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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

uns vorstellen, gar nichts wahrnehmen. Hinter einer elastischen, wohlgebildeten Mädchengestalt herwandelnd, sind wir von vornherein überzeugt, diese Gestalt müsse ein hübsches Gesicht haben. Wir empfinden es beinah’ wie eine Kränkung, wenn sich nachher beim Vorüberschreiten herausstellt, daß die Einbildungskraft sich getäuscht hat.

Ist das nicht merkwürdig?

Im schroffsten Widerspruch mit der verstandesgemäßen Erfahrung hält die Einbildungskraft immer und immer wieder an ihrer Schlußfolgerung fest. Jedermann weiß doch, daß die Hübschheit Ausnahme, daß vollends die Schönheit ein weißer Rabe ist: und dennoch stellt sich die Phantasie auf den Standpunkt jener Naivetät, die eine einzige Lotterienummer spielt und voll Zuversicht auf den Hauptgewinn rechnet!

Noch einmal: wie erklärt sich dies Phänomen?

Ich glaube, man wird der Sache am ehesten auf den Grund kommen, wenn man sich an den zweiten der oben erwähnten Fälle – die optimistische Ausgestaltung eines nur undeutlich wahrgenommenen Gesichts – hält.

Wir alle tragen ein scharf geprägtes Bild von der Normalerscheinung, dem Typus des Menschen in unserem Bewußtsein.

Was diesem Typus sich nähert, das nennen wir, je nach dem Grade der Annäherung, hübsch oder schön; was sich von diesem Typus entfernt, unschön oder häßlich.

Besagter Schönheitstypus ist zugleich der Zweckmäßigkeitstypus; denn Schönheit ist Zweckmäßigkeit – nicht im niedrig alltäglichen, sondern im großen Sinne. Alles, was für das Wohl des Einzelwesens wie für das Wohl der Gattung zweckmäßig ist, erscheint uns schön; alles Zweckwidrige häßlich. Schopenhauer hat dies in seiner „Metaphysik der Liebe“ unwiderleglich erhärtet – unwiderleglich auch für denjenigen, der sonst die Weltanschauung des Frankfurter Philosophen nicht teilt. Die Hauptpunkte seiner geistvollen Studie entziehen sich hier der Erörterung. Beispielsweise sei nur erwähnt, daß ein frisches Aussehen, das auf gesunde Beschaffenheit des Blutes schließen läßt, schöne Zähne, die von Bedeutung für die Ernährung sind, außerordentlich zweckmäßig sowohl für das Einzelwesen als für alle zukünftigen Generationen sind, denen sie ja vererbt werden. Diese Zweckmäßigkeit aber drückt sich durch die Thatsache aus, daß solche Eigenschaften des Weibes dem Manne gefallen und umgekehrt.

Der verborgene Drang nach dem möglichst Vollendeten, die Neigung zum Typus oder zum Ideal, wie man auch sagen könnte, wenn das Wort nicht so häufig mißbraucht würde, schlummert also in jedem Menschen. Wir befinden uns gleichsam immerfort auf der Suche nach der Verwirklichung dieses Traums. Und wie im Gebiete des Rechtslebens die Annahme der Ehrlichkeit eines Mannes so lange besteht, bis man das Gegenteil dargethan hat, so gilt für unsern Instinkt die Annahme, jeder Mensch sei normal, dem Typus entsprechend, also schön – bis wir uns von der Irrigkeit dieser Annahme überzeugt haben. Wir sehen dann gewissermaßen mit den Augen des „Urbildes“. Wir erwarten und wünschen in jedem einzelnen Fall, daß die Wirklichkeit sich dem Normaltypus so eng als möglich anschmiegen werde.

Wie unausgesetzt der Mensch und besonders das menschliche Antlitz – dieser Träger aller seelischen Regungen – unsre Einbildungskraft beschäftigt, das erhellt aus der Thatsache, daß wir überall in der Natur, wo sich auch nur die dürftigsten Anhaltspunkte ergeben, menschliche Züge herauslesen.

Auf einer bröckelnden Kalkwand genügen drei oder vier Linien und Flecken, um uns sofort eine deutlich ausgeprägte, oft sehr charakteristische Physiognomie vor die Seele zu zaubern. In den Figuren der Teppiche, der Tapeten, in den quellenden Linien der Baumbelaubung, vor allem aber in den Gebilden der Wolken sehen wir, auch bei geringer Entwicklung der Einbildungskraft, menschliche Köpfe. – Häuser mit zwei Fenstern und einer dazwischen liegenden Thüre scheinen uns menschlich anzublicken. Alle erdenklichen Hausgeräte, auf denen sich ein paar Klexe gruppieren, wecken in uns die Erinnerung an ein Gesicht. – Ja, man kann dreist behaupten, daß wir unbewußt alle Objekte auf ihre Menschenähnlichkeit hin anschauen, und daß dieser unbewußte Akt uns nur dann ins Bewußtsein tritt, wenn die oben erwähnten Anhaltspunkte für die gestaltende Einbildungskraft gegeben sind. Je reicher und beweglicher die Phantasie eines Menschen, um so geringer braucht die Zahl jener Anhaltspunkte zu sein, um so leichter spannt er sein luftiges Gespinst über alles und jedes, was ihn umgiebt.

