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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

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Als ich noch „wanderte“.

Eine Jugenderinnerung von Max Grube.

Wandertruppen!

Wie das klingt! Wie das wiederhallt im Herzen des jugendlichen Theaterschwärmers, der seinen „Wilhelm Meister“ noch frisch im Gedächtnis hat!

Da ziehen sie hin, eine kleine Schar kunstbegeisterter junger Leute, um einen im Dienste der Muse ergrauten und erprobten Führer geschart, der sie unterweist und leitet. Gering ist der Erwerb, aber groß der Lohn, den sie im eigenen Busen tragen, keine stolzen Hallen prächtiger Schauspielhäuser umfangen sie, nicht vor übersättigten Großstädtern geben sie ihr Bestes preis, in den kleinen Städten und Flecken, ja in Dörfern,

„wo das Herz noch frisch ist und der Sinn gesund“,

verkünden sie das Evangelium der Kunst, angestaunt und bewundert von Hunderten, die sich zu ihren Darbietungen drängen. Und sollte diese Anerkennung auch einmal weniger verständnisinnig ausfallen, sollte sogar die Not des Daseins vernehmlich an die Pforte des wandernden Kunsttempels pochen – sie sind deß getrost, denn sie tragen ja alle den Marschallstab der Kunst im leichten Tornister, sie wissen, daß auch sie dermaleinst einziehen werden über die stattlichen Freitreppen der herrlichen Häuser, die in großen Städten und Residenzen Apoll und den Musen geweiht sind. Dort werden sie den goldenen Lohn ihrer Mühen einheimsen und der kurzen leicht ertragenen Leiden ihrer Lehr- und Wanderjahre gern wie eines Traumes gedenken.

Wandertruppen!

So malt sich’s in den Gedanken manches Jünglings, dem es zu enge wird im dumpfen Hörsaal oder in der Schreibstube des Kaufmanns, so träumt es sich das Herz manches phantasiebegabten jungen Mädchens, das sich zu Höherem berufen wähnt als zum Alltagsleben der Häuslichkeit.

Ein schönes Bild! Wenn es nur der Wirklichkeit entspräche!

Hängen wir es einmal ein wenig tiefer, manches jugendliche Gemüt kann das vielleicht belehren und – bekehren, manchem in den Weltläuften Erfahrenen wird es vielleicht einen Blick gönnen in Ernst und Scherz einer ihm fremden Welt!

Wollen Sie einmal ein paar Tage bei einer wirklichen „Wandertruppe“ mit erleben?

Ja? – Schön!

Also begeben wir uns auf den Bahnhof der Sekundärbahn von Neustadt.

An den Biertischen der Bahnhofsrestauration giebt sich eine gewisse Bewegung kund.

Die Bahnhofsrestauration spielt in kleinen Orten eine viel wichtigere Rolle als in Großstädten, sie ist zu Höherem berufen, als dem eiligen Reisenden eine Wegzehrung zu bieten – hierher wandert der Spießbürger, der sich dem Zeitgeist näher fühlen will. Zwar die älteren Bürger bleiben in den dunklen gewölbten Hallen des Ratskellers oder im Tabaksqualm der kleinen gemütlichen Weinstube am Markt, die jüngere Generation und die „Freigeister“ aber trinken ihr Bier, wenn „der Zug“ kommt, beobachten, ob Herr Meier wieder verreist, wie Frau Kunz ihren Gatten empfängt, stellen tiefsinnige Vermutungen an, wer der fremde, gänzlich unbekannte Herr sein kann, der vom Hausknecht des „Roten Löwen“ in Empfang genommen wird, und erhalten so eine Fülle geistiger Anregungen.

Heute,.heißt es, kommen die „Spielers“ an.

Der Zug hält und aus einigen Abteilen dritter Klasse frachten sie sich aus, die „Spieler.“ Das sind sie, unverkennbar! Zunächst einige Damen, welche ihrem Aeußeren nach schon eine beträchtliche Kunsterfahrung haben müssen. Eine kleine kugelrunde Person mit einem koketten Tirolerhütchen auf einem Tituskopf von gräßlich dürrem, zum Himmel schreienden Strohblond, wie es in gleicher Totheit nur durch lange kunstgemäße Behandlung mit Phosphat erzielt werden kann. Auf der kleinen aufwärtsstrebenden „Vivatsnase“ balanciert ein Klemmer, die Mundwinkel sind zu einem eingefrorenen schalkhaften Lächeln verzogen. Das ist die jugendliche Naive, man erkennt sie sofort an der Art, wie sie neckisch aus dem Wagen hüpft. Ihr folgt ein himmellanger zaundürrer Mensch in einem sehr kurzen, hellgelb gewesenen Sommerüberzieher und einem großkrempigen Filzhut. Eine mächtige Hakennase zieht sich über den schmallippigen verkniffenen Mund; hätte er nicht recht harmlose, nichtssagende graue Augen, welche durch den fast völligen Mangel von Augenbrauen noch ausdrucksloser erscheinen, der Kopf wäre entschieden bedeutend. Offenbar haben wir den Charakterspieler vor uns. Aus der Opferfreudigkeit, mit der er der kleinen dicken Naiven eine Unzahl von Kasten und Schachteln nachschleppt, kann der Menschen- und Theaterkenner ersehen, daß „unlösliche Bande“ die beiden wenigstens für die laufende Saison verbinden.

