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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Vielleicht stand das Bekenntnis darin, daß er sie nicht geliebt habe. Mochte Magda dann auf einmal den ganzen fürchterlichen Schlag ertragen.

Vielleicht stand darin, daß er seine Untreue beklage und sie allein nur geliebt habe – so oder so, die Zweifel mußten ein Ende haben, wenn sie Magda nicht zerrütten sollten.

Und mochte René nachher zürnen, Hortense mußte so handeln.

„Hier,“ sagte sie, „ein Schreiben von ihm an Dich.“

„Und das giebst Du mir jetzt erst?“ rief Magda und riß ihr den Brief aus der Hand. Sie zerrte den Umschlag in Stücken von den Briefblättern.

Diese waren zufällig so gefaltet, daß die erste, eng beschriebene Seite nach außen umgebogen lag.

Magda nahm die Blätter so, wie sie ihr entgegensprangen.

Sie las: „Geliebte Thörichte! Dir entsagen, das wäre ja, als sollte ich nicht mehr dirigieren oder komponieren …“

Sie las und las und in ihrem Gesicht ging heller Sonnenschein auf.

So übermütig, siegessicher, so voll liebender, herrischer Freude schreibt kein Mann, der zum Zweikampf geht.

Sie las die holden Worte am Ende der sechsten Seite und sah daneben die leere siebente.

Strahlend schaute sie zu Hortense auf.

Diese aber, vor Magda stehend, hatte längst die quer geschriebenen Zeilen auf der letzten Seite bemerkt.

„Da hinten steht noch etwas,“ sagte sie.

Magda wandte das Blatt um.

„Magda, ich liebe Dich! Meine Seele ist Dir nicht untreu gewesen. Du darfst Dich ihr vermählt fühlen, als wärest Du mein Weib geworden. Lebe wohl und sei mein starkes Weib.

Dein René.“ 

Sie schrie auf. Hortensen ging der Ton durch und durch.

„Es ist wahr!“ stammelte Magda und fiel Hortensen in die Arme.

Diese glaubte eine Ohnmächtige zu halten und versuchte die Verzweifelte dem nächsten Sitz zuzuführen.

Aber da fuhr Magda schon wieder auf, und die Hände faltend, rief sie: „Komm zu ihm! Zu ihm! Laß mich sehen, ob er da ist, ob er lebt!“

„Mein Kind …“

„Kein Nein. Um Gotteswillen, kein Nein! Sonst geh’ ich selbst – allein – ich muß – ich will!“

Sie war wie rasend.

Hortense besann sich nicht mehr. Trieb doch ihr eigenes Herz sie zu irgend einer That. Konnte sie selbst es doch nicht ertragen, hier zu sitzen und zu warten, bis ein Zufall ihnen Klarheit brächte.

„Wir gehen!“ sagte sie entschlossen.

Mit ihrer gewohnten, festen, stolzen Haltung ging sie durch den Raum. Sie klingelte.

„Der Wagen?“ fragte sie den eintretenden Diener.

„Ist vorgefahren.“

„Komm,“ sagte sie kurz. Magda, plötzlich gefaßter und von Hortensens Art beeinflußt, folgte ihr.

Hortense ließ sich im Flur ihren Pelz umhängen.

„Zu Herrn Hofkapellmeister Flemming,“ befahl sie dem Kutscher mit dem gewöhnlichen freundlichen Gesicht, das sie ihren Leuten zeigte.

Im Wagen faßte sie kräftig nach Magdas Hand.

„Haltung, mein Kind!“ sagte sie, „Haltung!“

Magda küßte ihr in heißer Dankbarkeit die Hand.

Der Wagen brauchte keine zehn Minuten, um in die Ringstraße vor René Flemmings Wohnung zu kommen. Hortense sah unterwegs einmal nach der Uhr, die sich in die Rückwand ihres Coupés eingelassen befand. Es war bald halb Zehn.

Vor Flemmings Haus stieg sie mit der größten Gemächlichkeit aus, stand noch auf dem Trottoir und sprach zu ihrem Kutscher hinauf, dem sie befahl, langsam die Ringstraße auf und ab zu fahren. Sie bemerkte drüben am Fenster Fräulein von Deggenburg im türkischen Morgenrock und grüßte verbindlich lächelnd hinauf. Dann legte sie ihren Arm in den Magdas und schritt langsam durch den kleinen Vorgarten dem Eingang zu.

Sie wußte, daß Fräulein von Deggenburg sich nun den Kopf zermartere, was sie, Frau Hortense von Eschen, schon morgens halb zehn Uhr mit einer anderen Dame – Magda hatte sich nicht umgewandt und konnte nicht erkannt sein – in jenem Haus zu thun habe. Und dieser kleine boshafte Gedanke wirkte beinahe zerstreuend. Hortense klingelte an der Thür und die öffnende Alte erstarb vor Demut und Erstaunen. Sie huschte wie eine aufgescheuchte Eule im Korridor hin und her und wußte nicht, welche Thür sie den Damen öffnen sollte.

