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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

selbst durch das Fernglas nichts von der „Anna Kathrin“ gesehen hatten, so niedergeschlagen, daß wir ganz vergaßen, ihnen unsere Unterhaltung zu berichten.

Aber am Abend sprachen wir doch noch von Jobst Krieger und meinten, es sei ganz überflüssig, uns auf Geschenke für ihn einzurichten. Milo aber fing dennoch einen Ring aus blauen Glasperlen an, der wirklich sehr schön wurde.

In der Nacht kam plötzlich ein furchtbares Wetter. Die Dezembersonne war trügerisch gewesen. Der Wind sprang um, Regen schlug an die Scheiben und die Dachpfannen prasselten auf die Straße. Am andern Morgen wurde es wieder ziemlich still, und die Brüder liefen gleich an den Hafen, um nach der „Anna Kathrin“ zu sehen, die dann auch wirklich einlief. Etwas beschädigt zwar, denn es war auf See ein Heidenwetter gewesen; aber die „Anna Kathrin“ konnte schon einen Puff vertragen.

Obgleich der Tannenbaum nun wirklich in Sicht war, so konnten wir uns nicht so recht über ihn freuen. Denn Schiffer Lafrenz von der „Anna Kathrin“ war einem umgeschlagenen Boote unweit vom Hafen begegnet, das er mit seinen scharfen Schifferaugen sofort erkannte. Es gehörte einem Mann, der Lorenz hieß und der gerade so übel berüchtigt war wie Jobst Krieger.

Am Hafen hatten die Leute gewußt, daß Jobst und Lorenz in diesem Boot am Sonntag eine Fahrt hatten machen wollen – einige Leute wollten sie auch zusammen gesehen haben. Nun hatte das Wetter sie auf offener See überrascht und sie waren ertrunken.

Es war eine traurige Geschichte, die gar nicht für die Weihnachtszeit paßte; aber wir mußten lange darüber sprechen. Es that uns so leid, daß Jobst doch gefahren war, und besonders Milo konnte es gar nicht begreifen. Lorenz mußte ihn doch schließlich überredet haben.

Großvaters Schreiber, Rasmus Rasmussen, war nicht so traurig wie wir. Er sagte, Jobst würde doch im Zuchthause geendet haben, weil er das Stehlen nicht hätte lassen können. Tannenzweige aus dem Walde zu holen, sei ja schließlich kein Verbrechen, aber Jobst hätte die schönsten Tannen auseinander geschlagen, ohne auch nur einen Menschen zu fragen. Meister Ahrens habe einen guten Lieferanten an ihm gehabt, und deshalb seien seine Tannenbäume immer so schön gewesen. Dann hätte Jobst auch noch Hasen und Rehe in Schlingen gefangen, und wenn er bei einer fremden, wohlgefüllten Speisekammer vorübergekommen wäre, dann hätte er tief hineingelangt.

Es war gewiß ein Glück, daß Jobst tot war, wie Rasmus meinte, aber wir waren doch so betrübt, daß wir eine Weile unser Weihnachtsfest ganz vergaßen. Dann schämten wir uns auch noch, daß wir um einen ganz gewöhnlichen Dieb weinten.

Das thaten wir nämlich. Trotz seiner entsetzlichen Schlechtigkeit hatten wir Jobst sehr gern leiden mögen, obgleich wir es keinem Menschen verraten wollten.

Plötzlich fiel mir Dörthe ein. Was würde sie wohl dazu sagen, daß ihr Vater ertrunken wäre? Den ganzen Tag mußte ich an sie denken, und Jürgen und Milo sprachen auch von ihr. Nun war sie immer allein; nicht nur Weihnachten – nein, auch Ostern und Pfingsten – das ganze Leben hindurch.

In unserem Hause wurden gerade Kuchen gebacken; das war eine angenehme Zerstreuung; aber als es dämmerig wurde, lief ich doch zu Dörthe Krieger, deren Wohnung ich jetzt ganz gut kannte, obgleich ich sie nie betreten hatte. Jürgen lief mit und wir hatten Mama ein Paket Kuchen für die arme Dörthe abgebettelt.

