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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Es galt aber, keine Zeit zu verlieren – jede Stunde brachte Gefahr. Wer konnte wissen, ob René Flemming nicht schon unterwegs zu Walfried war, um diesem zu sagen: „ich habe ein Recht auf Deine Schwester, ich will sie zum Weibe, ihr müßt sie mir geben, oder …“

Sie lief zur Thür, neben welcher sich ein Glockenzug befand, und riß daran. Die Jungfer kam.

„O Gott, gnädiges Fräulein, fehlt Ihnen ’was?“ fragte das Mädchen und sah die blassen entstellten Züge ihrer jungen Herrin an.

„Ja, mir ist nicht wohl. Ich will meinen Bruder sprechen. Fahren Sie mit einer Droschke nach der Kaserne – er soll gleich kommen – aber sagen Sie nichts – an – Großmama.“

Lilly schwankte. Ihr war in der That sehr elend. Die innerliche Aufregung, die ohnmächtige Wut zusammen mit der Angst, hatten ihre Wangen und ihre Lippen entfärbt.

„Soll ich nicht lieber zum Doktor laufen?“

„Nein – nein – mein Bruder soll kommen.“

Die Jungfer, die sich über dies plötzlich veränderte Aussehen ihres Fräuleins ihre Gedanken machte und annahm, daß ein Streit mit Herrn Flemming dahinter stecke, rannte davon.

Lilly kauerte sich wieder in ihren Stuhl. Im Vorbeigehen hatte sie sich in der Spiegelseitenwand des Glasschrankes angeschaut. Zwischen den silbernen Theetöpfen und Tafelaufsätzen sah sie ihr Gesicht und empfand fast eine Genugthuung, wie bleich es aussah.

Nun war die heftigste Spannung vorbei – der erste Schritt geschehen, um sich zu retten und zu rächen. Eine gewisse Erschlaffung kam über sie und sie fing an zu weinen

Mitten in ihre, aus Sorge und Wut gemischten Gefühle kam dann ein Bedauern darüber, daß nun alles aus sei. Es war doch riesig nett und lustig gewesen und er hatte so etwas Bezauberndes an sich. Sie rechnete es ihm als Schuld an, daß er durch seine alberne Heiratsidee alles geendet. Daran schloss sich die Vorstellung, daß er sie gar nicht geliebt habe, sondern daß bei ihm nur alles Berechnung gewesen, um eine große Partie zu machen.

Und sie preßte ihre Stirn gegen die Polsterlehne und ballte vor immer wachsendem Zorn die kleinen Fäuste. „Walfried soll kommen, Walfried!“ sagte sie sinnlos vor sich hin.


René ging zur Thür hinaus und auf die Straße. Mit großen, stetigen Schritten ging er vorwärts. Bekannte grüßten, er sah es nicht. Die Equipage Seiner Hoheit fuhr vorbei, er machte nicht Front. Er ging vorwärts, immer vorwärts.

Der Himmel war jetzt weiß geworden, aber seine klare Farblosigkeit mußte sich bald mit der Dunkelheit der nahen Dämmerung vollsaugen. Es war die licht- und schattenlose kurze Zeit zwischen Tag und Abend, in welcher René aus der Stadt und in den Wald hineinschritt. Er bemerkte nicht, daß ein starker Sturm hinter ihm her wehte und seinen Mantel zu einer Muschel formte, in der er, halb schreitend, halb geschoben, sich vorwärts bewegte. Sein Hut flog ihm vom Kopfe, er fühlte es nicht.

Ein Peitschenschlag hatte seine stolze Seele getroffen und sie erzitterte noch von der Schmach und dem Schmerz.

Mit tiefen Zweifeln, nicht ohne das Bewußtsein, wie viel er opfere und wage, nur der Stimme der Ehre und Dankbarkeit gehorchend, hatte er diesem Mädchen sein Leben dargeboten und sie – sie hatte es gar nicht gewollt! Sie forderte und verdiente diese Dankbarkeit für ihre Liebe gar nicht. Er war in ihren Augen gar nicht der Mann gewesen, von dem man eine ehrenhafte Haltung erwartet. Er war ihr gerade gut genug erschienen zu einem – Roman.

Diese jähe Entdeckung fiel wie ein Wassersturz auf ein Strohfeuer. Jedes Fünkchen von Empfindung für Lilly war in ihm erloschen. Nur eine ganz brutale Lust durchbebte ihn, die Freude, grenzenlos verachten zu dürfen, und die Genugthuung, es ihr gesagt zu haben.

Ein Schauer, der an Angst grenzte, durchrann ihn, als er daran dachte, welches Herz er um dieser willen gekränkt hatte. Daß er das reinste und zuverlässigste Glück, welches sein Geschick ihm bisher gegönnt, daß er Magda hätte für immer verlieren können um einer Lilly willen!

Jeder Zug des Leides, den er in Magdas Angesicht gesehen, ward ihm gegenwärtig und ward eine Ursache mehr, die andere zu verachten.

