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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Noch vor einer Stunde hätte sie es nicht für möglich gehalten, daß ihre Gedanken sich um so nebensächliche Dinge drehen könnten, aber jetzt, wo sie sozusagen das Reisegeld für die große Reise in der Tasche trug, kam es ja auf einen Tag Verzug nicht an. Sie konnte ja jetzt sterben, sobald sie wollte. Ihre Hand glitt während des Gehens in die Tasche. Ja, es war da, das kleine Glas, und fast wie ein Lächeln ging es über ihr Gesicht.

Licht und Wärme strömten ihr entgegen, als sie in ihr Wohngemach eintrat. Die Magd hatte aus eigenem Antriebe die Vorhänge herabgelassen, das Feuer geschürt und die Lampe auf den Tisch gestellt. In dem anstoßenden kleinen Eßzimmer, zu dem die Vorhänge zuruckgeschlagen waren, stand der Tisch zierlich für das Abendbrot vorbereitet. Dort brannte noch keine Lampe, aber das Feuer warf seinen unbestimmten, zitternden Schein über den dunkelroten Teppich uud das blanke Tischgerät. Die Magd brachte das bereit gehaltene wollene und gewärmte Schuhwerk und nahm ihr den Hut und den nassen Mantel ab.

„Danke, Marie, daß Sie daran dachten,“ sagte die junge Frau gütig, „Sie sind ein kleines gutes Mädchen.“ Sie war gewohnt, freundlich mit ihren Dienstboten zu verkehren, aber das Mädchen, ein anhängliches junges Ding, das seine schöne Herrin vergötterte, sah dennoch überrascht zu ihr empor. Es hatte etwas gar so ungewohnt Weiches in der Stimme gelegen. In Wahrheit war Frau Agnes, während sich die Kleine so geschäftig um sie mühte, auf einmal eingefallen, es sei vielleicht das letzte Mal, daß ihr jemand einen Liebesdienst erweise, uud daß die Magd sicher heiße und aufrichtige Thränen um sie weinen würde – vielleicht die einzigen, die um sie flossen.

„Die gnädige Frau ist doch wohl?“ fragte das Mädchen und sah ihr in das blasse Gesicht. „Es ist so abscheulich draußen, und gnädige Frau ist nicht daran gewöhnt.“

„Ganz wohl, Marie; so wohl wie seit lange nicht.“

„Ich will ihr in unauffälliger Weise irgend etwas von meinen Sachen schenken, ehe ich gehe,“ dachte sie, als das Mädchen fort war. Nun, da es in ihrem Innern so viel ruhiger geworden war, sie nur den Schlüssel umzudrehen brauchte, um die große, dunkle Pforte zu öffnen, überkam sie plötzlich der Wunsch, noch irgend jemand etwas Liebes zu erweisen, bevor sie schied. Daran hatte sie nie vorher gedacht, sonderm immer nur an sich uud ihr Weh.

Langsam schritt sie hin uud her auf dem weichen Teppich, der ihren Schritt zur Unhörbarkeit dämpfte. Wie traulich gerade jetzt alles aussah, was sie umgab! Wie glücklich, o wie unbeschreiblich glücklich war sie einst in diesen hellen behaglichen Räumen gewesen, in denen sich fast an jedes Stück irgend eine Erinnerung knüpfte, wie glücklich könnte sie noch darin sein, wenn nicht das Beste an jeder dieser Erinnerungen tot wäre!

So, wie es nun war, in dieser Stunde, sah sie alles vielleicht zum letztenmal, so, mit dem traulichen Lampenschein, mit den heimlich zugezogenen Vorhängen. Morgen um diese Stunde hatte sie vielleicht schon kein Verständnis mehr dafür.

Wie laut doch die Uhr tickte! Die kleine Rokokouhr, die er ihr gleich nach der Hochzeit geschenkt hatte. Ob sie wohl auch künftig immer regelmäßig aufgezogen werden würde? Das hatte sie bisher immer selbst gethan; das kleine Werk hatte nie stillgestanden, so lange sie es besaß.

Und ihr liebes Klavier! Wie lange sie es nun schon nicht mehr berührt hatte! Den Ton hörte sie wohl nicht wieder in diesem Leben. Sie schlug den Deckel zurück und fuhr mit der Rechten leicht, als wollte sie Accorde greifen, über die Tasten, ohne doch einen Ton anzuschlagen. Nicht – o nein! Sie hätte den Klang nicht ertragen. Dann schloß sie leise wieder den Deckel und zog den Schlüssel ab. Wer wohl auf diesen Tasten spielen würde – später?

Und dann lächelte sie trübe. Wie, das waren doch nicht Thränen, die ihr in die Augen stiegen? Sie ging ja doch freiwillig und gern.

Wie sonderbar losgelöst von allem sie sich schon vorkam, wie ihr alles nur noch erschien, als habe sie es früher einmal besessen!

Damals, in der kurzen Zeit ihres Glücks, waren ihr diese Räume doch ein inniggeliebtes Heim gewesen. Sie verließ es freiwillig und gern, weil es ihr kein Heim mehr war. Aber daß ihr die Thränen kamen und langsam, schwerfällig eine nach der anderen ihr über die Wange rollten, das konnte sie nun doch nicht hindern.

