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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

durchgesetzt! Ludwig Philipp von Orleans war etwa so vorbereitet wie unser Märchenprinz, als er sich in mißlicher Lage, zwanzig Jahre alt, im Jahre 1793 nach der Schweiz begab. Nachdem sein Geld alle geworden war, legte er das höhere Schulexamen ab und ward unter dem Namen Chabaud Latour Lehrer der Geographie und Mathematik an der Erziehungsanstalt im Schlosse Reichenau bei Chur. Nach einer andern Angabe hat der junge Herzog von Chartres als Lehrer der französischen Sprache und Litteratur gewirkt. Die Thatsache steht fest; die Leitung der Anstalt lag in den Händen Zschokkes; das Schloß ist jetzt im Besitz der Familie von Planta. Ludwig Philipp konnte sich auf einen Vorgänger im klassischen Altertum berufen, der bereits in den Fünfzigen und bereits Maöhthdber von Syrakus gewesen, nicht so gut erzogen, aber auf seine alten Tage auch noch Schulmeister war: auf Dionysius den Jüngeren. Er wurde im Jahre 343 v. Chr. von Timoleon nach Korinth deportiert, wo er sein Leben durch Unterrichtgeben und Musikstunden gefristet haben soll.

Der Großfürst Wladimir würde wahrscheinlich eine Professur der Orientalischen Sprachen, der Erzherzog Josef eine Professur des Zigeuneridioms erhalten – der Landgraf von Hessen-Darmstadt, Ludwig IX., gab weiland in seiner Residenz Pirmasens den geschicktesten Trommelschläger ab, Friedrich der Große spielte bei den Konzerten in Sanssouci die Flöte – der Prinz Eugen von Schweden könnte sich sofort als Maler niederlassen. Er erzielt sogar sehr hohe Preise, von denen er nichts abläßt, weil er das Geld für die Armen zu bestimmen pflegt. Ob die unzähligen gekrönten Häupter und regierenden Häusern angehörigen Prinzen und Prinzessinnen, die in unserer Zeit als Schriftsteller aufgetreten sind, alle imstande sein würden, sich mit der Feder zu ernähren, will ich dahingestellt sein lassen, da das selbst für Berufsschriftsteller mitunter eine mißliche Sache ist. Gewiß ist, daß das Prachtwerk des Erzherzogs Ludwig Salvator von Toskana über die Balearen überall einen Verleger gefunden hätte; daß Madame Reyer, unter welchem Namen die Königin von Belgien, Marie Henriette, ihre Zeitschrift Jeune Fille leitet, die von ihr gezeichneten Artikel so gut liefert wie ein Berufsjournalist und für Kunst und Litteratur an der Prinzessin Clementine, die als Marthe d’Orey zeichnet, eine geschätzte Mitarbeiterin besitzt; daß ferner der König Milan von Serbien durchaus das Zeug hat, sich nötigenfalls als Graf von Takova im Dienste der Presse durchs Leben zu schlagen.

Der schönschreibende Prinz des arabischen Märchens brauchte also in Europa noch nicht gleich zu verzweifeln; anderseits ist es heutzutage, unter unseren Verhältnissen, durchaus nicht mehr so sicher, daß die mechanischen Arbeiten ihren Mann ernähren. Das Handwerk hat bekanntlich keinen goldenen Boden mehr, seitdem der Wettbewerb so sehr verschärft wurde.

Früher war das anders.

Es gab einst eine Zeit, in der ein Handwerk den Menschen vom Schicksal unabhängig machte und ihn gleichsam über das wetterwendische Glück erhob; eine Zeit, wo die gelernte Kunst ein Bauerngut aufwog, weil sie niemals entrissen werden konnte; wo das Sprichwort galt: eine gute Kunst und gelehrte Hand passieret frei durch alle Land. Daher denn fürstliche Familien die Prinzen gern ein Handwerk erlernen ließen, um ihnen etwas Sicheres fürs Leben mitzugeben. Im Mittelalter hätte man das für unanständig gehalten, und der erste Stephanus, der Gründer des berühmten Buchdruckergeschlechtes, wurde von seinen Eltern, provençalischen Edelleuten, enterbt, weil er sich der Buchdruckerkunst widmete; aber in der Revolutionszeit, die so viele reiche Leute zwang, ihr Vaterland zu verlassen, wurde diese pädagogische Maßregel beliebt. Rousseau, der seinen Emil zum Zimmermann bestimmte, erhob sich zum Fürsprecher dieser Idee, doch war sie eigentlich nicht neu. Bei Königskindern erscheint das Handwerk freilich nur wie eine Art Spielerei, die einen praktischen Nutzen selten haben dürfte. Die Absicht, sie dadurch gegen einen Schicksalswechsel zu sichern und zu wappnen, ist eine hübsche Illusion der Eltern, die kaum ernst genommen wird. Sie wurde auch nicht immer erstrebt. Der Prinz sollte aus anderen, erzieherischen Gründen ein Handwerk lernen. Durch diese Beschäftigung wurde ja die Hand des Kindes geübt, wurden die Sinne geschärft. Der einstige Thronerbe trat auch durch seine Thätigkeit dem Anschauungskreise der arbeitenden Klassen näher, für deren Wohl er später sorgen sollte, und er gewann Achtung vor jeder scheinbar unbedeutenden Handarbeit.

