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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Frau Böhmer war eine entschlossene Person. Sie holte den Wärter von Magdas Vater.

Mit geschickten Händen, sanft und sicher hoben sie ihn auf und trugen ihn auf sein Bett im Zimmerchen neben dem Atelier.

„Zum Arzt!“ befahl Frau Böhmer dem Mann. Der Wärter rannte davon.

Nicolai lag still. Er schien bewußtlos. Sein Atem war schwer und röchelnd.

Magda hielt seine Hand.

Niemand rührte sich. Die Böhmer war draußen und beriet mit Kathi, was man thun könne, aber ohne daß sie zu einem Schluß kamen.

Das helle Tageslicht umleuchtete die hohe, magere Stirn des Sterbenden. Sein Gesichtsausdruck war friedlich. Nur schienen alle Züge verschärft und verlängert.

So mochte mehr als eine halbe Stunde hingegangen sein.

Dann kam der Wärter mit dem Arzt. Es war nicht der Medizinalrat Schönchen, Ruhlands und auch Nicolais Arzt, sondern ein fremder junger Mann, die erste beste Hilfe, die der Wärter gefunden hatte.

Hierüber fühlte Magda eine Enttäuschung. Ihr war, als hätte der liebe alte Schönchen helfen können, helfen müssen, schon allein weil er Nicolai so sehr schätzte.

„Der Mann ist ein Sterbender,“ pflegte Schönchen von ihm zu sagen, „aber bei ihm verliert das Wort Krankheit allen Schrecken, sie ist ihm nur der unabänderliche Weg zur Auflösung, den wir alle gehen müssen. Seine Resignation grenzt an Erhabenheit.“

Und der Arzt, der den teuren Kranken so verstand, blieb fern!

Mit fast lauernden Blicken bewachte Magda das Thun des Fremden.

Sie sah wohl, er untersuchte mit zarter Sorgfalt; der Wärter hatte unterwegs schon in großen Umrissen erzählt, um was es sich handele, und die nötigsten Medikamente waren im Vorbeifahren gleich eingekauft worden.

Der Doktor war noch ein junger Mann, aber wohlbeleibt. Auf seinen Wangen stand ein kurz geschorener Bart, der die Haut durchscheinen ließ und am Kinn lang und spitz auslief. Auch das Haupthaar war abgeschoren.

Durch den mit Gold eingefaßten Kneifer sahen scharfe helle Augen.

„Es ist Doktor Magius,“ flüsterte der Wärter Magda ins Ohr.

Mit großer Vorsicht flößte Magius dem Sterbenden Kampfer ein. Der scharfe Aether verflüchtigte sich als durchdringender Geruch. Nicolai seufzte und schien leichter zu atmen. Er schlug die Augen auf, und als er Magdas Angesicht so nahe über sich fand, daß sein Blick in den ihrigen traf, ging ein mattes Lächeln über sein Gesicht. Magda glaubte zu fühlen, daß die Hand, welche sie hielt, versuchte, die ihrige zu drücken. Herzlicher und fester umschloß sie daher mit ihren Fingern diese kalte Hand.

Wie glücklich er aussah!

„Wie fühlen Sie sich?“ fragte Magda.

„Matt – aber ganz wohl,“ sagte er atemlos und kaum hörbar.

Der Doktor schrieb an einem Rezept.

Magda hörte, wie nebenan jemand stark an die Atelierthüre klopfte.

Sie legte die Hand Nicolais schnell und vorsichtig auf die Bettdecke nieder und ging, um zu öffnen. Aber der Klopfende war ungeduldig gewesen, er machte die Thür auf, ehe das „Herein“ ertönte.

Magda fuhr zurück. Der, den sie hier am wenigsten erwartete, stand vor ihr: René Flemming. Und im hellen Tageslicht, dem er das bestürzte Gesicht zuwandte, sah sie, wie bleich, wie scharf seine Züge waren. Er schien gealtert in den wenigen Tagen.

„Du hier?“ sprach er verwirrt.

Sie hatten sich seit jener erschütternden Stunde, wo René sein Wort glaubte zurücknehmen zu müssen, nicht mehr gesehen. Aber beide dachten mit keinem flüchtigen Gedanken jener Stunde. Sie sahen einander ängstlich an.

„Was – was wolltest Du bei Nicolai?“ fragte sie, denn sie sah an seinem Ausdruck zu klar, daß es ihm peinvoll war, ihr hier zu begegnen. Und in seinem Brief hatte er von der Freude des Wiedersehens gesprochen.

„Ich –“ begann Rene, „ich will Nicolai allein sprechen.“

„Du willst ihn bitten, Dein Sekundant zu sein?“ fragte Magda und sah ihn forschend an. Es war, als habe eine Gewalt, deren sie nicht Herrin werden konnte, ihr diese Frage auf die Lippen gelegt.