„Ist Herr Flemming schon von der Jagd zurück?“ fragte Hortenie gleichmütig. „Nein? Gut, so warten wir ein wenig.“

„Im Salon ist noch nicht Staub gewischt,“ klagte die Alte.

„So gehen wir ins Musikzimmer.“

Die Thür ward aufgerissen und die Alte hatte noch ein Dutzend Entschuldigungen über die herrschende Unordnung, aber der Herr Hofkapellmeister erlaube eben nie, daß sie zwischen den Noten und Papieren krame.

Magda stand auf der Schwelle und traute sich nicht näher. Ihr Herz klopfte und ihre Augen strahlten. In diesen Minuten hatte sie vergessen, was sie ängstigte – sie war bei ihm, in seinem Heim – sie schien ihm näher und der ungestörte Friede, der hier herrschte, ließ es als undenkbar erscheinen, daß sich etwas Gräßliches zugetragen haben sollte.

Die Morgensonne schien in die Fenster. Auf dem Schreibtisch lag es voll von Papieren, noch stand der Stuhl davor ein wenig schräg gerückt, als sei René eben erst von ihm aufgestanden. Hinter dem Flügel erhob sich eine schöne Fächerpalme. Unter ihr stand auf einer Säule die Büste des Herzogs. An der Wand hingen Bilder von Beethoven und Wagner und einige wertvolle Radierungen. Es war so traulich, so wohnlich und es kam Magda vor, als habe sie hier selbst schon seit langem Heimatsrecht.

Hortense hatte sich auf der Ottomane niedergelassen, die zwischen Schreibtisch und Flügel mitten im Zimmer stand. Daneben befand sich ein Tischchen mit allerlei Rauchgeräten.

„Siehst Du,“ sagte sie, „hier mag er oft genug liegen, seine zahllosen Cigaretten rauchen und nachdenken.“

Magda kauerte sich neben ihr nieder. „Mir ist viel besser geworden, seit ich hier bin,“ versicherte sie. „Ich denke daran, wie er mir an unserem Verlobungstage sagte, daß er an seinen glücklichen Stern glaube. Gewiß, er kehrt lebend heim, mir ist, als sage es eine innere Stimme. Vergieb mir meine Aufregung von vorhin.“

„Kind – das Auf und Nieder ist beinahe Dein Recht! Gebe Gott, daß Du recht behältst. Aber gebe Gott auch, daß der andere gleichfalls lebend wiederkehrt.“

„Du fürchtest …?“

„Ich denke so: eine Verwundung Renés wäre noch nicht der schlimmste Ausgang.“

Magda erblaßte. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Auf einmal klang ihr Sibyllens jämmerliche Stimme in den Ohren: „er soll ihn mir nicht totschießen!“

„O,“ murmelte sie und faltete die Hände; draußen fuhr ein Wagen vor. Man sah durch die Fenster des Hochparterres das schwarzlederne Droschkendach.

Mit einem Schlag war Magdas Mut verflogen, mit einem bangen Laut versteckte sie ihr Gesicht in Hortensens Kleiderfalten. Auch diese wagte nicht, sich zu rühren.

Die Sekunden wurden zu bleiern schleichender Zeitdauer.

Draußen schrillte die Glocke.

Dann Schritte – der Ton einer Männerstimme – seiner Stimme und dann ging die Thür auf.

Magda fuhr taumelnd empor. Sie sah ihn. Da stand er, leichenblaß, hoch, und sah die Frauen mit erschreckten Augen an.

Sie flog auf ihn zu, ihre Arme umschlangen ihn. Kein Laut kam von ihren Lippen, in stummer Seligkeit umklammerte sie ihn, fest, fest.

Und er schlang seine Arme um sie und hielt ihr Haupt an seiner Brust. Seine Augen schlossen sich. So standen sie lange.

Und Magda hörte sein Herz klopfen, dumpf und schnell, und sie fühlte, daß ein Zittern durch seine Gestalt ging.

Sie drängte ihr Gesicht enger an ihn, sie wollte nicht aufsehen, nichts in seinen Augen lesen, nichts wissen, nichts fragen, nur die Wonne fühlen, daß er da sei, daß er lebe.

Er aber fühlte nur das eine: das kalte Entsetzen, das über ihn gekommen, als er den anderen fallen sah. – –

Wie ein kurzer Jubel war es durch seine Seele gezuckt, die erste, fraglose Empfindung eines Menschen, der den Tod nahe sah und sich gerettet fühlt. Dann war die warme Welle der Lebensfreudigkeit zurückgewichen und hatte dem Entsetzen Platz gemacht. –

Und wie er Magda in seinen Armen hielt, sah er das Bild vor sich: auf dem braunen Erdboden die Gestalt des Getroffenen,

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