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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Magda, meine teure Magda! Die Sache, von der Du weißt, ist ganz und für immer vorbei. Ich habe Dich wieder, Du hast mich wieder – aber das ist nicht richtig gesagt, denn im Innersten war ich Dir nicht verloren. Ich bitte Dich um eines: frage mich nicht, frage mich nie, wie es kam, daß ich jetzt verachte, was mich gestern noch so hinnahm. Es war ein Rausch, er ist verflogen. – Ich bin hierher gelaufen, der Zufall, der Wind, meine Gedanken haben mich hergeweht. Morgen oder übermorgen gehe ich heim. Das Wandern war so reich. Dann sehen wir uns wieder, zehnfach beglückt, unsere Zusammengehörigkeit aus Gefahr gerettet zu sehen, zu wissen, daß sie alles überdauert. René.“  

Dann band er dem Wirt auf die Seele, diesen Brief morgen mit dem ersten Zug nach Leopoldsburg gehen zu lassen. Er hinterließ die strengsten Befehle, daß man ihn morgen nicht wecke und vor seiner Stubenthür jedes Geräusch vermeide, und ging in das Zimmer, das für ihn zurecht gemacht war.

Die halbe Nacht hindurch schien das Licht aus den Fenstern dieses Zimmers. –

Der Brief aber ging am andern Morgen um sechs Uhr nach Leopoldsburg und wurde in den Vormittagsstunden Magda überbracht.

Sie saß thatenlos in ihrem Atelier. Der helle Himmel sah herein und um die Giebel der Nebenhäuser heulte der Wind. Es schien, als bliese der kalte Herbsttag seinen frostigen Atem durch die Fensterritzen.

Auf der Säule neben der Staffelei mit einer frisch hergerichteten Leinwand stand ein großer Strauß gelbbrauner Chrysanthemum. Magda sollte für eine befreundete Dame einen Entwurf zu einem Ofenschirm machen, die Blumen und die Farben dafür waren ihr vorgeschrieben worden.

Aber Magda konnte sich nicht aufraffen, die Arbeit zu beginnen. Sie nannte sie bei sich selbst handwerksmäßig und unfrei. Ihr Gemüt klammerte sich mit immer neuer Bitterkeit an die Geringschätzung, welche René für ihre Malerei gezeigt. Er hatte ihr alle Freude daran verdorben.

Manchmal freilich sagte sie sich, daß auch sein Beruf ihm genug der Lohnarbeit bringe und daß er auch noch jüngst eine „Zenobia“ habe dirigieren müssen.

Welcher Künstler, welcher Kunsthandwerker – ja selbst, welcher Berufsmensch darf immer nur die Aufgaben erfüllen, die er sich aus freiem Enthusiasmus erwählen würde!

Aber der Verstand mochte noch so laut sprechen, die Arbeitskraft blieb gelähmt.

Auch fragte Magda sich oft: wozu noch fleißig sein? Die Freudigkeit, mit welcher sie nach ihrer Heimkehr aus der Schweiz geschaffen, war zerstört, weil ihr Zweck und Ziel entwunden waren, der Zweck, Geld zu verdienen für das Ziel ihrer Vereinigung mit René.

Einst hatte sie auch gearbeitet ohne dies Ziel. Sie hatte stark gestanden, stand sie auch im Schatten. Denn sie wußte nicht, wie anders, wie wonniger es sich im warmen Sonnenlicht des Glückes atmet. Nun wußte sie es und empfand den Schatten so sehr, daß in ihr kein freudiger Wille mehr erblühen konnte.

Eine völlige Gleichgültigkeit gegen das Leben hatte sich ihrer bemächtigt.

Da kam Renés Brief.

Sie las ihn und nach der ersten besinnungslosen Freude kam ein neues Entsetzen über sie.

Das war schon wieder vorbei?! Dahingerast über ihn wie ein Wirbelwind?!

Und deshalb hatte sie leiden müssen, deshalb war das Schwerste über sie gekommen, was einer liebenden Frau begegnen kann? Daß eine neue Leidenschaft ihn erfaßt hatte, mußte sie begreifen, und Hortense hatte mit so vielen klugen Worten und Beispielen dargethan, daß es nichts Unbegreifliches sei, wenn der Lebenslauf eines Mannes jäh durchkreuzt werde von solchem Ereignis.

Aber daß solche Leidenschaft so schnell, so ganz wieder aus seinem Herzen verschwinden konnte – das war der neue Schrecken, den Magda empfand.

Welch ein Rätsel – der Mann! Und er schob gleich ihre möglichen Fragen von sich, lehnte ab, noch ehe er wußte, ob sie es versuchen würde, Aufklärungen zu erhalten, ihr solche zu geben. Er berief sie einfach wieder an sein Herz. Er forderte – nach solchen Ereignissen! – das blinde Vertrauen von ihr, sie solle glauben, daß er im Innersten seiner Seele ihr gar nicht untreu gewesen.