In dem kleinen, sehr verfallenen Hause am äußersten Ende der Stadt brannte schon Licht, und als wir ohne weiteres in die Hausthür und dann in die kleine ärmlich eingerichtete Stube stürzten, prallten wir erschrocken zurück. Denn auf einem Holzschemel, von einem Talglicht beleuchtet, saß Jobst Krieger. Er hatte Besuch. Vor ihm stand Meister Ahrens, der heftig auf ihn einsprach, aber wir beachteten den alten Tischler nicht. Wir liefen auf Jobst zu und betrachteten ihn aufgeregt.

„Wie?“ rief Jürgen; „Du bist nicht tot?“

Seine Stimme klang vorwurfsvoll und auch ich konnte mich einer leichten Verstimmung nicht enthalten. Wenn man einmal jemand als tot beweint hat, dann muß er auch nicht gleich wieder auferstehen! Jobst Krieger sah uns ebenfalls etwas verlegen an. „Lorenz ist allein gefahren,“ sagte er nun. „Ich wollte ja nicht, ich –“ er stockte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

„Du hast Glück gehabt, Jobst Krieger,“ bemerkte Meister Ahrens. „Wenn Du mit Lorenz gefahren wärst, dann lägst Du nu tot in die See! Er war auch ein slechten Kerl, der Dir zu allens verführt hat! Morgen fährst nu for mir nach’n Festland und holst mich die Zweigens, sonsten sollst mich kennenlernen!“

Aber Jobst schüttelte den Kopf.

„Nein, Meister Ahrens – ich fahr’ nicht mehr nach den Tannenzweigen. Wenn ich in den Wald komme –“ er atmete kurz auf – „dann laß ich’s doch nicht – dann greif’ ich nach andern Dingen, die mir nicht gehören, und dann sitzt die Dörthe Weihnachten allein! Und jetzt – wo Gott mich vorm Tode bewahrt hat –“ er stockte und sah uns an. Wir nickten ihm zu. Allmählich hatten wir die Enttäuschung, daß er noch lebte, überwunden. Meister Ahrens aber rang die Hände.

„Du liebe Zeit! Nu krieg ich kein ordentlichen Tannenbäumens, wo das Geschäft gerade flott gehen soll. Und Du wohnst in meinem Haus und thust nich, was ich will? Nu mußt zu Neujahr ausziehen!“

Wir hatten Meister Ahrens niemals so böse gesehen und unser Interesse wandte sich ihm ungeteilt zu.

„Fahre doch selbst in den Wald und hole die Zweige!“ rief Jürgen; aber der Alte sah ihn böse an.

„Da konnt ich doch bei zu Schaden kommen!“ murrte er und mein Bruder trat ganz nahe auf ihn zu.

„Meister Ahrens, Du hast mir neulich noch gesagt, die Hauptsache im Leben wäre ein gutes Herz. Du hast doch auch ein gutes Herz?“

„Ganzen gewißlich!“ versicherte der Alte mit etwas unsicherer Stimme. „Abers die Tannenbäumens müssen doch Zweigens haben, sonsten sind es keine Tannenbäumens, und wenn Jobst Krieger mich nich Zweigens holen will –“

„Er will doch kein Dieb mehr sein!“ rief Jürgen. „Laß ihn in Ruhe und gehe zu Schiffer Lafrenz auf der ‚Anna Kathrin‘. Der hat auch eine ganze Menge von Tannenzweigen mitgebracht, die Brüder haben’s gesehen!“

„Is wahr?“ Ahrens’ ärgerliches Gesicht wurde etwas milder, dann lief er plötzlich davon, ohne Lebewohl zu sagen. Wir entbehrten ihn auch nicht. Wir hatten unsere Kuchen ausgepackt und da wir Jobst Krieger verziehen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 838. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_838.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2024)