Langsam gewann die Vertiefung in Magdas Seelenzustand die Oberhand über seine häßlichen Gedanken an Lilly. Er versuchte, sich ganz in dies gebeugte, schmerzgeprüfte Frauenherz hineinzudenken.

Er wußte ja unerbittlich klar, daß es durch ihn gemartert worden war. Aber dennoch sah er ihr Schicksal als etwas Unpersönliches, Allgemeines an und empfand nicht sowohl Reue, als ein ernstes, beinahe andachtsvolles Interesse an diesen Leiden.

„Sie ist ein völliges Weib,“ sagte er sich, „und Weib sein, heißt eine Märtyrerin sein.“

Er prüfte sich mit einer Klarheit, die gar keine Selbsttäuschung zuließ, über seine Empfindungen für Magda. Diese Aufwallung für Lilly, die wie ein Sturmwind gekommen und vorübergegangen war, hatte keinen höheren Wert gehabt als ähnliche kleine Abenteuer, die sein Jugendleben schon mit sich gebracht. Nur, weil es soviel Flitterwerk um sich gehabt: weil es eine junge Dame aus der großen Welt gewesen war, seines Freundes Schwester, nur deshalb hatte er geglaubt, dies Abenteuer anders ansehen und anders enden zu müssen.

Er wusch es fort aus seiner Erinnerung, so gänzlich, daß nur die heimliche Wunde blieb, die sein Stolz durch Lillys Auffassung seiner Persönlichkeit erfahren. Er stellte bei sich fest, daß es eine von den schönklingenden Phrasen sei, die sich im Gebrauchsfall nicht bewähren, wenn man sagt: „Jemand, den ich verachte, kann mich nicht verwunden.“

Eine so grenzenlose Verachtung wie die für Lilly hatte er noch nie gefühlt und dennoch, dennoch überrann es ihn immer neu, wenn er sich sagte, sie habe sich nur mit ihm amüsieren wollen. Jemand zu verachten und es ihm nicht fort und fort zeigen und sagen zu dürfen, das war ihm ein schreckliches Gefühl, weil es nach immer neuer Sättigung vergebens lechzte. Alle bösen Instinkte wurden in ihm wach und er wünschte zehnmal in aufwallender Wut, sie hier vor sich zu haben, um ihr fürchterliche Sachen sagen zu können.

Ihm war auch, als sei die ganze Welt ihm zuwider und als sei in ihr nichts Achtens- und Liebenswertes als Magda allein. Er dachte immer inniger an sie. Er sah ihre treuen klugen Augen vor sich. „Jede Qual vermehrt unser Wissen,“ sagte er sich, „so wird auch Magda hiernach das Leben gereifter ansehen. Sie wird vielleicht künftig, wenn ich in Gefahr wäre, von einem neuen Rausch erfaßt zu werden, mich anlächeln und sagen: ‚Weißt Du noch – damals – wie schnell das verflog?‘“

An ihrem treuen, wissenden, geduldigen Herzen mußte es sich köstlich ruhen lassen. Nur eines – eines durfte sie nicht erfahren – später vielleicht – jetzt brannte die Wunde der Demütigung noch zu tief. Er konnte ihr nicht sagen, daß Lilly ihn nicht zum Gatten gewollt habe! Mochte Magda mit ihrem feinen Gefühl selbst erraten, daß er auf irgend eine Weise die Erkenntnis gewonnen, Lilly habe nur gespielt.

Er fühlte sich so völlig mit Magda vereinigt, daß ihm gar nicht mehr zum Bewußtsein kam, es sei ein Trennungswort zwischen ihnen gesprochen worden, und noch weniger wandelte ihn die Furcht an, sie könne es als ein ewig geltendes ansehen. –

Seit langem war es völlig Nacht geworden. Am schwarzblauen Himmel standen Sterne, aber der rasende Sturm trieb manchmal lockere, tiefhängende Wolken darüber her, welche die Luft mit feuchtem Atem sättigten. Der Weg, dem René mechanisch folgte, war zwischen den schwarzen Wänden des Waldes ganz gut erkennbar.

Der Sturm tobte in dem kahlen Geäst der Buchen, es war ein beständiges Knistern und Knattern in der Luft über seinem Haupt, doch René nahm es nicht mit Bewußtsein wahr. Das Geräusch war ihm wie eine selbstverständliche Begleitung seiner Gedanken. Er merkte erst auf, als sich die Töne über ihm plötzlich veränderten. Aus dem Buchengehege war er in den Tannenwald gekommen, und die Natur stimmte plötzlich eine ganz andere, eine majestätisch rhythmische Musik an.

Ein Rauschen, wie von andonnernden Meereswogen, ging durch den Tannenwald, und wie beim Zurückfluten der Wasser in dem tosenden Lärm immer eine Pause bangen Schweigens entsteht, so ließ auch der stoßweise daherfahrende Sturm den Wipfeln knappe Atempausen, um ihr Nadelgefieder zu schütteln, das er scharf nach West gestrichen.

Dazwischen ein unheimliches Knarren und Krachen. Die biegsamen Stämme der jungen Bäume wurden klappend gegeneinander

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 776. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_776.jpg&oldid=- (Version vom 10.4.2022)