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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Daß man nur ein Hirn und nur eine Hand hat,“ seufzte er in sich hinein.

Schließlich schlief er dann doch bis zehn Uhr und war verstimmt, daß er Magda nicht mit dem Brief und dem Blumenstrauß hatte wecken lassen, wie er vorgehabt.

Er saß an seinem Frühstückstisch und beschrieb gerade der vor ihm stehenden alten Frau, was sie für Blumen beschaffen solle, als es klingelte.

„Ich bin für niemand zu sprechen,“ rief René ihr nach, da sie mit ihrem schiebenden Gang hinaustrottete, um zu öffnen.

Das befranzte Wolltuch fester um die Schultern ziehend, kam die Alte wieder herein und sagte mit ihrer belegten Stimme: „Da ist ein Lieutenant. Er war schon gestern da und muß Sie sprechen.“

„Wirklich, ich kann nicht,“ bat René herzlich. „Ist es der Lieutenant Bohrmann? Sagen Sie ihm, ich müsse ungestört sein. Er möge tausendmal verzeihen.“

„Es ist keiner von den Herren, die manchmal kommen. Er sagt, es müsse sein; den Namen hab’ ich nicht verstanden – Köhler oder Kehl – –“

„von Keller?“ fragte René.

Sie nickte.

„Ich lasse bitten,“ sagte er. Keller – Walfrieds Freund und doch ihm selber so wenig zugeneigt, daß er jeden direkten Verkehr bisher gemieden – Keller, in einer wichtigen Sache …

Renés Gesicht versteinerte sich in ernster Höflichkeit. So etwas wie eine schlimme Ahnung wollte ihn anfliegen. Aber er wies das als völligen Unsinn von sich. Niemand wußte etwas – Lilly selbst würde doch nicht den Wahnsinn begehen, ihren Liebesroman zu verraten, in dem sie eine so unrühmliche Rolle gespielt!

Und dennoch … sein Herz schlug ihm bis zum Halse hinauf vor Erwartung.

Er war in sein Musikzimmer gegangen und stand neben dem Flügel. Er guckte auf die blanke Ebenholzplatte nieder und sah ganz genau, daß sie von Fliegen beschmutzt war, und sah auch, wie sein eigener Oberkörper sich scharf in der Politur wiederspiegelte. Zugleich schrak er zusammen. Die Thür hatte sich geöffnet.

Lieutenant von Keller war eine eigenartige Erscheinung. Im farblosen Gesicht standen ihm runde dunkle Augen, er trug einen schwarzen Schnurrbart und dazu am Kinn noch ein Bartfleckchen, das wie angeklebt aussah. Seine Gestalt war sehr breit, aber nicht dick, denn wenn man ihn von der Seite sah, wirkte die Taille schmal. So hatte seine Figur etwas Plattgedrücktes und René hatte ihm einmal den Spitznamen „der Piquebube“ gegeben, das war als schlagend sehr belacht worden, denn wie der Piquebube im französischen Kartenspiel sah Keller aus.

Und René dachte, als er ihn eintreten sah, „der Piquebube,“ obwohl ihm schwer und ernst ums Herz war.

Die förmliche Verbeugung, welche sie wechselten, der scharfe Blick hin und her brachte sogleich eine feindselige Kälte in die Begegnung, noch ehe ein Wort über den Zweck derselben gewechselt worden war.

René wußte plötzlich zweifellos, was der andere zu sagen kam.

Das helle Morgenlicht des Wintertages fiel durch die Fenster scharf auf Kellers Gesicht. René hatte das Licht im Rücken. Dies war ihm wie eine Wohlthat in den folgenden Minuten.

„Wie ich zu meinem Bedauern höre, Herr von Keller, haben Sie mich gestern vergebens aufgesucht,“ begann René.

Herr von Keller hielt seinen Säbelgriff mit beiden Händen umschlossen und sah mit den runden, dunklen Augen fest in Renés Gesicht. Es war ein Blick, der diesen ärgerte, eigentlich ganz ausdruckslos, aber durch die Stetigkeit doch schwer erträglich.

„Die Mission, in welcher ich mich bereits gestern zu Ihnen begab, ist eine von jenen, die keinen Aufschub leiden.“

Er machte eine Pause, vielleicht zwei Sekunden lang. Sie wirkte entnervend auf René, aber er machte nur eine Bewegung mit den Fingern und schloß die Lippen fester.

„Ich suchte und suche Sie im Auftrage meines Freundes, des Herrn von Wallwitz,“ sprach Keller langsam weiter. „Er fühlt seine Ehre durch Sie in einer Weise gekränkt, daß er Genugthuung von Ihnen fordert. Als sein Sekundant stehe ich vor Ihnen, Herr Hofkapellmeister, und überbringe Ihnen die Forderung.“

René schwieg zunächst. Da das entscheidende, das erwartete Wort gesprochen war, kam eine völlige Ruhe über ihn. Er dachte nur mit einer Art von Neugier, ob Keller wisse, um welche „Ehrenkränkung“ es sich handle und ob sie bei den üblichen Vermittelungsversuchen noch zur Sprache kommen werde und auf welche Weise Walfried wohl von der Thorheit seiner Schwester erfahren habe. Diese Neugier trieb ihn zu fragen:

„Die Angelegenheit, um die es sich handelt, ist Ihnen bekannt?“

„Sie ist mir bekannt,“ versetzte Keller mit eisiger Haltung.