O, wenn sie das glauben könnte! Wenn sie bescheiden genug blieb, sich daran genügen zu lassen –

Eine kurze, himmlische Freude erfaßte sie. Aber ihr war, als müsse sie sich derselben schämen. War das nicht im Grunde eine unwürdige Feigheit von ihr – war’s nicht der geheime Gedanke, lieber mit dem Teilbesitz dieses Mannes sich zu begnügen, ehe sie ihn ganz verlor …

Und in ihrem sich aufbäumenden Stolz beschloß sie, sofort etwas zu thun, was ihr jedes Schwanken und jede Feigheit abschnitt.

Sie antwortete und ließ den Brief sogleich in Renés Wohnung tragen. Wenn er heute oder morgen heimkam, sollte er ihn gleich finden. Ihr Brief lautete:

„Mein lieber René, ich will nichts vor Dir verbergen. Also auch nicht, daß ich Dich immer noch liebe und niemals einen anderen Mann lieben kann. Aber das Trennungswort, welches Du zu mir gesprochen, scheidet uns für immer. Daß Du von einer neuen Liebe erfaßt wurdest, war entsetzlich. Noch mehr aber raubt mir das mein Vertrauen, daß diese neue Liebe so schnell verging und sich in Verachtung wandelte. Ich drücke mich gewiß nicht glücklich aus, ich meine so: ich verstehe, daß man einer Täuschung unterliegen kann; aber ich denke, wenn Dein Wille stark genug gewesen wäre, der Versuchung eine Weile zu widerstehen, hättest Du rechtzeitig erkannt, daß keine wahre Leidenschaft, sondern nur ein Rausch Dich erfaßt hatte. Mir wäre dann all das Entsetzliche erspart geblieben und auch Dir. Denn ich weiß, daß Du leidest, weil Du mich leiden machtest. Nur durch Willensstärke können Gefahren vermieden werden, die unser gemeinsames Leben elend machen müßten. Ich sehe, daß Dir diese Willensstärke fehlt, und darum bitte ich Dich, mache gar nicht erst den Versuch, mich wiederzusehen. Ich zürne Dir nicht, dazu bin ich zu schwach und unglücklich. Aber wir müssen einander entsagen.
Magda.“  

Kaum war der Brief fort, so ward Magda von den quälendsten Zweifeln über seine Berechtigung erfaßt.

„Ich hätte ihn erst Hortense zeigen sollen, erst mit ihr über die neueste Wandlung in Renés Herzen sprechen müssen. Ich verstehe auch dies vielleicht nicht,“ sagte sie sich bang.

Der Ton ihres Briefes konnte ihn beleidigen. Wie durfte sie ihm sagen, gerade ihm, daß ihm Willensstärke fehle, der durch die Kraft seiner eisernen Arbeit schon mit achtundzwanzig Jahren an einer Stelle stand, die andere mit vierzig erreichen?

Nein, sie hätte schreiben müssen! ich verstehe Dich nicht, deshalb fehlt mir das Vertrauen, neben Dir zu stehen.

Vielleicht würde Hortense ihr alles erklärt haben.

Zehnmal kam ihr die Versuchung, den Brief zurückholen zu lassen und erst mit der Freundin zu sprechen.

Aber zwei Dinge hielten sie ab: die Furcht, daß ihre Feigheit sie zum Selbstbetrug verführen möchte, und dann die Erkenntnis, daß tausend kluge Freundesworte nicht die Kraft haben, Erfahrung zu fördern und Vertrauen zu stärken.

Aus ihr selbst mußte es geboren werden! Und dies hielt Magda für unmöglich.

Ein Wort ihres Mädchens riß Magda aus ihrem brütenden Zustand. Als sie Kathi mit ungeheuer viel Lärm die Holztische an die Fenster rücken sah, sprach sie ärgerlich:

„Du bist so laut Kathi; was soll das überhaupt?“

„Heut’ ist ja Malstunde,“ sagte Kathi. Magda erschrak. Heute sollte sie das Geschwätz der jungen Damen über sich ergehen lassen! Welche unaussprechliche Last! Sie überrechnete die Zeit, ob Kathi noch hinlaufen und absagen könne. Unmöglich! Aber wie gerufen kam in diese Erwägung hinein eine Absage. Johanne von dem Busche und die zwei malenden Schwestern ließen durch ein und denselben Boten absagen.

Seltsam, aber sehr willkommen. Wer wußte, welch ein Vergnügen die Mädchen abhielt.

Eine halbe Stunde später kam mit der Post eine Briefkarte der Frau von Lenzow, worin sie wegen der vielen gesellschaftlichen Zerstreuungen, die Sibylle genoß, davon absah, ihre Tochter zunächst weiter Malunterricht nehmen zu lassen.

Der frostige Ton, der wenig verständliche Grund erschreckten Magda. Da war etwas vorgegangen – man hatte etwas gegen sie – – –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 790. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_790.jpg&oldid=- (Version vom 18.4.2024)