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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Der größte Verein erwerbsthätiger Frauen in Deutschland.

Die Verschiebung der wirtschaftlichen Verhältnisse in diesem Jahrhundert hat auch die Frauen auf den Markt des Lebens, aus dem Haus in die Oeffentlichkeit gedrängt, und auch bei ihnen hat sich, dem Zuge der Zeit entsprechend, das Bedürfnis nach Zusammenschluß und Vereinigung geltend gemacht. Es sind nicht nur die Lehrerinnen und Erzieherinnen, welche durch ihren Verein zu bemerkenswerten Erfolgen gelangt sind, sondern auch neuerdings die weiblichen Angestellten in kaufmännischen und gewerblichen Betrieben.

Die Thätigkeit der Frau im Handelsgewerbe hat ja bedeutend zugenommen, in allen seinen Zweigen, auf dem Schreibsessel und hinter dem Ladentisch. Aber die mangelhafte Vorbildung vieler übte einen wirtschaftlichen Druck auf den Erwerb aller aus, abgesehen von zahlreichen anderen Uebelständen. Die Erkenntnis davon führte zur Gründung des ersten Vereins von Handlungsgehilfinnen in Berlin, und zwar unter der Bezeichnung „Kaufmännischer und gewerblicher Hilfsverein für weibliche Angestellte“. Das geschah am 2. Juli 1889, und kurze Zeit darauf zählte der Verein bereits 500 Mitglieder. Es gelang ihm, Prinzipale und Behörden für sich zu gewinnen und sich doch in seiner Thätigkeit zu gunsten der Angestellten nicht im mindesten behindern zu lassen, ein Erfolg, der wohl dem Umstande mit zuzuschreiben ist, daß an der Spitze ganz unparteiische Personen standen, die weder Inhaber von Geschäften noch Angestellte waren. Die Hauptthätigkeit des Vereins geht nach drei Richtungen: Stellenvermittelung, Fortbildung und Krankenhilfe.

Auf dem wichtigen Gebiet der Stellenvermittlung hat der Verein heute schon einen bedeutsamen Einfluß, weil ihm stets die intelligentesten der Berufsgenossen angehören und seine Thätigkeit auch den Arbeitgebern manche Erleichterung in der Auswahl der gesuchten Personen sowie eine gewisse Bürgschaft für sie bietet. Der Hilfsverein für weibliche Angestellte, der seine Thätigkeit hauptsächlich in Berlin, aber auch außerhalb ausübt, hat im Jahre 1894 im ganzen 911 Stellen besetzt, davon 570 durch Mitglieder, welche die Stellenvermittelung kostenfrei haben, die übrigen durch Nichtmitglieder, die eine Gebühr zahlen müssen. Dazu kommen 172 Lehrstellen., Der Verein hat sich nämlich auch eine Regelung des weiblichen Lehrlingswesens zur Aufgabe gemacht und vermittelt Lehrlingsstellungen in solchen Geschäften, in denen die Geschäftsinhaber die Gewähr gründlicher Ausbildung bieten.

Neben der Stellenvermittelung hatte der Verein sofort die Krankenhilfe auf seine Fahne geschrieben. Er gewährt heute, wo die gesetzliche Krankenversicherung auf die Handlungsgehilfen ausgedehnt ist, durch seine eingeschriebene Hilfskasse den 7400 Mitgliedern sehr namhafte Vorteile. Zur Behandlung der Erkrankten sind etwa 40 Aerzte, darunter sämtliche Aerztinnen Berlins, angestellt. Im Falle der Erwerbsunfähigkeit, d. h. der Unfähigkeit, im Geschäfte zu arbeiten, erhalten die Mitglieder – gleichviel, ob sie ihr Gehalt fortbeziehen oder nicht – je nach den monatlichen Beiträgen 1 Mark oder 1 Mark 50 Pfennig täglich bis zur Höchstdauer von 26 Wochen. Einen Begriff von der Ausdehnung dieses Zweiges der Vereinsthätigkeit erhält man, wenn man die Zahlen für die Krankenhilfe in Betracht zieht. Danach wurden 1894 im ganzen etwa 67000 Mark ausgegeben, wovon allein 25000 Mark auf Krankengeld und Krankenhausverpflegung entfallen. Mehr als die Hälfte aller in Berlin beschäftigten Gehilfinnen sind Mitglieder des Vereins.

