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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Erst später kam ich dahinter, daß der brave Kollege mich „geleimt“ hatte. Sein Judasrat hatte nur bezweckt, der übrigen Gesellschaft einen gefährlichen Konkurrenten bei der „Wohnungssuche“ eine Zeitlang fern zu halten.

O diese „Wohnungssuche“! Wie vieles ich auch in jenen Wandertagen mit dem fröhlichen Mute der Jugend leicht ertragen, oft wohl auch in seiner Niedrigkeit und Unwürdigkeit gar nicht bemerkt oder verstanden habe, an dieses in jedem neuen Orte unvermeidliche Uebel denke ich noch mit einem gewissen Unbehagen zurück. Ein in geordneten Verhältnissen lebender Kulturmensch kann sich gar nicht vorstellen, was es heißt, in einem kleinen schmutzigen Orte von Thür zu Thür zu wandern: „Verzeihen Sie, ich habe gehört, Sie hätten vielleicht auf vier Wochen ein Zimmer abzugeben!“ Und ehe man noch ausgesprochen hat, heißt es schon: „Ach nein – bei uns doch nicht!“ Das uns ist so ganz eigentümlich lang gedehnt, als wollte es sagen: Wie kommst Du dazu, uns ein solches Ansinnen zu stellen? Und der Ton hat hundert Variationen, vom gutmütigsten Mitleid mit den fahrenden Leuten bis zur versteckten Entrüstung, bis zur offenbaren Verachtung.

Immer und immer wieder trifft man auf dem Leidenswege Kollegen und Kolleginnen, welche sich gegenseitig Mühe geben, einander zu täuschen. Jeder sucht den andern in die Gassen zu schicken, die er selber bereits vergebens abgefragt hat, damit dieser nicht in das noch abzusuchende Terrain gerate und die Aussichten noch verschlechtere.

In Neustadt ging es mir besonders schlecht, da ich ja viel zu spät auf dem Jagdgebiet eintraf. Mit vieler Mühe fand ich endlich ein Unterkommen bei einem kleinen Beamten, wo Schmalhans Küchenmeister war und der kleine Nebenerwerb gern mitgenommen wurde.

Das Zimmer war ganz kahl, untapeziert, lang wie ein Darm, aber die Decke war gewölbt – es war ein sehr altes Gebäude – was mir sehr poetisch vorkam; auch war die Aermlichkeit des Gemaches durch einen freundlichen Ausblick gemildert. An Mobiliar hatte ich freilich nur ein Bett aus Fichtenholz, das beängstigend schmal aussah, sich dafür aber nachher als viel zu kurz auswies, einen kleinen wackligen Tisch und drei Stühle, deren einer zum Waschtisch erhoben wurde.

Ueber diesen Mangel an stilvoller Ausstattung – welche übrigens damals noch nicht Mode war – tröstete ich mich rasch, da der freundliche kleine Hausherr mir vollkommenste Freiheit zusicherte, zu studieren, so laut ich wollte, und Stimmübungen anzustellen, so viel es mir beliebte.

Ein flüchtiger Versuch ergab, daß es in dem langen hohen und leeren Raume gar herrlich schallte. Nun trieb es mich natürlich, das Theater zu besichtigen, dann beim Direktor vorzusprechen und anzufragen, ob nicht schon eine schöne dicke Rolle für mich in Sicht wäre.

Also hinaus und den Weg nach der Stätte meiner demnächstigen Triumphe erkundet!

Da geschah mir etwas Unerwartetes.

Auf jede Frage erhielt ich nämlich die Antwort: „Nee, ä Theater – das hamm mer hier gar nich!“ und wenn ich dann in berechtigtem Künstlerstolze erwiderte, daß ich das besser wissen müsse, da ich ja an diesem Theater selber engagiert sei, so sahen mich die Leute seltsam an, antworteten nichts und es wollte mir scheinen, als entfernten sie sich rascher von mir, als gerade nötig war.

Nachdem ich wie Bürgers Leonore verzweifelt den Weg „wohl auf und ab“ gefragt hatte – ich hätte mir wahrscheinlich auch mein Rabenhaar gerauft, wenn ich nicht blond gewesen wäre, wie ich es noch bin – wurde mir endlich von einem barhäuptigen und barfüßigen jugendlichen Bewohner der Stadt der erlösende Bescheid: „Nu ja – unten im Schützenhaus sind die Spielers.“

Das Schützenhaus lag etwa zehn Minuten von der Stadt entfernt auf einem großen Wiesenplan. War ich gleich durch die Nachricht, daß ich auf gar keinem richtigen, sondern auf einem Saaltheater auftreten sollte, etwas niedergedrückt, so hob sich meine Stimmung doch wieder, als ich sah, daß es ein großes Gebäude war, freilich ohne jeden architektonischen Schmuck, aber mit fünf riesengroßen Fenstern, welche einen großen Saal ankündigten, in dem es gewiß herrlich klingen mußte, wenn man einmal sein ganzes Organ „loslassen“ durfte.

Klangwirkungen erscheinen dem Anfänger meist die Hauptsache bei der dramatischen Kunst.

