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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


nach Frau Dornings Grab, weil ihr Geburtstag war, und dann nahmen wir uns klüglich vor, zu Hause nichts von unserem Erlebnis zu erzählen.

Diese Vorsicht war insofern überflüssig, als wir, zu Hause angekommen, ziemlich erregt empfangen wurden. Man hatte uns bereits gesucht, erklärte uns für unverbesserliche Herumtreiber und hörte gar nicht einmal auf unsere Entschuldigung, daß wir wirklich gar keine Zeit gefunden hätten, eher zu kommen. Es war nämlich schon ziemlich dunkel geworden und man schickte uns ohne weiteres zu Bette.

So kam es, daß wir über diesem häuslichen Sturm, der unser unschuldiges Haupt traf, gar nicht mehr an die braune Marenz und an Herrn Dorning dachten. Auch wurden wir am folgenden Tage von so verschiedenen Seiten zur Artigkeit und Folgsamkeit ermahnt, daß sich wirklich eine kleine Wolke über unsere sonst so ungetrübt heitere Stimmung legte. Jürgen war auch verdrießlich, weil er gleichfalls irgend eine Sünde begangen hatte, und so dauerte es wohl einen halben Morgen, ehe wir die schöne Heiterkeit wieder fanden, die uns sonst selten verließ. Als wir aber vergnügt wurden, da hatten wir auch die Erlebnisse des gestrigen Tages fast vergessen.

„Es ist alles nicht wahr!“ sagte Heinrich im Tone großer Entrüstung. Er kam gerade aus der Schule und warf seinen Ranzen auf den Tisch, daß es krachte.

„Was ist nicht wahr?“ fragten wir.

„Nun, daß Herr Dorning die braune Marenz heiraten will. Das ist nur ein dummes Gerede gewesen und Christoph Olten sagt, seine Mutter würde sehr böse, wenn jemand sie frage, wann Marenz heirate. Sie kommt dort auch aus dem Dienst – Frau Olten will sie nicht länger behalten!“

Nein, es war alles nicht wahr. Herr Dorning saß im Wirtshause und verwahrte sich mit lauter Stimme, daß er jemals solch armes Mädchen habe heiraten wollen. Er hätte sie ein paarmal in die Backen gekniffen – das wäre alles gewesen, und er wundere sich, daß die Leute solch dummes Zeug glauben könnten!

Die andern aber versicherten ihm, daß niemand von ihm, dem reichen und klugen Herrn Dorning, so etwas Dummes erwartet hätte.

Worauf er dann mit der Hand auf den Tisch schlug, laut auflachte und einen Rundgang „ausgab“.

So erzählten die älteren Brüder, die es von erwachsenen Bekannten erfahren hatten, und jeder, der gedacht, Herr Dorning würde ein blutarmes Mädchen heiraten, schämte sich über seine eigene Leichtgläubigkeit. Marenz kam zum August aus dem Dienst bei Oltens, das erzählte man sich auch, uud als ich ihr einmal mit ihrem Brotwagen begegnete, redete ich sie darauf an.

„Nun, Marenz, willst Du von Oltens fort? Mama sucht auch zum August ein neues Mädchen!“

Marenz war sehr blaß und schmal geworden, aber sie nickte mir freundlich zu.

„Hast all gehört, daß ich abgeh? Ja, die Ohlsch will mir nich mehr – kein Mensch will mir mehr!“

Sie lachte ein wenig; aber in ihren Augen ftanden Thränen.

„Weinst Du, daß Herr Dorning Dich nicht will?“ fragte Jürgen, der plötzlich hinter mir aufgetaucht war, und sie schüttelte den Kopf.

„O nein - da is ein Gotteswunder passiert – ich mein, das muß daher gekommen sein, weil ich uns’ Herrgott so furchbar gebeten hab, er sollt mich doch helfen. O, was bin ich verkehrt gewesen! – Den einen Tag da meint ich, daß ich sterben mocht, abers –“ sie sah mich an und eine feine Röte stieg in ihre Wangen, „da is denn doch nix aus geworden, und war man gut, daß ich mir noch an denselbigen Tag ans Beten machte, wo den nächsten Morgen Brief kam von Herr Dorning, daß er mir nich wollte. Das wär ein Irrtum gewesen von seine Seite, schrieb er, und er hätt sein Leben auch lieb! – O, was hab ich mir gefreut, as Oltensch mich den Brief vorgelesen und ihn mich nahstens um die Ohrens geslagen hat – was hab ich mir gefreut! Bloß, daß ich nich begreifen kann, wie allens gekommen is! Abers, der alte Gott lebt noch, das is die Hauptsache, und er hat nich gewollt, daß ich zu die schrecklichen Thalers sollt, wo man ümmer Nach und Tag mit hüten muß!“

Sie setzte ihren Wagen wieder in Bewegung, Jürgen aber lief ihr nach.

