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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

es in jedem Mann und tausendmal mehr noch in jedem künstlerischen Mann geheimnisvolle Abgründe giebt, in die das weibliche Verstehen nicht hinableuchtet. Daß es ein ganzes, grenzenloses, untrennbares Sichgehören von Seele zu Seele nicht giebt, niemals geben kann. Gebe Gott, daß Magda Sie nimmt, wie Sie sind, und nicht, wie ihr Weibersinn sich denkt, daß Sie sein sollen. An dem Ergründenwollen und an der Begier, das Ideal wie etwas Greifbares zu beleuchten und kennenlernen zu wollen, scheitert das meiste Liebes- und Eheglück.“

René küßte ihre Hand. „Sie sind die klügste Frau, die ich kenne.“

„Weisheit post festum,“ sagte sie lachend, „ich bin auch nicht glücklich gewesen. Ich wollte auch immer zu viel.“

Sie erhob sich und deutete mit ihrem Sonnenschirm auf einen schmalen Weg, der unfern zwischen den mit Tannenbart behangenen, graugrünen Bäumen herauskam und in die Straße mündete.

„Da ist Magda gegangen. Sie kennen ihren Platz. Und noch einmal, Lieber: wenn es möglich ist, löst Euch voneinander! Jetzt kostet es Thränen, später vielleicht Herzblut.“ Dann schlug sie plötzlich, wie sie oft pflegte, einen heiteren Ton an. „Und das sage ich gleich, wenn Ihr verheiratet seid, brechen wir den Verkehr ab. Ich mag nur alte Ehepaare und junge Menschen um mich haben. Junge Ehemänner sind ’was Gräßliches. Ihre Würde hat ihnen den Kopf verdreht. Wenn sie die Frauen anderer dummes Zeug machen sehen, denken sie: ‚ich würde meine Frau so erzogen haben, daß das nicht vorkäme‘; wenn sie einen guten Freund unter dem Pantoffel sehen, denken sie: ‚meiner Frau würde ich nie einen solchen Ton hingehen lassen‘. Sie wissen das Rezept einer glücklichen, verständigen, mustergültigen Ehe auswendig und blicken hochgemut auf alle unglücklichen Ehen herab. Die kleine Macht, einem Weibe und einem Hausstand zu kommandieren, macht sie größenwahnsinnig. Adieu, René!“

Sie schüttelte ihm die Hand und stieg mit Ergebung weiter die Straße hinauf. René sah ihr noch einen Augenblick nach. Die noch immer schöne Frau war seine wahre Freundin, er wußte es wohl. Sie war ehrgeizig für ihn und wollte sein Bestes. Als er vor vier Jahren die Stellung in Leopoldsburg erhalten hatte, war Hortense von Eschen es gewesen, welche die künstlerische Großthat des Herzogs gleichsam ergänzte. Der Herzog, ein fanatischer Musikfreund, wollte in seiner kleinen Residenz eine Oper und ein Musikleben haben, das die Stadt künstlerisch in eine Linie mit den großen Städten rückte. Da er politisch kaum eine Rolle spielen konnte, wollte er in der Kunstgeschichte seiner Zeit die edelste und höchste verkörpern. Seine überreichen Privatmittel gestatteten ihm, seine Träume zu erfüllen. An die Spitze der neuerbauten und mit glänzenden Kräften versehenen Oper berief er den jungen René Flemming, welcher als aufgehender Stern ihm empfohlen war. Hortense von Eschen kannte die Welt und ihre Leopoldsburger. Sie wußte, daß René Flemming auch gesellschaftlich „Mode“ sein mußte, wenn man seine Erfolge für voll nehmen sollte.

Er lachte sie oft aus und sagte, daß Leopoldsburg nur der kleine zufällige Schauplatz vorübergehenden Wirkens sei, und daß nicht Leopoldsburg, sondern die weite Welt den Ruhm zu vergeben habe. Aber sie bestand darauf, daß es zum Behagen seines Lebens nötig sei, freundliche, persönliche Anteilnahme auch in der Nähe um sich zu fühlen. Sie hatte ihn nach und nach mit „ganz Leopoldsburg“, soweit sie es für ihn wichtig hielt, bekannt gemacht. Nun war er nicht der Mensch, andere gleichgültig zu lassen, oder an andern gleichgültig vorbeizugehen. Immer erwuchsen ihm Freunde oder Feinde. So häuften die einen fast kritiklos Vorzüge auf ihn, während die andern nicht einmal seine Jugend und seine Begabung als mildernden Umstand gelten ließen, wenn sie ihn überschäumen sahen. Für alle aber war er „der bunte Hund“ von Leopoldsburg.

Ihm fiel plötzlich ein, welches Gerede seine Verlobung machen dürfte. Ein Schaudern ergriff ihn, er lachte hellauf und drehte sich auf dem Absatz um. Rasch schritt er den Waldweg dahin. Nach zwei Minuten kreuzte eine Erinnerung seine Gedanken, die knappe, charakteristische Melodie von vorhin fiel ihm ein. Er zog die Rechnung mit der Notenskizze heraus und las, was er geschrieben. Seine Lippen formten sich, als wollte er pfeifen, er summte indes nur vor sich hin. Magda Ruhland, die große Veränderung seines Lebens, die bevorzustehen schien, die Warnerstimme Hortensens, alles war so völlig aus seinem Gedächtnis verschwunden, als gäbe es nichts dergleichen auf der Welt.

