Seite:Die Gartenlaube (1895) 839.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

hatten, daß er noch nicht tot war, so durfte er sie probieren. Jürgen und ich sagten ihm auch unsere Weihnachtslieder auf. Der Uebung halber und auch deswegen, weil sie uns immer im Kopf herumspukten, und wir waren eigentlich etwas beleidigt, daß Jobst uns gar nicht lobte. Er saß ganz still und hatte beide Hände vor sein Gesicht gelegt. So still war er, daß, als wir nacheinander das „Amen“ von unsern Verslein gesprochen hatten, es uns etwas unheimlich zu werden anfing. Aber da kam Dörthe ins Stübchen gestürzt und ihre Ueberraschung, uns zu sehen, war so groß und das Vergnügen über die Kuchen noch so viel größer, daß wir ungemein heiter wurden und ganz vergaßen, daß wir mit Jobst Krieger eigentlich gar nicht sprechen durften.

Er selbst erinnerte uns daran. Er stand plötzlich auf und sagte, daß er uns nach Hause bringen wolle – unsere Eltern würden gewiß nicht wollen, daß wir so lange bei ihm blieben. Wir sahen die Richtigkeit dieser Worte ein, und als wir neben ihm auf der dunklen Straße gingen, stieß Jürgen plötzlich einen schweren Seufzer aus.

„Jobst, wie furchtbar schade ist es doch, daß Du ein so schlechter Mensch bist! Ich mag Dich gern leiden – viel lieber als einige Leute, die niemals im Gefängnis waren!“

„Ich auch!“ versicherte ich und Jobst stand still und legte ganz leise seine Hände auf unsere Haare.

„Mir ist’s auch leid genug,“ murmelte er; aber was er noch hinzusetzte, konnten wir nicht verstehen – seine Stimme war ganz heiser geworden. Dann war er plötzlich in der Dunkelheit verschwunden und wir mußten den Rest des Heimweges allein zurücklegen.

Das war nun nicht so schlimm; wir waren nicht ängstlich und hatten außerdem eine Fülle von Unterhaltungsstoff, der auch nicht ausging, als wir den Andern von Jobst Krieger und von dem Umstande, daß er noch lebe, berichteten. Wir wollten ihm alles mögliche zu Weihnacht schenken, alte Anzüge von Papa, die uns nicht gehörten, Eßwaren, über die wir gleichfalls keine Verfügung hatten, und vor allem einen Katechismus, damit er die zehn Gebote noch einmal durchlerne.

Aber es kam anders. Als wir am Tage vor Weihnachten Jobst Krieger und seine Tochter feierlich zu uns einladen wollten, erfuhren wir, daß beide in der Nacht vorher verschwunden waren. Sie hatten ihre armselige Habe zurückgelassen und die Insel verlassen. Sie kamen auch nicht wieder, obgleich wir das ganze Weihnachtsfest auf sie warteten, und niemand konnte uns sagen, wohin sie gegangen waren.

Dieses plötzliche Verschwinden betrübte uns außerordentlich, und wir trösteten uns nur allmählich mit dem Gedanken, daß uns jetzt kein Mensch verbieten konnte, an Jobst und Dörthe zu denken und von ihnen zu sprechen. Unser Weihnachtsabend war trotz alledem sehr schön und wir schenkten die für Jobst bestimmten Sachen anderen Leuten, die es auch nötig hatten.

Nur Meister Ahrens feierte kein fröhliches Weihnachtsfest. Erstens waren seine falschen Tannenbäume lange nicht so hübsch wie sonst, obgleich er Zweige bekommen hatte, und dann fiel es den Leuten ein, daß er doch vielleicht den Jobst oft zu hart bedrängt und ihn schon mehrere Jahre hindurch veranlaßt hatte, in den Wald zu gehen und zu stehlen. Ob er nun wirklich Schuld daran hatte, war schwer zu sagen; jedenfalls ging er kümmerlich gebeugt einher und klagte über die schlechten Zeiten und die schlechten Menschen.

Mehrere Weihnachtsfeste waren vergangen. Meister Ahrens machte immer noch falsche, recht häßliche Tannenbäume und wir selbst sprachen noch manchmal von Jobst. Zuerst hatten wir uns ausgedacht, daß er wahrscheinlich nach Amerika gegangen sei und als reicher Mann zurückkehren würde. Dann trüge Dörthe seidene Kleider und er würde uns allen etwas Wundervolles zu Weihnachten schenken. Wir stritten uns auch darüber, ob wir lieber eine goldene Mundtasse oder einen goldenen Teller haben wollten; allmählich aber vergaßen wir doch, über Jobst zu sprechen, bis wir an einem Weihnachtsabend ein sonderbares Paket mit der Post bekamen.

Es trug Jürgens, Milos und meinen Namen und kam aus einem Orte, von dem die großen Leute sagten, daß er in Ost- oder Westpreußen läge. Dieses Paket enthielt ein sauber geschnitztes kleines Boot, das mit frischen Christrosen angefüllt und in köstliche Tannenzweige verpackt war. Dabei lag ein Zettel, auf dem mit ungeübter Hand die Worte geschrieben waren: „Und hat ein Blümlein bracht, mitten im kalten Winter.“ Da wußten wir, daß diese Sendung von Jobst Krieger kam, und wir freuten uns außerordentlich über sie. Besonders darüber, daß er von den Weihnachtsliedern, die wir ihm aufgesagt, etwas behalten hatte. Denn, wer auch nur ein wenig von seinen Weihnachtsliedern im Gedächtnis behält, der kann doch ganz gewiß kein ganz schlechter Mensch sein.

Meister Ahrens sagte dasselbe. Er hatte mit derselben Post eine Geldsumme bekommen, die, wie er fest glaubte, von Jobst Krieger kam, weil er ihm gerade so viel Geld schuldig gewesen war.

„Eigentlich hast Du das Geld nicht verdient!“ sagte Jürgen, der dem alten Tischler die Behandlung von Jobst nicht recht vergessen konnte.

Dieser fuhr sich über den kahlen Kopf und seufzte.

„Nee, eigentlich nich! Abersten, wenn ich nu die Hälfte an die Armens gebe und wenn es mich sowieso all die Jahrens leid gethan hat, daß ich nich nett gegen den Jobst war? Ich habe sonsten warraftigen Gott ein furchtbar gutes Herz – bloß bei die Tannenbäumens, da bin ich eigen mit gewesen, weil es so’n gutes Geschäft war!“

Ahrens richtete wirklich eine Weihnachtsbescherung für eine arme Familie aus, und seit der Zeit sprach er noch mehr als sonst von seinem guten Herzen. Sonderbarerweise waren es die Kinder dieser Familie, die nicht bei Dörthe Krieger in der Schule hatten sitzen wollen. Das war aber lange vergessen, und der von Ahrens verfertigte falsche Tannenbaum warf auch über sie seinen weihnachtlichen Schein und ihre Freude war echt.

Denn das Christkind in seiner Milde fragt nicht nach den Verdiensten und Schwachheiten der armen Erdenkinder. Sonst müßte es aufhören, alle Jahre wieder zu kommen.


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 839. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_839.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2024)