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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

vom Polichinellkasten zurückgetreten und ging langsam nach Hause. Mein Weg führte mich am Oltenschen Hause vorüber. Dort stand Christoph in der Thür und winkte mir eilig zu.

„Nu is mein Mutter tot. – Ganz snell is das gangen! Sag es man an Heine! – Grad an’n Markttag!“ setzte er etwas verdrießlich hinzu, während er nach dem Marktplatze horchte, von wo man zwei Drehorgeln arbeiten hörte.

Ich stand einen Augenblick still und sah neugierig in den leeren Bäckerladen. Großen Eindruck machte mir die Nachricht nicht. Frau Olten hatte nach ihrem Schlagfluß zu lange gelebt, als daß wir ihr noch große Teilnahme schenken konnten. Aber als ich weiter ging, mußte ich doch an Marenz denken. In der letzten Zeit war sie uns langweilig geworden, weil die erwachsenen Leute sie so gelobt hatten. Sie war so gut gegen die kranke Frau gewesen, so tüchtig im Geschäft, so ehrlich und fleißig; niemand hatte etwas an ihr auszusetzen, selbst unsere Tante nicht, die früher auf sie böse war, weil sie soviel lachte.

Nur wir Kinder mochten es nicht, wenn jemand so gelobt wurde. Wir konnten ja nichts dagegen einwenden, aber solche Tugendspiegel wurden uns gewöhnlich als Beispiele vorgehalten und als es erst hieß: „Ja, wenn Ihr noch einmal so werdet wie Marenz, dann könntet Ihr Euch freuen und wir würden glücklich sein!“ Da war es mit unserem Interesse für Marenz halbwegs vorbei. Nicht ganz; aber wir liefen nicht mehr so viel nach dem Oltenschen Hause, und wie wir ihr eines Tages wieder begegneten, da war es herbstlich und auf dem Kirchhofe lagen viele welke Blätter. Dort war es nämlich, wo wir Marenz sahen. Sie trug das alte, braune Kleid unserer Tante, das wir ihr als Trauerkleid empfohlen hatten, und sie ordnete das Grab der Frau Olten. Wir sahen ihr eine Weile zu, ehe wir sie anredeten. Aber sie war so blaß geworden, daß es sogar uns auffiel.

„Fehlt Dir was, Marenz?“ Sie fuhr ein wenig zusammen.

„Was sollt mich fehlen!“ sagte sie dann.

Aber in ihren Augen standen Thränen, als sie mit einem kleinen Messer einige Zweige abschnitt.

„Gehst Du gar nicht mehr zu Tanz, Marenz?“ fragte Jürgen, der soeben von unserem Mädchen eine glühende Beschreibung eines Ballfestes gehört hatte.

Sie schüttelte den Kopf. „Wer sollte mir mitnehmen?“

„Ist Johann Kühl nicht mehr da?“

„Der?“ sie sah in den Himmel, an dem die Herbstwolken zogen. „Der is ja gar nich von Lübeck nach Haus gekommen. Hat sich da verheuert auf’n anner Schiff. Bäcker Olten sagt, das is in die Südsee gegangen, oders nach Engelland – ich weiß nich, wo all die Länders liegen!“

Marenz hatte tonlos gesprochen und wir empfanden das Bedürfnis, sie auf andere und angenehmere Gedanken zu bringen.

„Sei nicht traurig,“ tröstete Jürgen.

„Chriswph Olten sagt, sein Vater will Dich bald heiraten – Du paßt so gut für das Geschäft! Dann brauchst Du nicht mehr an Johann Kühl zu denken!“

Marenz hatte sich auf das Grab gesetzt und die Hände um ihre Kniee gelegt. „Nee,“ sagte sie halblaut, während um sie herum die dürren Blätter raschelten; „nee, denn brauch ich ja nich mehr an ihm zu denken!“

Wir gingen davon.

„Marenz ist gar nicht mehr lustig und gar nicht mehr nett!“ sagte Jürgen, und ich nickte. „Nein, sie ist gar nicht mehr nett!“

Ich hatte mein Taschentuch verloren und lief zurück, um zu sehen, ob ich es vielleicht bei Marenz hätte fallen lassen. Da kniete sie vor dem Grabe Frau Oltens und hatte den Kopf tief auf die Brust geneigt.

„O mein Johauu, mein Johann,“ schluchzte sie, „was läßt Du mir so ganz allein!“

Leise ging ich wieder davon und konnte nicht begreifen, was sie eigentlich wollte.