Das Glas – wo war doch das Glas? Ja so, in ihrer Tasche, natürlich.

Sie zog es hervor uud hielt es wieder gegen das Licht, das sich in der vielfach abgeschliffenen kleinen Oberfläche blitzend spiegelte. Dann schloß sie schnell die Finger darüber. Morgen gehörte der Tag seinem geheimnisvollen Inhalt, heute war es besser, es nicht mehr anzusehen.

Heute abend, wenn sie, wie gewöhnlich, allein daheim blieb, wollte sie ordnen, was zu ordnen war, dann morgen in der Frühe die verhängnisvollen Tropfen nehmen, das kleine Glas vernichten, so daß nichts zurückblieb, was auf eine Spur hätte leiten können, die wenigen Menschen, an welchen ihr lag, noch wie zufällig aufsuchen – und abends würde sie dann, wie der alte Mann gesagt hatte, früh müde werden, sich zur Ruhe begeben und – ja, am nächsten Morgen tot in ihrem Bette gefunden werden wie eine ruhig Schlummernde. Und so war es am besten. Sie überdachte es so klar, als wenn sie sich nur zu einer kleinen Reise rüstete.

Nun hörte sie die Thürglocke, uud jetzt trat mit kurzem Gruß ihr Mann ein. Die Lampe im Eßzimmer wurde angezündet, und sie setzten sich zum Abendbrot nieder, welches die kleine Magd inzwischen aufgetragen hatte. Frau Agnes genoß nichts, sondern saß, leicht zurückgelehnt, offenbar nur aus Höflichkeit da, und der Mann aß eilig, ohne viel auf sie zu achten.

Sie sprachen nicht miteinander. Das thaten sie jetzt überhaupt so selten, sie hatten sich so wenig zu sagen. Nur einmal fragte er, da er merkte, daß ihr Teller leer blieb, ob sie nicht essen wolle.

„Nein,“ entgegnete sie kurz, und er sagte nichts weiter darüber.

Als er seine Mahlzeit beendet hatte, stand er auf und ging sofort hinaus, und sie kehrte in die Wohnstube zurück, schloß ein Fach ihres Schreibtisches auf und nahm ein Päckchen halb vergilbter Briefe hervor.

Sie hatte sie nicht lesen, sondern gleich dem Feuer übergeben wollen, aber eines der Blätter entglitt dem umschlingenden Bande und fiel offen auf den Tisch, uud sie konnte es nicht lassen, einen Blick darauf zu werfen. Und dann las sie den Brief von Anfang bis zu Ende, setzte sich weder, löste das Band mit zögernden Fingern und begann den ersten, den zweiten, den dritten Brief zu lesen, den das Paket enthielt.

Es waren viele eng beschriebene Blätter, alle von einer Hand – die Briefe, die sie als Braut von dem Manne empfangen hatte, den sie jetzt für Zeit und Ewigkeit verlassen wollte. Wie lange war es her, seit ihre Hand sie nicht berührt hatte!

Eine große, unbeschreibliche Bitterkeit stieg in ihr empor, als sie so Seite um Seite überflog, und doch las sie weiter, wie gebannt. O mein Gott, wie konnte es denn sein, daß dies alles einst Wahrheit war!

Und doch, es war Wahrheit – damals! Manchmal in der letzten Zeit hatte sie daran gezweifelt, jetzt, da die alten, heißen Liebesworte wieder vor ihr standen, die alten, heißen Liebesworte, die sie einst so unsagbar beglückt hatten, jetzt wußte sie wieder, daß der Mann, der sie schrieb, damals nicht gelogen hatte.

O, wenn sie nur noch einmal, ein einziges Mal ein solches Wort hören könnte, ehe alles zu Ende war, es mit hinüber nehmen könnte in das lange Schweigen, das nun kam – nur ein einziges, kleines Liebeswort! Vergebens – was vergangen ist, kehrt nicht wieder!

„Du wirst mich eine Stunde hier dulden müssen,“ tönte es da von der Stubenthür her, die sich geöffnet hatte, ohne daß sie es merkte, und der Mann, an den sie gedacht hatte, schritt auf den Tisch zu. Sie fuhr empor, und im Augenblick hatte ihr Gesicht wieder den eisigen Ausdruck angenommen, den es ihm gegenüber zu tragen gewohnt war. Mit einer raschen Handbewegung schob sie die Briefe zusammen und ließ sie in den Falten ihres Kleids verschwinden.

„Ich wollte in den Klub gehen, aber das Wetter ist gerade jetzt so abscheulich, daß ich warten will, bis es besser wird. Bei mir ist nicht geheizt, ich hatte es so angeordnet. Hoffentlich störe ich Dich nicht.“

Sie schüttelte stumm den Kopf, und er machte es sich am Tische mit den Zeitungen, die er mitgebracht hatte, bequem, war auch gleich ganz ins Lesen vertieft, ohne sich weiter um sie zu kümmern.

Auch sie griff nach einem Buche und schlug es auf. Was sie zu ordnen hatte, mußte nun bis später verschoben werden, es kam ja auch auf ein paar Nachtstunden nicht an. Schlafen konnte sie ja dann später noch lange, lange.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 802. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_802.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2023)