„Haut Frau Olten Dich oft?“ fragte er und Marenz zuckte die Achseln.

„Mits Hanen is ße nich mehr so doll, wo sie ümmer so’n Snirren in den rechten Arm hat, was sie die Kraft nimmt. Abers sie smeißt mir gern mit’n Küssen, oders mit’n Swarzbrat, sie trifft abers nich gut. Das sollt’ mich auch schon einerlei sein, wenn sie man bloß nich so gräslich über Johann snacken und allens mögliche von ihn sagen wollt!“

Sie seufzte tief auf, während Jürgen rief:

„Sag das doch mal an Johann Kühl – der wird sie schon kriegen!“

„Sagen!“ Die Thränen stürzten ihr aus den Augen. „Wo kann ich ihn das sagen, wo er fort is! Mit Schiffer Meislahn nach Lübeck und Frau Olten sagt, Lübeck liegt in Rußland; ich abers kann nich herauskriegen, wo Rußland is! Und er is gegangen mit all die slechten Gedankens an mich – o, du lieber Gott, ich freu mir ja so, daß Herr Dorning mir nich will, wo ich das ja auch so gut begreifen kann – abers, daß mein Johann nu auch nich wieder kammt –“ sie konnte nicht weiter sprechen und fuhr schnell davon.

Schweigend sahen wir ihr nach, und dann beschlossen wir, unseren Vater nach der genauen Lage von Rußland zu fragen und Marenz darüber Bescheid zu bringen.

In den nächsten Tagen fanden wir keine Gelegenheit, zu ihr hinzugehen, und als wir uns dann nach dem Oltenschen Hause begaben fanden wir einen großen Menschenhaufen vor dem Hause, von dem wir erfuhren, daß Frau Olten der Schlag gerührt habe. Sie hatte irgend jemand, man wußte nicht genau, ob es der Bäckerbursche oder Marenz gewesen war, durchprügeln wollen und bei dieser Beschäftigung war sie hingefallen.

Ein solches Ereignis war natürlich für die ganze Stadt interessant, und auch wir standen einen Augenblick und betrachteten uns das Oltensche Haus, als wenn wir es noch niemals gesehen hätten; dann aber begaben wir uns wieder heimwärts, denn wir wollten doch die ersten sein, die unserer Familie die große Neuigkeit mitteilten.

Danach sahen wir die braune Marenz lange nicht. Sie fuhr nicht mehr aufs Land hinaus, sonderm besorgte die Wirtschaft, die Bäckerei und pflegte Frau Olten, die nämlich nicht gestorbeu war, sondern bald wieder im Lehnstuhl saß und sich im Werfen weiter übte. Sie war sehr verdrießlich geworden und quälte das ganze Haus, wie Christoph Olten den Brüdern klagte.

„For meinswegen hätt sie gern sterben können,“ vertraute er Heinrich an; „wo sie nu doch so gräslich is und uns allen slecht behandelt! Wenn Marenz nich da wär, denn wüßt ich nich, was aus allens werden sollt, und Vater hat schon gesagt, sie darf auf keinen Fall aus’n Dienst bei uns gehn! Sie kann gut arbeiten!“

Ja, das konnte sie. Auf der Straße sah man Marenz nicht mehr, kaum einmal vor der Thür; sie hatte so viel zu thun, daß auch ihr Gesicht einen ganz anderen Ausdruck bekam. Früher hatte sie immer so freundlich und sorglos ausgesehen – jetzt blickten ihre Augen ernsthaft und ihr roter Mund schien das Lachen verlernt zu haben.

„Du denkst wohl immer darüber nach, wieviel die Zwiebacke kosten!“ sagte Jürgen vorwurfsvoll zu ihr. Er und ich waren ausgeschickt, um dieses Gebäck einzuholen, und Marenz zählte sie sorgsam in den Korb: „Ein, zwei, drei, vier –“

Sie schlug die Augen auf und lächelte ein wenig.

„Da muß ich woll über nachdenken, wo Frau Olten das nich mehr kann!“

„Kann sie Dich noch schlagen?“ erkundigte Jürgen sich weiter und Marenz schüttelte den Kopf.

„Jedweden Tag wird sie swächer! Gestern wollt sie mir mit’n Weinglas smeißen, abers es rutschte sie man bloß so aus die Fingerns!“ sagte sie traurig. „Ich denk da oft an, wie schön es war, as sie noch hauen konnt! – Nu is das allens vorbei!“

Sie hatte so viel Mitleid mit der alten Frau, die in Kissen gepackt im Nebenzimmer saß und fortwährend vor sich hin schalt, daß auch wir nichts sagen mochten.

(Schluß folgt.)     


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