Vor lauter Freude und ganz in den Anblick des mir immer schöner erscheinenden Hauses versunken, stolperte ich über ein Brett, welches den Uebergang über eine sumpfige Stelle des Wiesenweges erleichtern sollte, wollte mich recht geschickt auf das Brett hinaufbalancieren, verlor aber das Gleichgewicht und setzte mich heftig, aber glücklicherweise weich, in die schlammige Pfütze.

Das war also sozusagen meine Kunsttaufe.

Ich suchte meinen rückwärtigen Menschen ein wenig zu säubern, zumal ich zwei Damen auf mich zukommen sah.

Bei näherer Betrachtung erwiesen sie sich als zwei Dienstmädchen, welche Bier aus dem Schützenhaus geholt hatten. Mein Anblick schien sie äußerst fröhlich zu stimmen und die eine rief mir wohlmeinend zu: „Lassen Sie nur, junger Herr, es wird nur immer schlimmer; Straßenkot“ – sie gebrauchte ein etwas kräftigeres Wort unserer schönen Muttersprache – „muß man trocknen lassen!“

Edle Magd! Wie oft hab’ ich in meinem späteren Theaterleben an dieses weise Wort denken müssen! Ich ließ demnach den Urbrei sitzen, worauf er saß, und worauf ich und andere Sterbliche auch zu sitzen pflegen, und schritt weiter.

Im Theatersaal traf ich meinen Direktor, der aber weniger imponierend ausschaute als bei unserer Ankunft. In Hemdsärmeln von einem zartbräunlichen Tone, war er beschäftigt, die Bühne „einzurichten“. Ein Herr in gleichem Kostüme, nur trug er statt des Leinen- ein Wollenhemd, half die gröbere Arbeit machen, ich erkannte in ihm den hakennasigen augenbrauenlosen Charakterkollegen, der außer seinen künstlerischen Obliegenheiten auch noch die eines Theater- und Maschinenmeisters versah, wofern von Maschinen hier die Rede sein konnte, denn was die beiden hier zusammenbauten, war mehr als einfach und erinnerte an die schönen Zeiten der Shakespearebühne. „Na, da sind Sie ja, junger Mann,“ redete mich mein Chef herablassend, aber doch mit einiger Zurückhaltung an, „gehen Sie nur in den ,Löwen‘ zu meiner Frau und lassen Sie sich die Rollen für morgen geben!“

Mehrere Rollen?“ fragte ich halb erstaunt, halb hocherfreut. „Und in welchen Stücken?“

„Sagt Ihnen alles meine Frau,“ tönte eine Stimme von oben, denn mein Brotherr war inzwischen mit dem Oberleib in den Soffitten verschwunden.

Ich machte dem, was von ihm noch sichtbar war, mein Kompliment und eilte hoffnungsfroh und rollengierig zum „Roten Löwen“.

Die Frau Direktorin war gleichfalls sehr beschäftigt. Aus einem Wall von Büchern, Rollen und Garderobestücken heraus teilte sie mir mit, daß als Eröffnungsvorstellung „Die Schule des Lebens“ von Raupach gegeben werden solle, und nach längerem Herumsuchen händigte sie mir die Rolle eines Hauptmanns im zweiten und eines Bürgers im vierten Akt ein. Da ich das Stück gar nicht kannte, bat ich es mir zum Lesen aus, was mir aber rund abgeschlagen wurde. Soufflierbücher gäbe man nicht weg und namentlich nicht wegen so kleiner Rollen.

„Kleine Rollen“ – das gab mir einen Dolchstich, war ich doch zur Schmiere gegangen, um große Rollen zu spielen und dadurch das Lampenfieber zu kurieren, das meine ersten Versuche auf einer großen Bühne vereitelt hatte. Ich war indessen vernünftig genug, einzusehen, daß man mich erst prüfen müsse, und dann waren es ja auch zwei Rollen, ich konnte mich in zwei, wenn auch unbedeutenden doch verschiedenen Charakteren zeigen, mich zweimal umkleiden und zweimal schminken. Das war doch immerhin etwas.

Dankend wollte ich mich entfernen, als mir die Frau Direktorin noch nachrief: „Warten Sie nur – Sie müssen auch noch den ‚Hampelmann‘ spielen!“

Einen Hampelmann?! Darauf war ich nicht gefaßt.

Zu meiner Beruhigung erfuhr ich jedoch, daß dieser Hampelmann nicht an der Strippe tanzen müsse. Der Kerkermeister im Stück wird mit den Worten angeredet: „So nahst Du mit der Ampel, Mann“, woraus eine schlechtlernende Dame, den Souffleur nicht verstehend, gemacht hatte: „So nahst Du, Hampelmann“, welcher Name der Rolle für alle Zeiten in Schmierenkreisen – in anderen wird das rührsame Stück nicht mehr gegeben – verblieben war.

Beglückt zog ich mit meinen Schätzen ab. Das Stück zu lesen, war in der That unnötig, jede Rolle bestand nur aus einigen Sätzen. Erst hatte ich als Hauptmann eine Prinzessin zu verhaften, dann als Kerkermeister die bewußte Ampel, sowie Wasser und Brot zu bringen und nachher noch im Volk einige Heilrufe auszustoßen. „Bombensicher“ trat ich am nächsten Morgen zur Probe an.

Diese verlief etwas anders, als ich es mir vorgestellt hatte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 818. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_818.jpg&oldid=- (Version vom 22.7.2023)