Ungefähr ein Jahr nach seiner Gründung errichtete der Verein seine Fortbildungsschule, eine systematische Verbindung von allgemeiner und Fachbildung. Die Unterrichtsstunden sind von 8 bis 10 Uhr abends und ermöglichen daher die Teilnahme den meisten kaufmännischen Angestellten. Heute ist die Fortbildungsschule für Mädchen, welche vom Berliner Hilfsverein unterhalten, vom Magistrat und den Aeltesten der Kaufmannschaft unterstützt wird, wohl die größte und besteingerichtete Anstalt ihrer Art. Sie begann mit 11 Klassen und zählt heute deren 55, in denen 350 Schülerinnen in Deutsch, Korrespondenz, Rechnen, Handelslehre, Buchführung, Kontorarbeiten, Handelsgeographie, Englisch, Französisch, Stenographie und Schönschreiben unterrichtet werden.

Vor zwei Jahren wurde der Fortbildungsschule eine Vorbereitungsschule, eine Handelsschule, angegliedert, für diejenigen, welche sich auf die kaufmännische Laufbahn in geeigneter Weise vorbereiten wollen, also vornehmlich junge Mädchen im Alter von 15 bis 17 Jahren, deren Zahl im letzten Semester 249 war. Allmählich scheint sich doch als Folge der unermüdlichen Warnungen und Belehrungen der Vereinsleitung die Anschauung breiteren Boden zu verschaffen, daß die Eil- und Schnellkurse, wie sie vielfach noch üblich, mehr Schaden als Nutzen schaffen. Die Handelsschule des Hilfsvereins hat sich in Berlin bereits diejenige Anerkennung erworben, welche die bewährte Riemerschmiedsche Anstalt in München genießt.

Endlich gründete der Verein im vorigen Jahre gewerbliche Fortbildungskurse, in denen insbesondere das Zeichnen von Kostümen und Wäschegegenständen nach dem Maße sowie das Zuschneiden gelehrt wird. An weiteren Veranstaltungen kommen hinzu: Unterstützung stellenloser Mitglieder, freier Rechtsrat, Theatervorstellungen an Sonntagen in guten Theatern zu sehr billigen Preisen, gesellige Unterhaltungsabende, Lesezimmer mit 50 Zeitungen und Zeitschriften, unentgeltliche Benutzung der Vereinsbibliothek, die über 15000 Bände umfaßt, sowie der 27 städtischen Volksbibliotheken, Ermäßigungen in Badeorten und Sommerfrischen, Preisermäßigungen bei Zahnärzten, Optikern, in Badeanstalten, bei Photographen und in verschiedenen Sehenswürdigkeiten. Der Verein schützt auch seine Mitglieder kräftig gegen Ausbeutung und Ueberbürdung, er wirkt namentlich für allgemeinen Ladenschluß um 8 Uhr und für Klappstühle an den Ladentischen, um in Abwesenheit von Kunden das ungesunde vielstündige Stehen durch gelegentliches Sitzen zu unterbrechen.

Unter solchen Umständen scheint das rasche Aufblühen dieses so sehr zeitgemäßen Unternehmens wohl begreiflich. Am 1. Oktober siedelte der Verein, der bisher Oberwasserstraße 10 seine Räume hatte, in das neue Heim, Seydelstraße 25, über. Möge auch dort seine Wirksamkeit so segensreich sein wie bisher, und mögen andere Städte, die es ebenfalls gebrauchen könnten, dem Berliner Vorangang nachfolgen! J. S.     


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Beatus Rhenanus.

Humoreske von Ernst Lenbach.