Von der hier erörterten Eigentümlichkeit unserer Einbildungskraft: stets den Typus des Menschentums mit sich herumzuschleppen – läßt jene weitere, nämlich die optimistische Auffassung undeutlich erkannter Landschaften u. s. w. psychologisch sich ableiten.

Wir tragen übrigens auch ein Ur- und Normalbild des Naturschönen in der Seele – und auch hier deckt sich die Schönheit mit der Zweckmäßigkeit. Da die Zweckmäßigkeit, d. h. die für uns vorteilhafte Gestaltung einer Landschaft mit den verschiedenen Kulturstufen der Menschheit wechselt, so hat auch unser Naturgefühl in geschichtlich nachweisbaren Punkten gewechselt. Was früher gefahrdrohend, also unzweckmäßig erschien, das hat diesen Charakter mit den Fortschritten der Technik, der Verkehrsentwicklung verloren.

So ist z. B. die Vorliebe unserer Naturfreunde für das Hochgebirge, für die Gletscher und Felsenklüfte, erst neuesten Datums. Die Patriarchen der Bibel schwärmten für Gelände, „wo Milch und Honig fließt“; bei den Griechen und Römern erblühte die Sympathie für die Meeresküsten. Das Wort für diesen Begriff (actae) ist bei den Römern geradezu identisch geworden mit dem Genuß schöner Landschaft. Die lateinischen Dichter und Schriftsteller werden nicht müde, uns das „Gestade“ und seine lieblichen Gärten, Haine und Grotten zu preisen.

Landschaften des Hochgebirgs, mächtige Urwälder, Felsenschlünde und ähnliche Dinge fielen dagegen nicht mehr diesseit der Grenze des antiken Naturgefühls. Der geniale Cäsar, der doch so manche unbedeutende Einzelheit seiner Erlebnisse mitteilt, erwähnt mit keiner Silbe der Majestät der Alpenwelt und des ewigen Schnees. Ja, noch im vorigen Jahrhundert sah man die Hochgebirge der Schweiz vorwiegend als schaurige Einöden, als fluchwürdige Hemmungen des Verkehrs an. Wir, die wir den Gotthardtunnel gebaut und Bergkuppen in den Abgrund geschleudert haben, um Dämme für unsere Eisenbahnen zu türmen, sind frei von jener Beklommenheit; wir finden die Alpenlandschaft nicht mehr gefahrdrohend, sind also fähig, sie rückhaltslos zu genießen.

Auch die offene See in ihrer stolzen Erhabenheit ist dem Altertum, dessen Schiffahrt den Kampf mit den Gewalten des Oceans noch nicht aufnehmen konnte, nur die öde, entsetzliche Wasserwüste. „Der hatte wohl dreifaches Erz um die Brust,“ sagt Horaz, „der zum erstenmal den schwankenden Kiel der trotzigen Flut vertraute.“

Homer, der sonst ein so ausgeprägtes Naturgefühl besitzt, der uns mit so ergreifender Einfachheit und Anschaulichkeit den Auf- oder Niedergang der göttlichen Sonne schildert, er hat kein Wort der Bewunderung für die Unendlichkeit der ewig rollenden Wasser, für die Erhabenheit des Sturmes, der die Wogen gen Himmel schleudert. Wir Modernen stehen dem Ocean ähnlich frei gegenüber wie der Gebirgswelt.

Nach dem Maßstabe also des uns innewohnenden Urbildes der Naturschönheit ergänzen wir undeutlich wahrgenommene Landschaften, analog der Ergänzung undeutlich wahrgenommener Menschengesichter. Dunkle Bergwände überkleiden wir mit Wäldern, weil wir gewohnt sind, solche bewaldete Höhen als Norm anzusehen, als die schönste und zweckmäßigste Umrahmung einer lieblich grünenden Thalsohle. Aehnliches gilt von den übrigen Einzelheiten.

Schließlich sei noch erwähnt, daß der hier nachgewiesene Optimismus der Einbildungskraft nicht nur auf dem Gebiete des Sehens, sondern ebenso auf dem Gebiete des Hörens obwaltet.

Wenn uns von fern die halbverwehten Töne eines Musikstücks herüberklingen, derart, daß eine zusammenhängende Melodie thatsächlich nicht zu vernehmen ist, so geht unsere nachschaffende Einbildungskraft sofort ans Werk, die Lücken kunstgemäß auszufüllen und so ein Tonstück zu schaffen, das oft vielleicht schöner ist als das Original.

Wie einem bekannten Ausspruch zufolge im Traum jeder ein Shakespeare ist, d. h. ein schöpferischer Dramatiker, der die einzelnen Charaktere konsequent durchführt, alle im Geist ihrer Rolle sprechen läßt und regelrecht die Konflikte herangestaltet, so ist bei der ergänzenden Thätigkeit unserer musikalischen Einbildungskraft jeder ein Mozart. Dies geht so weit, daß oft ein bloßes rhythmisches Geräusch dazu ausreicht, um uns eingebildete Tonfolgen vernehmen zu lassen; so z. B. während des Fahrens im Eisenbahnwagen. Die regelmäßig wiederkehrenden, nach bestimmten Heftigkeitsgraden modulierten Stöße der Räder erwecken in uns, wenn wir ihrem Geräusch eine Zeit lang in stiller Versunkenheit nachgelauscht haben, den Wahn einer Melodie, und wir sind häufig sogar befähigt, diese Melodie nach eigenem Geschmack zu lenken.


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