Die bayrischen Prinzen Ludwig und Otto, die Söhne König Maximilians II. Joseph, die späteren Könige, hätten, überhaupt sehr einfach erzogen, dem arabischen Schneider, wenn er sie nach einem Handwerk gefragt hätte, wirklich dienen können. Der Kronprinz Ludwig, der frühe an der Baukunst Geschmack gefunden hatte, erlernte das Maurerhandwerk; sein Bruder Otto lernte drechseln. Wochenlang arbeitete der junge Ludwig alle Tage zwei Stunden mit den Maurern an einem neuen Wagenschuppen für das Lustschloß Nymphenburg. Nach Ablauf derselben kam er zu seiner königlichen Mutter und sagte, er hätte ausgelernt. Er könnte nun die Mauersteine so zierlich aufeinanderlegen wie irgend ein Gesell. „Könntest Du Dein Brot damit verdienen?“ fragte die Königin Maria. „Ich könnte mein Glück damit machen und das des Maurermeisters dazu,“ versetzte der Kronprinz lachend, denn er vermochte den Zweck dieser Beschäftigung nicht recht einzusehen. „Jeder Meister würde mich nämlich mit Vergnügen beschäftigen, um meines Namens willen. Da ist auch noch einer, der darauf wartet, daß die Welt auf dem Kopfe steht,“ meinte er, indem er auf den Prinzen Otto zeigte, der das Rad einer Drehbank mit seinem Füßchen trat. „Wenn die Prinzen drechseln, so mag der Zimmermann regieren.“ Ein „Zimmermann“ regierte ja einst das Zarenreich.

Die Drechselkunst hat unter den Fürsten immer besonders viele Liebhaber gefunden; Peter der Große verstand unter andern Handwerken auch dieses. Daß er, schon Zar, auf den Schiffswerften von Zaardam als einfacher Schiffszimmermann den Schiffbau lernte, daß er eigenhändig einen aus zwei Stücken zusammengesetzten Fockmast fertigte, daß er sich den Titel eines Schiffszimmermeisters oder eines holländischen Zimmerbaas erwarb, ist weltbekannt – er baute sich eine Bettstelle wie der König Odysseus und machte sogar Badewannen, die eigentlich Böttcherarbeit sind. Aber er arbeitete auch in den Schmieden und schmiedete während seines Aufenthaltes in Oesterreich 18 Pud Stangeneisen, womit er sich ein Paar Schuhe verdiente, die er mit Stolz trug. Der Tausendkünstler hatte sich auch auf die kleine Chirurgie geworfen: er besuchte in Leyden das Anatomische Theater und den berühmten Boerhaave, sezierte, schröpfte und ließ zur Ader, fühlte aber einen besonderen Beruf zum Zahnarzt. Die Zahnarzneikunde trieb er mit wahrer Leidenschaft: in Rußland zog er seinem ganzen Hofstaate und vielen anderen Unterthanen, wenn sie Zahnschmerzen hatten, sogar wenn sie keine hatten, die Zähne aus. „Geißfüße“ und Zahnzangen führte er beständig bei sich.

Peter der Große läßt sich jedoch mit den Königskindern, die nach Art von Rousseaus Emil zur Arbeit angehalten werden, nicht recht wohl vergleichen. Er erzog sich gewissermaßen selbst, und zwar in der ihm zusagenden Weise; wenn er sich in der Folge verschiedene Künste und Fertigkeiten aneignete, so geschah das aus Instinkt: das Handwerk war für ihn eine Art Sport, ein nützlicher Zeitvertreib. Gar oft greifen Fürsten noch in reiferen Jahren aus reiner Passion zu einer mechanischen Arbeit, in der sie es weit bringen und mit der sie sich allerdings würden ernähren können, falls das überhaupt in Frage käme; diese Arbeit verhilft ihnen, wenn sie nicht auf die Jagd gehen, zu der notwendigen Bewegung und ersetzt ihnen das Turnen und das Fechten. Auch der verstorbene Zar Alexander III. hatte dergleichen Passionen: er fällte Bäume wie Gladstone, spaltete Holz wie unser Prinz in „Tausendundeine Nacht“, schor den Rasen seines Gartens, schaufelte Schnee: er half auch zuweilen, wie erzählt wird, den Handwerkern, die im Palaste beschäftigt waren, mit Vorliebe den Tischlern und den Tapezierern.

Stark ist die Liebe zum Handwerk von jeher bei den Bourbonen hervorgetreten. Sie haben an den Ambosen geschwitzt wie die Schmiede, Bücher gebunden und gedruckt. Das Einbinden, das Kleistern und das Pappen macht, wie das Drechseln, den höheren Ständen besonderes Vergnügen – auch der verstorbene Kaiser Friedrich III. soll gelernter Buchbinder, nebenbei gelernter Tischler gewesen sein. Ein von ihm verfertigter Stuhl wird in Schloß Babelsberg gezeigt. Man muß allerdings die Gönner der Buchbinderkunst von den Buchbinderdilettanten unterscheiden; viele vornehme Herren sind bloß durch die geschmackvollen Einbände, die sie herstellen ließen, berühmt geworden. Weder Heinrich III. von Valois, dessen Bücher an den Totenköpfen und ähnlichen Symbolen kenntlich sind, noch Jean Grolier, dessen braune Kalbslederbände mit der schönen Goldpressung auf Auktionen mit Tausenden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 698. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_698.jpg&oldid=- (Version vom 23.3.2023)