Hinter einer Dame, in einer rotkarrierten Bluse, mit sehr spitzer, gleichfalls rötlicher Nase und sehr großen Füßen – es ist die tragische Liebhaberin. – sie sieht auch ganz so aus – wälzt sich ein selbst in dieser Umgebung etwas schmierig aussehendes Männchen mit einem langen, grauen, sogenannten Kaisermantel und einem zerbeulten Cylinder hervor. Der Kleine hat ein rundes Gesicht, das linke Auge ist zugekniffen und der linke Mundwinkel in die Höhe gezogen, er macht ein Gesicht, als wollte er sagen: „Sehe ich nicht eigentlich furchtbar komisch aus?“ Er ist nämlich der Komiker. Mit sicherem Schritte steuert er geradeswegs auf einen der Stammtische los. Er hat schon öfter in dem Städtchen „gemimt“ und weiß, daß er auch hier wie überall, mit wenig Witz und viel Behagen, unterstützt durch ein stehendes Repertoir von Kalauern und Mikoschanekdoten, allabendlich Gönner findet, die seine Zeche bezahlen und sich sogar geschmeichelt fühlen, wenn er sich auf ihre Rechnung einen kleinen „Orangutang“ kauft, denn er ist „ein ganz verfluchter Kerl“.

Noch allerhand mehr oder minder auffallende Erscheinungen ziehen vorüber vor den sie musternden, zischelnden und tuschelnden Neustädtern. Trotz der bereits vorgeschrittenen Jahreszeit sind alle ziemlich leicht bekleidet, sogar zwei Strohhüte sind auf der Bildfläche erschienen, nur der Herr Direktor tragt bereits mit Stolz einen Pelz zur Schau, der freilich schon bedenklich Haare lassen mußte und, wo solche noch vorhanden, Neigung zu einer fettigen Schuppenbildung aufweist.

Den Omnibus des „Roten Löwen“ besteigt nur der Mann mit dem vertrauenerweckenden Pelz und seine Gemahlin, eine behäbige Dame mit energischem Ausdruck, der man es wohl ansieht, daß sie „das Kassenwesen versieht“; die anderen stapfen rasch und kühn über die aufgeweichte Landstraße dem Orte zu und sind bald dem Blicke entschwunden.

Nur ein schlanker, oder sagen wir lieber magerer, junger Mann, mit hellblondem Haar und dunkelbraunen, fast schwarzen Augen, bleibt auf dem Bahnsteig zurück und schaut etwas verlegen umher.

Mit diesem jungen Manne möchte ich mir erlauben, den geehrten Leser etwas näher bekannt zu machen, – denn ich bin es selber, vielmehr ich war es vor ....hmzig Jahren, denn ich gehöre zu den wenigen Mimen der jetzigen Generation (oder gehöre ich schon einer vergangenen Epoche unserer schnelllebigen Zeit an?), welche noch eine echte rechte „Schmierenzeit“ mitgemacht haben.[1]

Warum ich auf dem einsamer werdenden Bahnhof zurückblieb?

Weil mir einer meiner neuen Kollegen, mit denen ich unterwegs Bekanntschaft gemacht hatte, denn ich war auf einem Kreuzungspunkte der Bahn mit der Truppe zusammengestoßen, bei der ich die ersten Bühnengehversuche machen wollte – weil mir ein Kollege auf meine Frage, wie es wohl mit den Privatwohnungen in Neustadt stehen möge, den guten Rat gegeben hatte, einige Zeit auf dem Bahnhofe zu verweilen, Neustadt sei ein sehr theaterfreundlicher Ort und ein oder der andere Kunstfreund würde schon an mich herantreten und mir eine Wohnung anbieten.

Der Empfang, den unser Komiker gefunden hatte, schien zu bestätigen, was mir an und für sich gar nicht unglaublich schien, ich hätte ja auch mit Freuden jedem Künstler eine Heimstätte unter meinem Dache angeboten, wenn ich eins gehabt hätte.

Freilich waren mir schon auf der kurzen Fahrt allerhand Gedanken über diese Kunstgenossen aufgestiegen, aber meine Kunstbegeisterung hatte sie rasch besiegt, es waren eben ungewöhnliche Menschen, und konnten sie nicht trotz mancher merkwürdigen Aeußerlichkeiten talentvoll und brav sein?

  1. Der Verfasser, schon lange berühmt als Charakterdarsteller, ist gegenwärtig Oberregisseur am Berliner Hoftheater. D. Red. 
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 816. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_816.jpg&oldid=- (Version vom 18.5.2023)