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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

das zu beschreibende Blatt gelegten Blaubogens oder mit einer Bleifeder farbig zu schreiben erlernt. Zur Herstellung dieser beiden Schriftarten ist ein besonderer Apparat notwendig. Derselbe besteht aus einer in der Richtung der Breite mit Rillen versehenen Zinkplatte, über welche ein Holzrahmen fällt, der mit Löchern versehen ist. Letztere dienen zur Aufnahme eines aus Messing hergestellten Lineals, in welchem sich zwei Reihen rechteckiger Ausschnitte befinden (s. S. 733). Das Lineal läßt sich auf der Platte fortrücken. Legt man nun auf die Platte ein Stück Papier und über dieses das Lineal, so lassen sich, wie in der Zeichnung angedeutet, in jedes Rechteck, da es über 3 Rillen reicht, mit Hilfe eines Stahlstiftes im ganzen 6 Punkte stechen, 3 links und 3 rechts. Aus der Zahl und dem Ort der gestochenen Punkte ergiebt sich die Verschiedenheit der entstandenen Zeichen. Die Gesamtzahl der möglichen Zeichen beträgt 62, ist also zur Bezeichnung der vorhandenen Buchstaben, Satzzeichen und Ziffern mehr als ausreichend. Wie der Titel unsres Blattes in dieser Blindenschrift geschrieben wird, ist auf S. 733 zu ersehen.

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Korbflechter und Scherenschleifer.

Im geographischen Unterricht werden statt der farbigen Karten ebenfalls solche in Hochdruck gebraucht. Die Flüsse und Seen sind vertieft, die Städte durch kleine Nägel mit Knopf, die Grenzen durch eine Stiftreihe dargestellt. Das Rechnen ist meistens Kopfrechnen, doch kommen auch in einigen Anstalten besondere Lehrmittel fürs schriftliche Rechnen zur Anwendung. Der musikalische Unterricht wird meistens nach dem Gehör erteilt, welches bei den Blinden oft sehr fein ist. Um indes den Blinden von der Hilfe eines Sehenden unabhängiger zu machen, läßt man ihn, namentlich wenn er die Musik zum Broterwerb ausüben soll, eine eigene Musknotenschrift erlernen, in der wir bereits eine reiche musikalische Litteratur besitzen. In der Kopenhagener Anstalt wird sogar nach Noten gesungen. Wird der Klavierunterricht nach Noten erteilt, so hat die Schülerin, wie dieses unser Bild zeigt, mit der einen Hand zu spielen, was die andere liest. Zuerst spielt die rechte und es liest die linke; ist ein Abschnitt eingeübt, so vertauschen die Hände ihre Rollen. Der Unterricht in den Naturwissenschaften zeigt ebenfalls ein eigentümliches Gepräge. Die zu betrachtenden Objekte muß der Schüler in Wirklichkeit oder im Modell zur Betastung vor sich haben, um sie kennenzulernen. Er sucht sich dann über alle ihm zugänglichen Eigenschaften derselben zu unterrichten. Sind ihm seine Fingerspitzen nicht fein genug, so nimmt er wohl auch die Zunge zu Hilfe. Die sittlich-religiöse Erziehung wird in allen Anstalten stark betont. Die Trostgründe der Religion sollen die Leuchte sein, welche dem Blinden den dunkeln Weg durchs Erdendasein erhellt.

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Herstellung der Punktdruckbücher.

Hat nun die Blindenschule dem Zögling eine gründliche physische, moralische und intellektuelle Erziehung gegeben, so setzt die technische Ausbildung die Krone darauf, denn sie macht es ihm möglich, daß er ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden kann. Als für den Blinden geeignete Berufsarten sind anzusehen das Lehramt, die Musik uud das Handwerk. In Frankreich, England und Amerika giebt es sehr viele blinde Lehrer an Blinden-Anslalten, in Deutschland nur wenige, da sich hier die Ansicht ziemlich allgemein ausgebildet hat, ein Blinder dürfe, abgesehen vom Musikunterricht, nicht der Leiter seiner blinden Genossen sein. Als Musiklehrer und Organist kann der Blinde Tüchtiges leisten und als solcher findet er in manchen Ländern auch später ein gutes Fortkommen. Kopenhagen hat 11 blinde Organisten versorgt, Amerika gar 88, außerdem noch 463 nicht an Anstalten beschäftigte Musiklehrer. In Deutschland ist die Zahl der blinden Organisten nicht groß, weil hier das Organistenamt meistens mit dem Schulamt verbunden ist. Der praktische Gesichtspunkt, ob der ausgebildete Zögling Gelegenheit finden könne, seine Kenntnisse und Fertigkeiten für sich nutzbar zu machen, muß bei der Berufswahl der entscheidende sein. Weil es nun, wie die Erfahrung gelehrt hat, häufig schwer hält, einen ausgebildeten Musiker passend unterzubringen, so hat bei uns die Musik mehr und mehr an Boden verloren. In demselben Grade hat das Handwerk daran gewonnen, denn es hat sich gezeigt, daß dieses „auch für den Blinden einen wenn auch nicht goldenen, so doch einen eisernen Boden“ hat. Am geeignetsten haben sich erwiesen das Korbmachen, die Seilerei und die Bürstenbinderei. In Kopenhagen wird außerdem noch die Schuhmacherei betrieben, die aus den deutschen Anstalten, soweit sie hier Eingang gefunden, als zu wenig ergiebig wieder verschwunden ist. Daß es übrigens noch weitere Erwerbszweige giebt, in welchen der Blinde mit Nutzen beschäftigt werden kann, geht aus obiger Abbildung hervor, die uns neben dem Korbmacher den Scherenschleifer an der Arbeit zeigt. Ob indes dieser in der Berliner Anstalt angestellte Versuch in anderen Anstalten Nachahmung finden wird, nnuß erst noch die Zukunft lehren. Auch das neuerdings in deutschen Anstalten nach dem Vorgange Englands

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 734. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_734.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2023)