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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

verfehlt hatte. Eine solche Gelegenheit zu versäumen! Einem so reizenden und zweifellos – die Wahl ihrer Lektüre bewies es – mitfühlenden Wesen gegenüber! Wozu diese steife Höflichkeit? Warum war er nicht einfach vor sie getreten mit den Worten: „Ich bin Beatus Rhenanus!“ Aber so machte er es immer. Wie vielen hübschen Mädchen hätte er sich schon angenehm machen können! Freilich in seinen „Minneliedern“ hatte er sie alle verewigt, aber die zärtlichen und kecken Unterhaltungen, die er in diesen Liedern mit ihnen pflog, waren Erzeugnisse einer Kühnheit, welche ihn angesichts der Schönen sogleich verließ und erst wiederkam, wenn er daheim im stillen Stübchen, verstohlen und ohne Mitwissen seiner besten Freunde sogar, Abenteuer dichtete.

Nachdem er jedoch diese Selbstvorwürfe wie gewöhnlich mit einem energischen „das soll jetzt anders werden!“ abgeschlossen, gab sich Leonhard Mülhens ganz dem Gefühle seiner befriedigten Dichtereitelkeit hin und schritt mit einem nie zuvor empfundenen Stolze so aufrecht und elastisch daher, daß sogar einige ältere Flamingos neidvoll nach ihm hinblickten und dachten: Von dem kann man ’was lernen!

Schließlich wandte er sich der überfüllten Restaurationsterrasse zu, um nach langem Suchen ein Eckplätzchen und sogar einen Kellner zu finden, der sich anheischig machte, ihm ein Krüglein Mineralwasser uud einen Cognac zu besorgen. Da sah er plötzlich seine schöne Leserin wieder. Sie stand kaum drei Tische weit von ihm entfernt, neben einer ältlichen Dame, einem Herrn mit fröhlichem weinroten Gesicht und mächtigem grauen Schnurrbart und einem halbwüchsigen Knaben, der eine bunte Schülermütze trug und im Gesichte dem schönen Mädchen angenehm glich. Die Herrschaften hatten eben bezahlt und wandten sich zum Aufbruch, auf dem Tische aber lag zwischen geleerten Kaffeetassen und Kuchentellern das rote Büchlein, und die Schöne vergaß wieder, es mitzunehmen.

Eilends sprang Leonhard Mülhens auf, um sie auf ihre wiederholte Vergeßlichkeit höflich aufmerksam zu machen und diesmal den Anschluß nicht zu versäumen. Da stürzte gerade der Kellner mit dem Bestellten herbei. Leonhard Mülhens bezahlte so rasch er konnte, aber inzwischen waren die Fremden bereits im Gewühl verschwunden. Aergerlich goß er den Cognac hinunter, holte das rote Büchlein und machte sich auf die Suche.

Vor dem Affenhaus waren sie nicht, ebensowenig am Bärenzwinger, am Elefantenhaus oder bei den Seelöwen, und auch nicht vor irgend einer weniger volkstümlichen Tierart. Endlich nach stundenlanger Jagd sah Leonhard Mülhens in der Nähe des Ausgangs die bunte Schülermütze auftauchen, und gleich darauf auch den breiten Strohhut. Nun aber führte ihm das Verhängnis seinen Verleger in den Weg, der ihn sogleich jovial am Arm faßte und zu einer Bowle abzuschleppen drohte: „Wir sind zu sechs Mann, drei Juristen, ein Schauspieler, ein Kritiker und ein Verleger, da fehlt uns noch ein Lyriker.“ „Sie müssen mich wirklich entschuldigen,“ bat Leonhard Mülhens hastig, indes seine Blicke vergebens den Strohhut festzuhalten strebten – „Damendienst . . .“ „Ach so“, meinte der andere, „na, dann natürlich! Ich sag’s ja, diese jungen Poeten! Viel Glück, mein Bester!“

Aber mittlerweile war der Strohhut verschwunden. –

Spät abends stand Leonhard Mülhens auf dem Perron eines stadtwärts rasselnden Pferdebahnwagens. Ganz müde und erschöpft war er. Im Zoologischen Garten, am Dampfschiff, in der Flora beim Feuerwerk – überall hatte er die Holde gesucht, und überall vergebens. Nun wollte auch seine letzte Cigarre nicht ordentlich brennen. Aergerlich warf er das Ding weg und wandte sich durch die Thür ins Innere des Wagens.

Da saß seine schöne Leserin, ohne Begleitung und ersichtlich in höchster Verwirrung, vor ihr der Schaffner, der vergebens die Hand zum Empfang des Fahrgeldes ausgestreckt hielt und die Verlegene zweifelsüchtig betrachtete.

Natürlich sprang Leonhard Mülhens sogleich hilfreich ein. „Gestatten, gnädiges Fräulein –“ Sie konnte nur dankend nicken, so verwirrt war sie. Dann, nachdem er den Schaffner unter Zugabe eines Trinkgeldes befriedigt hatte, begann sie zu erzählen. In dem furchtbaren Gedränge bei dem Feuerwerk habe Vater die Losung ausgegeben, falls eines den Familienanschluß verlöre, solle es sogleich mit der Pferdebahn bis zum Dom zu fahren; in ihrem Absteigequartier, im Domhotel, werde man sich schon wieder zusammenfinden. Und nun hätte sie leider vergessen, daß sie ihr Geldtäschchen schon im Zoologischen Garten dem Bruder Konrad gegeben habe, damit er ihr Nüsse für die Bären kaufe. Und der habe es natürlich behalten.