Einige Tage später fuhren wir nach dem Sunde. So heißt die Wasserstraße, die unsere Insel von dem Festlande trennt und die ein jeder passieren muß, der uns besuchen will. Manchmal ist der Sund sehr freundlich und lieblich anzuschauen. Dann ist sein Wasser blau, er hat kleine Wellen, und auf ihm mit einem Boote zu fahren ist ein großes Vergnügen. Manchmal aber macht er ein böses Gesicht, hat graue, riesige Wogen, schleudert seinen gelblichen Gischt weit aufs Land hinaus und die Leute, die auf seinem Rücken fahren sollen, stehen am Ufer, reiben sich die Hände und sehnen sich glühend nach einer festen Brücke, auf der man von einer Landseite zur andern spazieren kann. Solche Brücke wird es aber wohl niemals geben und es wäre auch schade für die Fährpächter und die Bootsleute, die breitspurig mitten im Seetang stehen und über die ängstlichen Landratten lachen.

Als wir an einem grauen Herbsttage am Sunde anlangten, um einen Gast abzuholen, war gerade ein Wetter, das die Ueberfahrt sehr unangenehm zu machen drohte. Der Wind fuhr von allen Seiten über das Wasser und der Fährpächter stand an der Landungsbrücke und sah durch sein Fernglas nach der andern Seite. Dort hingen an einem Maste allerhand Signale, und während er sein Glas langsam wieder zusammenschob, meinte er:

„Der kommp noch lang nich – der is bang! Kommt man ein in Stube!“

„Soll ich ihm holen?“ fragte eine ungeduldige Stinnme neben ihm. Aber der andere schüttelte den Kopf. „Nee, laß man Johann – was die Landrattens sind, die schreien ümmer so gräsig auf’n Wasser, und denn werden die Segels scheu!“

Wir lachten sehr über diesen Witz, der auch für uns bestimmt war, aber wir betrachteteu uns doch auch den jungen Mann, der neben dem Pächter stand und der uns gar nicht zu sehen schien.

Er war ganz in Oeltuch gekleidet und hatte sich den Südwester fest über die Augen gezogen. Wir erkannten ihn aber doch.

„Guten Tag, Johann Kühl,“ sagte Jürgen; „wo kommst Du denn her? Bist Du nicht in der Südsee?“

„Nee!“ sagte der Angeredete mürrisch. „Ich bin von Lübeck auf Kiel mit’n Dampfer gefahren, un nu such ich mich was anners!“

„Sein Onkel ist gestorben, da hat er sich sein Geld geholt!“ bemerkte der Fährpächter, der mehr für die Unterhaltung schien als Johann.

„Bist Du denn reich geworden?“ erkundigten wir uns; er aber wandte sich verdrießlich ab und erwiderte kein Wort.

Nachher aber, als wir uns in den Schutz einer kleinen Düne gesetzt hatten, um in den feinen Sand ein Loch zu graben, da stand Johann Kühl plötzlich wieder hinter uns. Er knotete an einigen Tauenden und schien uns gar nicht zu sehen, als Jürgen ihn aber fragte: „Bist Du gar nicht in der Stadt gewesen, Johann?“ da schüttelte er den Kopf und setzte sich dann zu uns.

„Was soll ich in Stadt?“ fragte er. „Da is nix los for mir!“ –

Er schwieg wieder uud wir gruben weiter, während der Wind über unseren Köpfen dahinpfiff und die Masten der Signalstange sich hin und herbogen.

„Wo geht es denn die junge Frau Dorning?“ fragte er plötzlich in höhnischem Ton und wir sahen ihn etwas erstaunt an.

„Der geht es ganz gut, glaube ich,“ versetzte ich. „Sie ist sehr nett!“

„Ja, sehr nett!“ versicherte Jürgen. Johann lachte kurz auf. „Nu, natürlich; Geld mach immer nett!“

„Sie hat aber nur einen Zahn!“ bemerkte Milo jetzt in vorwurfsvollem Ton. Dieser Bruder hatte immer sehr viel Sinn für ein schönes Aeußere. Johann schob seinen Südwester in den Nacken uud sah ihn starr an.

„Bloß einen Zahn?“ fragte er. „Wo kann das einmal angehn! Einen Zahn?“

Wir nickten. Ja, das war einmal so, und wir konnten nichts dabei machen.

„Der wird aber auch so bald nicht ausfallen!“ sagte Jürgen, der wohl das Gefühl hatte, Johann trösten zu müssen. „Er ist ziemlich lang und sieht sehr stark aus!“

„Du meine Zeit!“ Johann sah hilflos von einem zum andern. „As ich ihr zuletzt sah, da hatte sie ja noch alle Zähnens – ich dach, in die Jahrens wär sie noch nich, daß das so snell gehen kunnt!“

„Sie ist ziemlich alt!“ versicherte ich; „Marenz sagte neulich, sie wäre wohl fünfzig!“

„Marenz!“ Johann war aufgesprungen und setzte sich wieder hin. „Das is ja gerade Marenz, nach die ich frage –“

„Nach Marenz? Aber Marenz ist ja nicht Frau Dorning. Herr Dorning hat sich eine Frau aus Holstein genommen; er wollte Marenz nicht haben! Sie dient noch bei Bäcker Olten!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_662.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2023)