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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Aber sie las nicht. Sie machte nicht einmal den Versuch, ihre Gedanken auf das Buch zu richten, sie hielt es nur in der Hand. In ihren Sessel zurückgelehnt, sah sie auf den Mann ihr gegenüber, und nur wenn er manchmal von seiner Zeitung emporblickte – es geschah nicht oft – senkte sie schnell die Augen, als läse sie.

Gott, wie hatte sie ihn geliebt, diesen Mann, wie würde sie ihn noch lieben in dieser Minute, wenn er es noch wert wäre!

Sie sah ihn an, als wollte sie sich jeden Zug seines Antlitzes für die Ewigkeit einprägen. Welch ein schönes, anziehendes Gesicht er doch hatte! Freilich, es war gealtert, sie wußte nicht, seit wann, sie hatte sich so lange nicht die Mühe genommen, anders als flüchtig über ihn hinzusehen. Furchen zogen sich über die Stirn und – ja, war es denn möglich? – das dichte, dunkle Haar war an den Schläfen fast grau. Er war ja doch noch so jung, sie beide waren so jung! Wie oft hatte sie früher zärtlich und spielend über dies schöne, leicht gewellte Haar hingestrichen; eine unsinnige Sehnsucht erfaßte sie plötzlich, es noch einmal, ein letztes Mal in diesem Leben zu thun.

Er war es ja nicht wert, aber – Gott, o Gott, wie heiß liebte sie ihn noch immer! Nur deshalb ertrug sie’s ja nicht, so neben ihm hinzuleben.

Wenn sie das ihm noch sagen dürfte! Aber das kann eine ungeliebte Frau nicht thun. Und doch, morgen, wenn sie das kleine Glas geleert hatte und ganz gewiß wußte, daß sie sterben würde, dann durfte sie es. Dann war es kein Betteln mehr um Gegenliebe, und dann würde er vielleicht bereuen und um sie weinen, wenn sie tot war – eine kurze Weile wenigstens.

Ja, das wollte sie thun. Sie wollte morgen, wenn der Tod unvermeidlich war, noch einmal ihre ganze heiße, verschmähte Liebe über ihn ausschütten – morgen! Der ganze Tag lag ja noch vor ihr. Vierundzwanzig Stunden, hatte der alte Mann gesagt, brauchte das Gift, um zu töten. Sie hatte so sehnsüchtig gewünscht, zu sterben, und sie wollte und wünschte es ja auch noch unerschütterlich, aber o, wie gut war es doch, daß morgen noch ein ganzer Tag vor ihr lag, an dem sie sanft und freundlich sein durfte.

Nun faltete der Mann die Zeitung zusammen, die er ausgelesen hatte, ging an das Fenster, schob den Vorhang zurück und spähte in die Dunkelheit draußen hinein.

„Es ist stiller geworden, der Regen hat nachgelassen,“ sagte er zurückkehrend. „So will ich denn noch eine Stunde in den Klub gehen und von da gleich auf den Bahnhof. Die kleine Handtasche nehme ich jetzt mit. Ach so; ich sagte Dir wohl noch gar nichts davon, ich bin morgen nicht da, muß mit dem Nachtzuge nach Hamburg, wo ich morgen in der Frühe jemand zu vertreten habe. Vor übermorgen bin ich kaum zurück. – Gute Nacht denn, und adieu!“ Er nickte kühl, ohne ihr die Hand zu reichen, und schritt mit seiner Zeitung der Thür zu.

„Gert!“

Da stand sie mitten im Zimmer, totenblaß, mit halb geöffnetem Munde und fliegendem Atem. Dies konnte nicht sein! Daß er jetzt von ihr ging, um sie in diesem Leben nicht wieder zu sehen, mit einem frostigen „Gute Nacht und adieu“ auf den Lippen, daß sie nicht mehr seine Hand berühren, nicht noch ein einziges Mal ein gutes Wort zu ihm sprechen sollte – das durfte nicht sein! Es fiel ihr in diesem Augenblicke plötzlichen Erschreckens nicht ein, daß es ja in ihrer Macht lag, um einen Tag hinauszuschieben, was sie vorhatte. Er ging – ging jetzt – ging so – und sie hörte seine Stimme nie wieder, seine geliebte Stimme!

„Gert!“ Sie hatte es gerufeu im ersten Schreck, und er wandte sich hastig nach ihr um. Den Ton hatte er lange nicht gehört – er wußte selbst kaum, wie lange nicht.

„Aus Barmherzigkeit, gehe nicht so von mir, heute nicht! Sprich ein freundliches Wort!“ sagte sie mit zuckenden Lippen, die Hände fest ineinander pressend.

„Agnes,“ rief der Mann und war an ihrer Seite, „das bittest Du?“

„Es könnte vielleicht eine Zeit kommen, wo es Dich reute, so von mir gegangen zu sein!“

Er sah sie verständnislos an, so bleich wie sie.