Leonhard Mülhens segnete den gewinnsüchtigen Bruder Konrad aus tiefster Seele, während sie ihm das alles erzählte, ein wenig verschämt und stockend, mit der reizendsten Stimme, übrigens die letzten Silben jedes Satzes eine Terz höher.

„Gnädiges Fräulein sind Oberländerin, wie ich höre?“ bemerkte Leonhard Mülhens.

Sie errötete ein wenig. „Ihnen merkt man natürlich nicht an der Aussprach’ an, daß Sie Kölner sind!“ erwiderte sie mit allerliebster Bosheit.

Nun war das Erröten wieder an ihm. Obendrein fiel ihm ein, daß er sich ihr noch gar nicht vorgestellt hatte. Eilig holte er das Versäumte nach. Auch überreichte er ihr das rote Buch wieder, aber er brachte es nicht übers Herz, sich als Verfasser zu bekennen. Sehr verlegen nahm sie es in Empfang und legte es neben sich.

„So, also Referendar sind Sie?“ meinte sie, „haben Sie in Bonn studiert? Bei wem denn?“

Ganz schulmäßig begann er ihr seine Lehrer aufzuzählen. Aber schon bei dem zweiten Namen unterbrmch sie ihn lebhaft: „Das ist ja mein Onkel!“

„Der Herr Geheimrat ist Ihr Onkel? Er ist mein liebster Lehrer und, ich darf sagen, väterlicher Gönner. Nein, wie mich das freut!“ sagte Leonhard Mülhens.

„Ja, nicht wahr? Wie reizend sich das trifft,“ meinte sie. Dann wurden sie plötzlich sogleich wieder sehr rot über ihre gemeinsame Freude und schwiegen eine Weile.

Am Dom half er ihr vom Wagen und durfte sie bis zu ihrem Hotel geleiten. Als sie aber dort erfuhren, daß die anderen Herrschaften schon zu Hause seien, wurden sie immer verlegener, er, weil er in seiner Schüchternheit die Bitte nicht herausbrachte, ihn ihren Eltern vorzustellen, und sie, weil sie ihn nicht dazu aufzufordern wagte. Schließlich stotterte er: „Also Ihr Herr Onkel! . . .“

„Ja,“ stammelte sie, „der – der wird Ihnen das Geld wiedergeben... Vielen Dank! Auf Wiedersehen, Herr Referendar!“ reichte ihm ihr Händchen und huschte ins Vestibül, Leonhard Mülhens sandte ihr noch einen langen, verzückten Blick nach, dann suchte er müde und hungrig, aber doch ganz seelenvergnügt seine Stammkneipe auf.

Als er spät in der Nacht heimkehrte und am Dom vorbeikam, hielt dort gerade der letzte Sonntags-Extrawagen der Pferdebahn; es war derselbe, auf welchem er mit der reizeudeu Brünette hereingefahren war. Der Schaffner, dem noch das reichliche Trinkgeld in der Hand juckte, grüßte sehr höflich. „Hier, Herr Assessor, das hat das Fräulein heut’ abend liegen gelassen,“ rief er und reichte Leonhard Mülhens das rote Buch vom Wagen herunter.

Also richtig zum drittenmal! Der poetische Referendar konnte sich bei dieser sonderbaren Wirkung seiner Verse einer gewissen Befremdung nicht erwehren. Dann aber siegten zartere Gefühle, er steckte das Büchlein zärtlich ein, und zu Hause in seinem einsamen Zimmer blätterte er noch lange sinnend darin und überlegte, welches von den Gedichten ihr wohl am besten gefallen habe. ... Was ihn besonders freute, war, daß sie sich das Buch offenbar selber aus eigenstem Anteil gekauft hatte; es war ihr nicht etwa als Vielliebchen oder zum Geburtstage verehrt worden, denn jede Widmung fehlte darin, auch war der Preisvermerk des Buchhändlers auf der inneren Deckelseite noch nicht ausradiert.

Ein paar Tage darauf meldete sich Leonhard Mülhens bei seinem ehemaligen Lehrer in Bonn. Es war ihm plötzlich eingefallen, daß er den hochverdienten Mann wegen verschiedener jnristischen Doktorfragen um Rat und Aufklärung bitten müsse.

Der Geheimrat empfing ihn persönlich, in der heitersten Stimmung. „Das trifft sich ja prächtig., mein lieber Freund,“ rief er, „kommen Sie nur gleich mit in meine Gartenlaube, da finden Sie eine Bowle und auch noch eine andere Bekanntschaft.“ Und richtig, da saßeu sie alle bei einander. „Meiner Frau sind Sie ja bereits bekannt, – mein Schwager Lüders, Hauptmann a. D. und Weingutsbesitzer, nebst Frau – na und meine Nichte Emma Lüders kennen Sie ja auch bereits, Sie Helfer in der Not!“ Emma bestätigte die Bekanntschaft mit freundlichem Händedruck und tiefem Erröten, welches auf Leonhards hübschem Gesicht sympathisch wiederstrahlte, und auch der Hauptmann a. D., anscheinend eine weingutsbesitzerhaft gemütliche Natur, hieß ihn freundlich willkommen.

Als er nun aber wieder mit dem roten Buch herausrückte – natürlich hatte er es in der Tasche – brach die ganze fröhliche

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 766. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_766.jpg&oldid=- (Version vom 9.2.2023)