wie die ihre. Kein heißeres Flehen um seine Erhaltung ward gen Himmel gesandt.

Ob René wohl wußte, daß die Entscheidung nahe bevorstand, ob er wohl, gleich ihr, die Tage in fiebrischer Spannung thatenlos verbrachte?

Sie dachte sich ganz hinein in seinen Gemütszustand und glaubte, alles zu verstehen und zu wissen, was in seinem Innern vorgehe.

Auch hatte sie sich allmählich, sich zum Trost und zur Erklärung seines völligen Schweigens, seine Zurückhaltung so ausgelegt: er gestand sich nicht das Recht auf Glück zu, so lange Walfrieds Leben in Gefahr schwebte.

„Wenn ich es doch sein dürfte, die ihm sagte, Walfried ist gerettet! Wie er aufatmen würde, welch eine Erlösung das sein würde –“

Daß sie diesen Augenblick, wenn er kam, nicht mit ihm er leben sollte, ward ihr eine bittere Entsagung.

Diese Minuten noch mit ihm durchkosten, dachte sie, und dann scheiden!

Daß man von einem Manne nicht mehr freiwillig scheiden kann, der einen mit solcher Ausschließlichkeit beschäftigt, dachte sie nicht, das ward ihr nicht klar.

Wie das Licht und die Luft um sie Bedingungen ihres Lebens waren, deren Unerläßlichkeit sie sich nicht bei jedem Blick und nicht bei jedem Atemzug bewußt ward, ebenso wenig ward sie sich bewußt, daß der Untergrund und die Begleitung ihrer wechselnden Tagesgedanken der eine, ewige Gedanke an ihn war.

Den ersten Tag, nachdem das verheißungsvolle Wort von der möglichen Genesung gefallen war, lauteten die Nachrichten

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 860. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_860.jpg&oldid=- (Version vom 10.4.2022)