Er zuckte zusammen.

„Wie kommst Du auf dergleichen? Nein! Nein, sage ich. Sieh mich nicht so an,“ sagte er, seinen Ton bis zur Rauhheit steigernd.

Aber vor ihrem durchbohrenden Blicke wandte er das Auge scheu zur Seite – er, der jeden kühn und frei anzusehen pflegte.

„Ich weiß es doch …“ sprach sie.

„Ich sage aber nein. Quäle mich nicht mit Deinen Phantasien! Wo ist Nicolai? – Ich muß ihn sprechen,“ sagte er, über Magda hinsehend.

„Nicolai liegt im Sterben,“ sprach sie ganz leise.

René fuhr zurück und hielt sich mit der Hand an dem Thürpfosten.

„Das jetzt! Gerade jetzt!“

„Willst Du ihn nicht sehen?“ fragte Magda.

Ein Schauer durchrann ihn. An jedem andern Tag, zu jeder andern Stunde, aber heute – – –

„Ich kann nicht!“ wollte er sagen und schämte sich. „Bin ich denn ein Feigling?“ dachte er zornig gegen sich selbst.

„Ja,“ sagte er leise.

Magda schritt voran. „Es ist doch wahr,“ dachte sie immerfort. „Er wird es nicht zugeben und wenn ich auf meinen Knieen um die Wahrheit bäte. Es ist aber doch wahr!“

Sie stand in der Thür zu Nicolais Schlafzimmerchen still und ließ Raum neben sich, daß René zu ihr treten konnte. Das Bett stand der Thür gegenüber und es waren nur zwei Schritte Entfernung. Doktor Magius saß am Bett, mit dem Rücken gegen die Thür. Er hatte nebenan die Flüsterstimmen, wie ihm schien in heftiger Wechselrede, vernommen und hörte nun die Schritte. Er wandte sich um.

„Flemming!“ sagte er überrascht.

Sie kannten sich genau, Magius gehörte dem Kreis der jungen Männer an, die abends im „Wilden Mann“ verkehrten.

René fühlte zum zweitenmal einen seltsamen Schauder durch seine Adern rinnen. Gerade diesen Arzt traf er hier am Sterbebette. – – Es war dem Doktor Magius eine besondere Mission zugedacht, von welcher derselbe zur Stunde freilich noch keine Ahnung hatte.

Welch ein Zufall! Es ward René zu Mut, als äfften ihn feindliche Truggestalten. Er schüttelte die Empfindung gewaltsam ab.

Nach einem festen Händedruck mit dem befreundeten Arzt trat er einen Schritt vor.

So also, so sah der Tod aus?!

René hatte noch nie einen Sterbenden gesehen und diesen da sah er nicht mit klaren, verständnisvollen Augen an.

Er sah nicht den majestätischen Frieden auf der hohen Stirn, er sah nur die dunklen Schatten in den eingefallenen Schläfen. Er ahnte nichts von dem Gefühl völligster Versöhnung, welches im Herzen des Sterbenden thronte, er sah nur, wie mühsam die Brust sich hob. Er sah nicht das stille Lächeln um die Lippen, er sah nur die scharfen, leidvollen Züge.

Und mit dem Entsetzen, das ihn erfaßte, glühte zugleich seine eigene, trotzige Lebenskraft auf.

„Nicht so enden – nein, so nicht!“ dachte er verzweifelt.

Er trat zurück und ging in das andere Zimmer. Hier stellte er sich vor dem Bild mit dem hehr schreitenden Engel auf. Ihn beherrschte das instinktive Gefühl, daß er sich fassen müsse, daß er Magda ein unbefangenes Gesicht zu zeigen habe, daß er fortgehen müsse, gleich, schnell. Jetzt glaubte er, sich bemeistert zu haben und genugsam Herr über seine Stimme zu sein, daß sie nicht mehr bebe.

Er wandte sich ein wenig. Und ein dämonisches Verlangen befiel ihn, den Sterbenden noch einmal zu sehen. Er stand von fern und starrte ihn an.

Magda kam zu ihm.

„Willst Du hier bleiben?“ fragte sie sanft.

Er fuhr auf.

„Nein, nein! Ich habe keine Zeit – ich nähme Dir gern die Aufgabe, hier zu wachen, ab – aber ich kann nicht – gewiß nicht. Ich habe wichtige Geschäfte. …“

Er brach ab.

Auch vielleicht Geschäfte des Todes – vielleicht seines eigenen Todes! dachte Magda entsetzt.

„René!“ rief sie leise und umklammerte seine Hand.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 806. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_806.jpg&oldid=- (Version vom 18.4.2024)