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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

gethan. Und so ganz nach und nach, gleichsam wie von selbst, war es gekommen, daß er endlich Abend für Abend das Haus verließ, auch dann, wenn sie ihm ganz gut daheim hätte Gesellschaft leisten können. Mancher Tag war vergangen, an dem sie ihn nur bei den Mahlzeiten sah, fast war es, als hätte er sein altes Junggesellenleben vollständig wieder aufgenommen.

Es hatte sie verletzt, tief, bis ins innerste Herz hinein, aber sie hatte geschwiegen. Stets, so lange sie denken konnte, war es ihr eigen gewesen, nicht um etwas bitten zu können, was ihr von rechtswegen zukam und das man ihr doch vorenthielt. Nie hatte sie das gekonnt, am wenigsten, wenn die Liebe es hätte gewähren sollen. Wenn es ihm selbstverständlich war, sie sich selbst zu überlassen, in einer Zeit, wo sie liebevoller Teilnahme und Schonung besonders bedurfte, wenn er dies thun konnte – nun, so mochte er es thun! Sie sprach kein böses Wort, das wäre ihr wie die tiefste Demütigung erschienen, aber wenn er abends nach kurzem Gruß wohlgemut davon gegangen war, nachdem er im Laufe des Tages für sie kaum ein halbes Stündchen Zeit gefunden hatte, dann weinte sie bitterlich und ein herbes Gefühl gegen ihn schlich sich in ihr Herz, dem sie keinen Namen geben mochte.

Sie sprach kein böses Wort, nein, aber das eine konnte sie freilich nicht hindern, daß sie jetzt kühler und zurückhaltender zu ihm sprach als früher. Es war etwas zwischen ihn und sie getreten. Und er war es gewesen, der die Schuld trng, er ganz allein.

Wach lag sie im Bett, bis sie ihn spät heimkommen hörte. Doch wenn er dann leise und vorsichtig eintrat, um sie nicht zu stören, schloß sie die Augen, als schliefe sie. Was brauchte er zu wissen, daß sie sich um ihn gegrämt hatte!

Dann kam ein Tag, wo man der jungen Frau ein Kindchen in die Arme legte, ein zartes, winziges Ding, und ihr sagte, es sei das ihre, wo sie das kleine Wesen in grenzenlosem Entzücken an sich drückte – „mein – mein!“

Sie hatte vorher gehofft, dieser Tag würde vielleicht den Mann ganz zu ihr zurückführen und es würde alles wieder werden, wie es früher gewesen war. Und gewiß, Glück und Vaterstolz leuchteten hell aus seinen Augen, als man ihm das Töchterchen entgegenhielt und er das weiße Bündel vorsichtig und ungeschickt auf den Arm nahm. Gewiß, er küßte die weißen Finger der jungen Frau und streichelte ihre Wange – aber so wie einst wurde es doch nicht wieder.

Nein, nein, sie konnte nicht nachrechnen, wie alles gekommen war. Schritt für Schritt war es gegangen. Es war ja wahr, ihre eigene Gesundheit blieb lange schonungsbedürftig, sie blieb auf Haus und Zimmer angewiesen, das Kind war zudem ihrer Fürsorge unendlich bedürftig, mehr noch als andere Kinder in so zartem Alter, und es war ohne Zweifel nicht immer interessant daheim für den Mann, und doch – doch, so ganz, so vollständig hätte er seine Freuden nicht außer dem Hause suchen dürfen! Bald waren sie wie zwei Parteien, er aus der einen, sie und das Kind auf der anderen Seite. Er lebte für sich und sein Behagen, sie für das Kind. O, damals empfand sie es ja noch kaum. Das Kind füllte Zeit, Gedanken und Herz so völlig aus, und er hatte sie ja schon vorher daran gewöhnt, ohne ihn zu leben.

„Mein – mein!“ Ja, dies kleine, zarte, so ganz von ihr abhängige Wesen, das gehörte ihr, und ihr Eigentum, ihr einziges, sollte es sein und bleiben, wenn er ohne Frau und Kind fertig werden konnte.

Doch es hätte sich wohl alles tragen lassen, wenn es nur so geblieben wäre. Wenn er jetzt oft spät in der Nacht von irgend einem Orte heimkehrte, den sie keineswegs immer erfuhr, nicht selten ohne die einst geübte Behutsamkeit, sie nicht zu stören, so schlief sie nach den mancherlei Mühen des Tages für das Kind oft wirklich schon fest; sie hatte nicht wach gelegen und sich um ihn gegrämt wie einst. Wenn sie dann erwachte und seiner geräuschvollen Art anmerkte, daß er den Abend in einer Weise hingebracht hatte, die ihr Zartgefühl verletzte, so empfand sie nur einen augenblicklichen großen Widerwillen, nicht Bitterkeit. Mochte er seine lustigen Freunde haben, wenn er es durchaus so wollte; sie hatte ja das Kind.

„Mein – mein!“ dachte sie dann und streckte die Hand nach dem Töchterchen aus, das in seinem kleinen Bette neben ihr schlief. Es wurde ja mehr und mehr das ihrige allein, je weiter er sich von ihnen beiden fernhielt. Ja, hätte sie nur das Kind behalten, so hätte sie es wohl überwunden, daß er seinen eigenen Weg ging, der ihr nicht gefiel, und daß die Kluft zwischen ihnen von Tag zu Tag größer wurde. Selbst ohne ihn war sie noch reich.