Wolkenloser, zartdunstig verschleierter Himmel, windstille Luft, Staub überall und um die sechste Stunde des Nachmittags noch 23 Grad im Schatten – es war ein Augusttag mit allen jenen Witterungszeichen, welche Barometermacher und Seewarten unter dem Gesamtnamen „Schön Wetter“ zusammenzufassen pflegen. Das unglücklichste Wesen im Zoologischen Garten zu Köln war an diesem Sonntagnachmittage wahrscheinlich der Eisbär, lang hingestreckt lag er in der verhältnismäßig kühlsten Ecke seines Zwingers, in stummer Ergebung an seinen Vorderpranken saugend, und wagte kaum noch ab und zu mit Blicken eines Sterbenden nach seinem kleinen Bassin hinzuschielen, welches für ihn bereits die Temperatur eines Schwitzbades angenommen hatte. Das glücklichste Wesen im ganzen Garten aber war höchstwahrscheinlich der Referendar Leonhard Mülhens. Ihm waren die Glutpfeile, mit denen Phöbus Apollo Menschen und Tiere überschüttete, nur wohlwollende Grüße seines Meisters, denn Leonhard Mülhens war Dichter, und daß er als solcher auch anerkannt, ja sogar gelesen wurde, dafür besaß er seit einer Stunde den lieblichsten Beweis. Auf einer schattigen Bank drüben am Flamingoteich hatte sie gesessen, ein allerliebstes Braunchen in tadellos elegantem Reisekleid mit breitem Strohhut. Ihr Anblick hätte hingereicht, den einsam wandelnden Poeten und Gerichtsreferendar zu fesseln. Aber obendrein las sie in einem kleinen, rot mit Goldschnitt gebundenen Buche. Unkundige Menschen hätten es vielleicht für eine Miniaturausgabe des „Führers durch den Zoologischen Garten“ gehalten, für Leonhard Mülhens aber genügte ein Blick auf den Einband, um zu erkennen, daß es die „Minnelieder am Rhein“ von Beatus Rhenanus waren; und Beatus Rhenanus war er selber, unter diesem lateinischen Namen, der ins Deutsche übersetzt „der glückselige Rheinländer“ lauten würde, hatte er erst vergangene Ostern diese zarten lyrischen Klänge bei einem Kölner Buchhändler – natürlich auf eigene Kosten – erscheinen lassen. Aber daß jemand, und noch dazu ein reizendes junges Mädchen, öffentlich, sogar inmitten der wilden Tiere, wirklich in den „Minneliedern“ las, das war ihm noch nie vorgekommen.

Im ersten Entzücken wagte Leonhard Mülhens einen Schritt, zu dem er sich sonst wohl nicht so rasch entschlossen hätte; denn für gewöhnlich war er jungen Damen gegenüber sehr schüchtern, eine Eigenschaft, die man selten bei Referendaren, aber fast immer bei jungen lyrischen Dichtern findet. „Gestatten gnädiges Fräulein –“ stotterte er unter einer tiefen Verbeugung und wollte auf der Bank neben ihr Platz nehmen. Sie aber fuhr bestürzt auf, stammelte „o, bitte –“ und entfernte sich eilends und sichtlich verwirrt. Das Büchlein hatte sie auf der Bank liegen gelassen. Leonhard Mülhens hob es mit väterlicher Zärtlichkeit auf, eilte dem schönen Mädchen nach und reichte es ihr mit einer neuen Verbeugung hin. „Gestatten gnädiges Fräulein – Ihr Buch!“ Dabei wurde er über und über rot. Sie errötete ihrerseits ebenso sehr und stand einen Augenblick ganz fassungslos, ohne nach dem Buch zu greifen. Dann stotterte sie: „O, aber – ich – ich danke Ihnen, mein Herr!“, langte hastig zu, und ohne noch weiter etwas zu sagen, mit höflichem stummen Grüßen trennten sich diese beiden schüchternen Leutchen voneinander.

Sobald sie aber entschwunden war, fiel Leonhard Mülhens über sich selbst mit den heftigsten Vorwürfen her, wie er jedesmal zu thun pflegte, wenn er infolge seiner Schüchternheit den Anschluß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 764. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_764.jpg&oldid=- (Version vom 9.2.2023)