Der schmale Pfad mit seiner rotklebrigen Erde, die frische Arbeit von Wegebauern verriet, zog sich oft steil bergan, blieb eine Weile in gleicher Höhenlage, fiel jäh, so daß der Absteigende bei jedem Schritt einen Ruck im ganzen Körper hätte fühlen müssen, wäre er überhaupt seiner selbst sich bewußt gewesen, und blieb immer gleichmäßig von dunklen Tannen umrandet.

Eine Gesellschaft von Sommerfrischlern kam daher, zwei Herren im Bergfexkostüm, drei Damen mit hohen Alpenstöcken und kurzgeschürzt, als sollte es geradeswegs auf einen Gletscher gehen; die Menschen wichen zur Seite und ließen René vorbei.

Er hatte sie gar nicht gesehen, sein Blick hatte sie gestreift, aber es kam ihm nicht zum Bewußtsein, daß das Leute waren, die mittags mit ihm an der Table d’hote saßen und daß er sie hätte grüßen müssen.

So schritt er lange dahin, ohne zu merken, ob er steige oder bergab laufe. Plötzlich drang ein starkes Rauschen an sein Ohr. Ein Wildbach tobte aus einer engen Spalte zwischen ragenden, geknickten und umgestürzten Tannen hervor, in seinem steinigen Bett waren rote Stämme wie Schwefelhölzchen zwischen Steinkolosse geklemmt. Das Wasser war ein Bild der Zerstörung. Erst ein Streckchen weiter hatte es sich von der übergreifenden Umarmung des Waldes freier gemacht und schoß unter einem Brückchen dahin. Von ihr aus sah man hinab auf die Sägemühle, die mit ihrem Gehäuse gelber Bretter und ihrem wetterdunklen Blockhaus wie ein Idyll inmitten einer kleinen Lichtung lag. Darüber hinaus verschränkten neue Felsenwände die Welt.

Vor der Sägemühle stand unter einer großen, phantastisch verästelten dunklen Eibe eine Bank. Magda Ruhland liebte den Platz, sie konnte dort lange dem Rauschen des Wassers zuhören, das der Sägemüller in einem Holzkanal aufgefangen hatte, der auf Trägern von Baumstämmen sich geradeaus von der Bergwand bis zum großen Treibrad vorstreckte. Jetzt war das Rad festgestellt und die Wasser rannen teils frei zur Seite ab, teils rieselten sie in Schleiern und Tropfen über das schwarze Rad und seine Speichen.

René hatte die weibliche Gestalt da unten gesehen – im grauen Lodenkleid, das war Magda. Er that einen Juchzer und schwenkte den Hut. Die Menschenstimme verhallte aber in dem Lärm des Wassers. Er lief bergab und stand nach zwei Minuten vor Magda Ruhland. Und als sie sich sahen, wechselten sie beide die Farbe. Er konnte so leicht erröten, wenn er jemand wiedersah, mit dem seine Gedanken sich zweifelnd beschäftigt hatten. Nach Magdas beiden Händen fassend, küßte er sie beide und wiederholt und sah ihr tief in die Augen.

Sie zitterte am ganzen Körper. Wie ein Zaudern ging es durch ihre Seele, dann neigte sie die Stirn und lehnte sie gegen seine Schulter. Es war so viel hilflose Ergebenheit in dieser Gebärde, daß es ihn tief ergriff.

„Magda, meine Magda,“ sagte er innig und schloß sie in seine Arme. Sie ließ sich küssen.

Dann führte er sie weiter, ihren Arm in den seinen legend. Die rauschende Begleitung des Wildbschs war ihm unbequem beim Sprechen. Erst als das tobende Geräusch sich hinter ihnen zu melodischem Gemurmel abdämpfte, fragte er zärtlich: „Mit was für Augen hat mein Lieb denn heute morgen die Welt angesehen?“

Sie erhob den Blick zu ihm und schwieg.

„Mit so unergründlichen und ernsten?“ fragte er weiter. „Und ich dachte, das lachende Glück sollte herausstrahlen.“

„Muß das Glück immer lachen?“ fragte sie leise. „Mir ist es mit tausend Bangigkeiten gekommen.“

„O weh,“ rief er scherzend, „Zaghaftigkeit kann ich nicht leiden. Ich glaube an meinen Stern – ich habe so ein Vorgefühl, daß mir im Leben alles gut ausgeht: in meinem Liebes- wie in meinem Berufsleben. Das mußt Du teilen. Froher Glaube, tüchtige Arbeit, das ist der Sieg! Das macht uns zu Herren des Schicksals.“

Magda Ruhland antwortete nicht gleich. Sie hatte immer das Bedürfnis, vorher schweigend zu überdenken, was sie sagen wollte.

Ihr Gesicht, oval und von regelmäßigen Zügen, trug die Spuren einer schlaflosen Nacht. Ihre blauen Augen waren umschattet, der Mund mit den weichen, schön gezeichneten Lippen fast schmerzlich verzogen. Die Gestalt, schlank und ebenmäßig gebaut, schien von Müdigkeit gedrückt. Weil sie ein wenig Kopfschmerzen hatte, trug sie den Hut in der freien Hand und ließ sich den Bergtannenduft um die Stirn wehen. Ihr kastanienfarbenes Haar war,

nach der Mode der Zeit, griechisch und sehr kleidsam geordnet, auch der blütenweiße Stehkragen und der zierliche Schnitt des überaus

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 674. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_674.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2020)