Aber es sollte nicht sein. Ihr hatte das Schicksal bestimmt, arm zu sein. Einer jener tückischen Kinderkrankheiten, die plötzlich da sind, man weiß nicht woher, fiel das von Anfang an schwächliche kleine Wesen zum Raub.

Ein Tag nur der bangsten Sorge war es gewesen. Der Vater war natürlich nicht da. Er hatte einen arbeitsfreien Tag benutzt, um mit lustigen Freunden einen Ausflug zu machen. Allein hatte sie an dem Krankenbettchen gesessen, zu Gott geschrieen in ihrer Not und Verzweiflung, ihr dies eine, einzige, was sie besäße, zu lassen, allein hatte sie die brechenden, geliebten Augen zugedrückt und die erkaltenden Händchen in den ihren gehalten. Sie war nicht zusammengebrochen; bleich uud starr hatte sie die Wache bei ihrem toten Kinde gehalten bis in die Nacht hinein.

Und dann war er heim gekommen. Sie hatte die Hausthürglocke und dann sehr unsichere Schritte auf dem Flur gehört, nun öffnete sich die Thür und er trat ein mit gerötetem Gesicht und etwas glasigen Augen. Er war betrunken – zum erstenmal, seit sie ihn kannte, geradezu berauscht.

Oft im Laufe des letzten Jahres hatte sie ihn in etwas angeheiterter Stimmung gesehen, und schon das war ihr peinlich und abstoßend gewesen, so aber sah sie ihn zum erstenmal. Und was er nüchtern schon lange nicht mehr gethan hatte, das that er jetzt im Rausche; er kam schwankend auf sie zu, legte den Arm um ihre Taille und küßte sie mit einem Scherzwort.

Da hatte die junge Frau mit einer leidenschaftlichen Bewegung des Ekels ihre Schultern frei gemacht und ihm das todblasse Gesicht zugekehrt. „Hinaus!“ hatte sie rufen wollen, während die Hand gebieterisch nach der Thür wies, aber die starren Lippen hatten das Wort nur tonlos gebildet.

Hatte er es dennoch verstanden, oder hatte ihn ihr Gesicht und ihre Gebärde ernüchtert – der Rausch war plötzlich verflogen. Sich langsam über die Stirn streichend, kam der Mann zum Bewußtsein und sah, was hier geschehen war. Noch deutete die schmale Hand nach der Thür, und er wandte sich und ging hinaus wie ein Schuldiger.

Seit jener Stunde – es war nun über ein Jahr – gingen sie nebeneinander hin, beinahe wie fremde Menschen. Sie hatten das Kind begraben, ohne daß ihre Thränen sich vereint hätten, und sie waren dann langsam zurückgesunken in das Einerlei des Alltagslebens, ohne daß sich die Eiseskälte, die sie umfing, je gelöst hätte. Sie zankten nicht miteinander, nie war ein Scheltwort zwischen ihnen gefallen, aber das, was auf ihnen lag, war, weil es unausgesprochen blieb, schlimmer noch als Zank.

Der jungen Frau war in diesem verödeten Hause, seit das Kind tot war, zu Mut wie in einem Gefängnis. Den Mann hatte sie nie wieder in einem Zustand gesehen, wie in jener unglückseligen Nacht, aber er ging seinen Weg mehr als je für sich allein. Jetzt, vor wenigen Tagen erst, hatte ein Zufall sie auf die Spur von Dingen geleitet, die sie tief demütigten und erbitterten. Die Liebe, die er zu Hause weder suchte noch fand, schien ihm anderswo zu teil zu werden. Einen eigentlichen Beweis freilich hatte sie nicht dafür, aber der Schein sprach deutlich. Sie selbst, sie liebte ihn ja nicht mehr; es war ja nur ihr Stolz, der so tief verletzt wurde, aber der Schmerz war darum nicht minder scharf.

Nein, sie ertrug es nicht länger, dies Leben des Elends, das sie führte. Was war es denn? Ein Schattenleben nicht der Mühe des Atmens wert!

Sterben! o, wer es könnte, wer nicht so unbarmherzig gesund wäre trotz alles Harms! Wer vergehen könnte am gebrochenen Herzen, wie man es mitunter las und hörte und doch, bei aller Sehnsucht danach, nicht erlebte. Ach nein, es war so eingerichtet in dieser grausamen Welt, daß gerade die, welche am elendesten sind, sich am längsten in ihr dahinschleppen müssen, immer den langen, öden, trostlosen Sandweg dahin, bis das Haar weiß und Herz und Geist ganz stumpf und zermartert sind.

Sterben! – und dennoch, warum nicht? Andere vor ihr hatten einen Ausweg gefunden, hatten entschlossen mit eigner Hand ein Ende gemacht, wenn ihnen die Last zu schwer wurde.

Nur – nur – wie konnte man diese Welt eigenwillig verlassen, ohne den Ueberlebenden ein Gegenstand der Verachtung zu sein, oder den großen Jammer, der einen dazu trieb, den Müßigen und Neugierigen preiszugeben? Nicht ins Wasser – nur das

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