„Ein freundliches Wort erbittest Du, Du, die es mir versagt hat diese lange, lange Zeit? Agnes, Agnes, kannst denn auch Du es so nicht länger ertragen?“

Sie schüttelte den Kopf; sprechen konnte sie nicht.

„Ein freundliches Wort,“ sagte der Mann, und eine unbeschreibliche Bitterkeit klang aus seiner Stimme, „ich habe ja nicht gewagt, es Dir entgegen zu bringen, es erstarrte mir auf den Lippen, wenn Du mir Dein eisiges Gesicht zuwandtest. Ein freundliches Wort – Gott im Himmel, wie habe ich gelechzt danach, es sprechen zu dürfen, aber ich meinte, es würde an Deiner Unnahbarkeit abgleiten wie an einem Stein. Und nun bittest Du darum!“

„Weiter!“ Sie wollte es sagen, aber ihr versagte der Laut.

„Ich wußte es ja, daß ich im Unrecht war, ich wußte es seit – seit jener Unglücksnacht. Aber Du selbst wolltest es, daß alles zwischen uns aus sei. Dein Blick sagte es mir täglich und stündlich. Du triebst mich von Dir. Was sollte ich denn thun? Was konnte ich thun? Ich hatte Dich lieb, trotz allem! Ja, ich habe nicht gemeint, daß ich dies noch einmal aussprechen würde – ich habe dich noch jetzt lieb, trotz allem, was dagegen zu sprechen scheint, und trotzdem Du alles gethan hast, um die Liebe in mir zu ertöten. Ich habe das mit mir umhergeschleppt wie eine Fessel, die ich nicht loswerden konnte und die um so fester anzog, je weiter Du Dich von mir entferntest. Oft habe ich gemeint, ich könnte es nicht mehr ertragen. Ein freundliches Wort! – Ich habe mir wahrlich nicht denken können, daß Dir daran noch läge.“

„Und ich starb vor Sehnsucht danach,“ sagte das junge Weib und legte die Arme um seinen Hals, als müßte es so sein. Und dann nach einer ganzen Weile fügte sie leise hinzu: „Verzeih', die Schuld war mein.“

„Mein und Dein. Laß uns beide verzeihen!“

„Ja.“

„Und neu beginnen!“

„Ja.“

„Und künftig Geduld miteinander haben, Agnes!“

Sie nickte.

„Und vergessen, was gewesen ist!“

„Ich weiß nicht, ob wir das können,“ sagte sie leise. „War es dies, was Dein Haar bleichte?“ und sie strich leise, scheu mit der Hand darüber.

Er nickte bloß.

Sie gingen auf und ab in dem traulichen Gemach, bis es Zeit wurde, daß er an seine Abreise dachte, die er nicht verschieben konnte, und als sie einsam zurückblieb, fühlte sie sich zum erstenmal seit langer Zeit nicht einsam. Sie war sehr glücklich, und als sie sich endlich zur Ruhe legte und ihr beim Entkleiden das Gläschen in die Hand fiel, stellte sie es mit einem Schaudern beiseite. – – –

Am nächsten Morgen schien die Sonne, so gut sie es im November vermochte, und der Regen, der doch so dauerhaft sich angelassen, hatte ganz aufgehört.

Der alte Mann saß in einem Lehnstuhl am Fenster und blickte gedankenvoll, als wartete er auf etwas, über den schmalen Pfad hin, der durch den Garten bis an seine Hausthür führte. Auf einmal lächelte er und stand auf.

„Da ist sie,“ sagte er für sich. „So bald, das hätte ich kaum gedacht!“

Draußen auf dem Flur erscholl ein leichter Schritt, und dann klopfte etwas leise an die Stubenthür.

„Herein,“ sagte der alte Mann und öffnete zugleich selbst die Thür von innen. Frau Agnes stand auf der Schwelle, errötend und sehr verlegen.

„Guten Morgen, Frau Agnes!“ sagte er und lächelte.

Sie nahm die Hand, die er ihr entgegenstreckte. „Ich wollte Ihnen – ich möchte Ihnen – ich bringe Ihnen Ihr Eigentum zurück,“ stammelte sie. „Ich habe keine Verwendung mehr dafür. Es hat sich alles geklärt, ich möchte leben, so lange Gott es will und – es ist mir unheimlich, dergleichen im Hause zu haben.“

Er nickte und schien sich gar nicht zu wundern.

„Ich habe Sie um Verzeihung zu bitten wegen meiner gestrigen –“ fing sie wieder an, aber er wehrte lächelnd mit der Hand ab.

„Kein Wort mehr davon, mein Kind! Es war eine Krisis, und Sie haben sie so überstanden, wie ich hoffte. Ich habe alles vergessen, bis auf das eine, daß Sie wieder glücklich sind. Aber Sie hätten das Gläschen immerhin behalten können. Wissen Sie, was es enthält?“

„Nun, ein indisches Gift!“

„Nein, Zuckerwasser,“ sagte der alte Mann und lächelte.


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