Ein bitteres Lächeln spielte um Renés Mund. Er dachte darüber nach, ob die Angelegenheit denn den Männern, die sich feindlich gegen ihn bewehrten, auch recht bekannt sei, ob Walfried wohl wisse und recht zu beurteilen vermöge, wie schwer denn Renés Schuld wiege. Ob Walfried wohl standhaft wie ein Cato geblieben sein würde, wenn ein heißes, junges Geschöpf sich ihm ungerufen in die Arme geworfen und gesagt hätte, „ich liebe Dich!“ Und ob Walfried wohl etwas davon erfahren habe, daß er – René – als Dank für diese unerbetene Liebe dem Mädchen sein Leben und seine Freiheit angeboten habe? Daß aber Lilly sie gar nicht gewollt hatte!

Er begriff den Zusammenhang nicht ganz. Er war ihr zu gering gewesen zum Heiraten und doch wichtig genug, daß sie ihn vor die Pistole des Bruders fordern ließ?

„Das wird mir immer verborgen bleiben,“ dachte er und doch blitzte zugleich ein Verständnis, eine Ahnung der Wahrheit in ihm auf: es war die Rache für sein „Pfui“ und auch vielleicht das Mittel, ihn und Walfried für immer voneinander zu entfernen.

All’ diese Gedanken flogen blitzschnell durch sein Hirn.

Er atmete schwer auf.

Dann fiel ihm ein, daß er einen Sekundanten haben müsse und daß die ganze Sache ungemein verwickelt und zeitraubend sei. Er ärgerte sich plötzlich. Und vor diesem alltäglichen Gefühl des Aergers verschwand alle tiefere Erregung.

„Ich werde hoffentlich meinen Freund, den Maler Nicolai, bereit finden, mir in dieser Sache zu dienen,“ sagte er mit seinem gewöhnlichen, ruhigen Ton, „jedenfalls bitte ich Sie, meinen Sekundanten zur Besprechung zu erwarten, und erkläre mich von vornherein zur Annahme aller Bedingungen bereit, die Wallwitz stellen sollte.“

„Diese Erklärungen haben Sie Ihrem Sekundanten zu überlassen,“ sprach Keller belehrend.

René fuhr fort, sich zu ärgern. Die ganze Geschichte kam ihm wie eine Farce vor. Er hatte wahrhaftig etwas Besseres zu thun, als um eines sensationslüsternen Mädchens willen sich zu duellieren, wobei es doch auf nichts Weiteres herauskam, als auf ein paar harmlose Schüsse und ein nachheriges Händeschütteln.

„Bringen wir also die Sache so schnell wie möglich zum Austrag,“ sagte er durch Kellers Ton gereizt, seinerseits einen hochmütigen anzuschlagen.

Keller verbeugte sich schweigend, René begleitete ihn bis zur Thür. Dort verbeugten sie sich nochmals voreinander. Kaum war die Thür ins Schloß gefallen, so fing René an zu lachen. Es war so komisch gewesen, wie der „Piquebube“ sich mit Todesernst in den Mienen verneigt hatte – in der ihm eigenen Art einmal tief und ein paarmal kürzer, wie ein Körper, der noch etwas schwingt, ehe er zur Ruhe kommt.

Das hatte nun gerade noch gefehlt! Adieu, schöne Arbeitsstille, wenigstens bis morgen!

Wie ihm nur Nicolai eingefallen war? Er stutzte plötzlich, als ihm das zum Bewußtsein kam. Dann lächelte er glücklich in sich hinein. Der gute Mensch war wie ein Stück von Magda und die Zuverlässigkeit in Person. Beinahe schien es ja widersinnig, gerade Magdas besten Freund zum Sekundanten zu wählen, bei einem Zweikampf, der nicht um Magda ausgefochten ward. Aber René bereute die Wahl nicht. Nicolai war jedenfalls verschwiegen wie das Grab, und es erschien René wie so ein bißchen poetische Gerechtigkeit, Magda auf diese Art gleichsam vertreten sein zu lassen bei dem Duell um Lilly.

Er war wieder ganz vergnügt und sagte sich „Nur schnell, nur schnell“. Auf dem Wege zu Nicolai dachte er, daß er Doktor Magius als Arzt nehmen könne und daß er Nicolai sagen wolle, den Lieutnant Bohrmann als Unparteiischen vorzuschlagen. Bohrmann stand ihnen beiden, Wallwitz wie ihm selbst, gleich nahe. Die ganze Sache ward ihm von Minute zu Minute mehr eine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 810. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_810.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2024)