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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


„Ja, wenn Vater man nich sitzt, denn bleib’ ich auch bei ihm; abers er is nu ja ümmerlos im Loch – da sitz’ ich ja ganz allein, wo Mutter doch tot is –“

„Er sitzt im Gefängnis?“

Wenn es angegangen wäre, hätte ich mich noch näher an meine neue Bekanntschaft gedrückt. Wir saßen aber schon ganz nahe aneinander geschmiegt. Aber um ihr doch zu zeigen, wie interessant sie mir sei, griff ich in die Tasche, in der sich einige getrocknete Pflaumen befanden, und bot sie ihr an. Dörthe Krieger, so hieß das Mädchen, nahm sie auch und verzehrte sie mit einiger Gier, während ich ihr zusah. Ich hatte nämlich gerade aus dem vorhin erwähnten Lesebuch mir eine wunderhübsche Geschichte von einem unschuldig Gefangenen vorlesen lassen und nahm jetzt an, daß die Gefängnisse nur dazu da waren, um Unschuldige zu quälen.

„Dein Vater hat doch natürlich nichts Böses gethan?“ fragte ich und Dörthe schüttelte den Kopf.

„Ne – natürlich nich! Bloß ein büschen Stehlen. Weiter gar nix. Der Bürmeister is auch zu eigen. Awers nach die Tannenzweigen in Holstein will er doch nicht hin!“

„Stiehlt er die auch?“

„Ja, wo sollt er sonstens zu sie kommen? Sie sitzen an ein Baum und der Baum gehört ein Grafen zu, der furchtbar slecht is und nich leiden kann, wenn man in sein Wald spazieren geht. Vater sagt, der Wald is so groß und da laufen Rehe und Hasen herum – da merkt kein ein, wenn ein Baum fehlt und wenn da ein Reh weniger is. Hast mal Rehbraten gegessen? Der schmeckt abers fein! Vater soll Dich ein Stück abgeben, wenn er wieder mal ’was mitbringt! Na, abers er will diesmal nich gern hin. Die Försters haben ihn so gräslich auf’n Strich und wenn sie ihn kriegen, denn sperren sie ihn gleich ein und – denk’ Dich mal! – er muß jedesmal länger sitzen!“

„Dann darf er doch nicht in den großen Wald gehen!“ rief ich aufstehend. Mir war, ich weiß nicht weshalb, doch etwas unheimlich zu Mute geworden.

„Meister Ahrens will es aber und wir wohnen in seinem Haus!“ Dörthe war gleichfalls aufgestanden und wischte sich an den Augen herum. „Er sagt, Vater muß allens ein büschen vorsichtig machen und er braucht nicht gleich ein Reh zu nehmen. Abers, wenn es nu da herumläuft?“

Auf diese Frage wußte ich auch keine Antwort; aber ich konnte es Dörthe nachfühlen, daß sie ihren Vater nicht gerade zu Weihnachten im Gefängnis haben wollte. Ich mußte ihr plötzlich noch versprechen, keinem Menschen etwas von unserer Unterhaltung zu erzählen und dann trennten wir uns.

Jürgen wußte schon nach einer Viertelstunde die ganze Geschichte und es war nur gut, daß ich sie ihm erzählte. Denn ich hatte etwas sehr Tadelnswertes begangen, was ich keinem erwachsenen Menschen mitteilen durfte. Von niemand würde ich etwas zu Weihnachten bekommen, wenn man erführe, daß ich mit Dörthe Krieger gesprochen hatte.

„Ihr Vater ist ein Dieb und zwar ein ganz gemeiner!“ berichtete Jürgen. „Rasmussen (unseres Großvaters Schreiber) hat mir gerade neulich davon erzählt! Denke Dir, er stiehlt nicht einmal Geld, was doch das Feinste beim Stehlen ist – er nimmt meistens nur Würste und Schinken. Und er sitzt eigentlich immer im Gefängnis!“

Dörthe hatte mir diese betrübende Eigenschaft ihres Vaters ja auch berichtet.

„Sie will nur so ungern, daß er Weihnachten sitzt,“ meinte ich; „sie ist dann ganz allein und hat niemand, dem sie ihren Weihnachtsvers aufsagen kann! Sie bekommt überhaupt gar nichts zu Weihnachten!“

„Gar nichts?“ Jürgens tugendstrenges Gesicht wurde etwas milder. Aber er wußte doch keinen besseren Rat, als daß ich gar nicht mehr an Dörthe Krieger denken und noch weniger mit ihr sprechen sollte. Besonders nicht vor Weihnachten. Denn wenn die erwachsenen Familienmitglieder merkten, welchen schlechten Umgang ich hätte, dann würde es schlimm um meine Geschenkaussichten aussehen.

Jürgen konnte manchmal sehr eindringlich sprechen und da ihm wirklich in letzter Zeit verschiedentlich Standreden darüber gehalten waren, daß er in seinem Verkehr wählerischer sein sollte, so wußte er genau, was er sagen sollte, und ich hörte ihm andächtig zu. Dörthe Krieger war mir selbst doch auch etwas bedenklich vorgekommen und sie hatte meine Pflaumen wohl aufgegessen, sich aber gar nicht dafür bedankt. Das zeugte doch von einem schlechten Herzen. Als ich daher nach etlichen Tagen Dörthe wieder begegnete und sie mir mit einer gewisseu Vertraulichkeit zunickte, versuchte ich, sie gar nicht anzusehen. Als sie aber vorüber war, mußte ich indessen doch stehen bleiben und mich umsehen, und da sie dasselbe that, blickten wir uns gerade in die Augen.

Sie lachte; ich jedoch wurde sehr entrüstet.

„Du darfst Dich nicht nach mir umsehen – Dein Vater ist ein ganz gemeiner Dieb und ich will gar nicht mit Dir sprechen!“

Dörthe schüttelte ihren struppigen Kopf und lachte wieder.

„Ne, sprechen mußt auch nich mit mich! Die Kinder in die Schule wollen auch nich bei mich sitzen. Ehegestern hab’ ich ganzen allein auf ’n Bank gesessen – das war fein!“

„Magst Du gern allein sitzen?“

Ich war dem Kinde des Diebes nun doch näher getreten und sah neugierig in ihr unbekümmertes Gesicht.

„Nu natürlich mag ich es! Da sitzt kein ein bei mich und kneift mir, oder schubbst mir — das is fein!“

„Ist Dein Vater schon im Wald gewesen?“ fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. „Ne – er hat ein slimmes Knie gehabt und konnt’ nich fort. Ahrens war doll, kann ich Dich sagen, und er will uns aus ’n Haus schmeißen, wenn Vater nich bald Ernst macht. For meinswegen kann Vater auch hingehen; wenn er man bloß nich wieder Weihnachten sitzen muß!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 834. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_834.jpg&oldid=- (Version vom 22.7.2023)